Bibliothek:Goethe/Naturwissenschaft/Problem und Erwiderung

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Johann Wolfgang Goethe

Problem und Erwiderung (1823)

[Zur Morphologie, Band II Heft 1, 1823]

Nachstehende fragmentarische Blätter notierte ich stellenweise auf meinen Sommerfahrten im Gefolge manches Gesprächs, einsamen Nachdenkens und zuletzt angeregt durch eines jungen Freundes geistreiche Briefe.

Das hier Angedeutete auszuführen, in Verbindung zu bringen, die hervortretenden Widersprüche zu vergleichen, fehlte mir darauf an Sammlung, die ein folgerechtes Denken allein möglich macht; ich hielt es daher für rätlich, das Manuskript an den Teilnehmenden abzusenden, ihn zu ersuchen, diese paradoxen Sätze als Text, oder sonstigen Anlaß zum eigenen Betrachten anzusehen, und mir einiges darüber zu vermelden, welches denn, wie es geschehen, als Zeugnis reiner Sinn- und Geistesgemeinschaft hier einrücke.

Weimar, den 17. März 1823


Probleme

Natürlich System, ein widersprechender Ausdruck.

Die Natur hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos, man mag ins Einzelnste teilend verfahren oder im Ganzen nach Breite und Höhe die Spur verfolgen.

Die Idee der Metamorphose ist eine höchst ehrwürdige, aber zugleich höchst gefährliche Gabe von oben. Sie führt ins Formlose, zerstört das Wissen, löst es auf. Sie ist gleich der vis centrifuga und würde sich ins Unendliche verlieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zugegeben: ich meine den Spezifikationstrieb, das zähe Beharrlichkeitsvermögen dessen was einmal zur Wirklichkeit gekommen. Eine vis centripeta, welcher in ihrem tiefsten Grunde keine Äußerlichkeit etwas anhaben kann. Man betrachte das Geschlecht der Friken.

Da nun aber beide Kräfte zugleich wirken, so müßten wir sie auch bei didaktischer Überlieferung zugleich darstellen, welches unmöglich scheint.

Vielleicht retten wir uns nicht aus dieser Verlegenheit als abermals durch ein künstliches Verfahren.

Vergleichung mit den natürlich immer fortschreitenden Tönen und der in die Oktaven eingeengten gleichschwebenden Temperatur. Wodurch eine entschieden durchgreifende höhere Musik, zum Trutz der Natur, eigentlich erst möglich wird.

Wir müßten einen künstlichen Vortrag eintreten lassen. Eine Symbolik wäre aufzustellen 1 Wer aber soll sie leisten? Wer das Geleistete anerkennen?

Wenn ich dasjenige betrachte, was man in der Botanik genera nennt, und sie, wie sie aufgestellt sind, gelten lasse, so wollte mir doch immer vorkommen, daß man ein Geschlecht nicht auf gleiche Art wie das andre behandeln könne. Es gibt Geschlechter, möcht ich sagen, welche einen Charakter haben, den sie in allen ihren Species wieder darstellen, so daß man ihnen auf einem rationellen Wege beikommen kann: sie verlieren sich nicht leicht in Varietäten und verdienen daher wohl mit Achtung behandelt zu werden. Ich nenne die Gentianen; der umsichtige Botaniker wird deren mehrere zu bezeichnen wissen.

Dagegen gibt es charakterlose Geschlechter, denen man vielleicht kaum Species zuschreiben darf, da sie sich in grenzenlose Varietäten verlieren. Behandelt man diese mit wissenschaftlichem Ernst, so wird man nie fertig, ja man verwirrt sich vielmehr an ihnen, da sie jeder Bestimmung, jedem Gesetz entschlüpfen. Diese Geschlechter hab ich manchmal die Liederlichen zu nennen mich erkühnt und die Rose mit diesem Epithet zu belegen gewagt, wodurch ihr freilich die Anmut nicht verkümmert werden kann; besonders möchte rosa canina sich diesen Vorwurf zuziehen.

Der Mensch, wo er bedeutend auftritt, verhält sich gesetzgebend, vorerst im Sittlichen durch Anerkennung der Pflicht, ferner im Religiösen, sich zu einer besondern innern Überzeugung von Gott und göttlichen Dingen bekennend, sodann auf derselben analoge bestimmte äußere Zeremonien beschränkend. Im Regiment, es sei friedlich oder kriegerisch, geschieht das gleiche. Handlung und Tat sind nur von Bedeutung, wenn er sie sich selbst und andern vorschrieb. in Künsten ist es dasselbe. wie der Menschengeist sich die Musik unterwarf, sagt vorstehendes; wie er auf die bildende Kunst in den höchsten Epochen, durch die größten Talente wirkend, seinen Einfluß betätigte, ist zu unserer Zeit ein offenbares Geheimnis. In der Wissenschaft deuten die unzähligen Versuche zu systematisieren, zu schematisieren dahin. Unsere ganze Aufmerksamkeit muß aber darauf gerichtet sein, der Natur ihr Verfahren abzulauschen, damit wir sie durch zwängende Vorschrift nicht widerspenstig machen, aber uns dagegen auch durch ihre Willkür nicht vom Zweck entfernen lassen.

Erwiderung

«Vorstehende Blätter erneuern, zunächst in Beziehung auf Botanik, eine alte ernste Frage, die unter verschiedenen Gestalten bei jeder Forschung uns in den Weg tritt. Denn in ihrem tiefern Grunde ist es gewiß dieselbe Frage, die den Mathematiker ängstigt, wenn er den Kreis zu berechnen; den Philosophen, wenn er die sittliche Freiheit vor der Notwendigkeit zu retten; den Naturforscher, wenn er die lebendige Weit, die ihn umflutet, zu befestigen so sich gedrungen wie gehindert fühlt. Das Prinzip verständiger Ordnung, das wir in uns tragen, das wir als Siegel unsrer Macht auf alles prägen möchten, was uns berührt, widerstrebt der Natur. Und um die Verwirrung aufs höchste zu steigern, fühlen wir uns zugleich nicht nur genötigt, uns als Glieder der Natur zu bekennen, sondern auch berechtigt, eine stete Regel in ihrer scheinbaren Willkür vorauszusetzen. So ist denn auch natürliches System ein widersprechender Ausdruck; allein das Bestreben, diesen Widerspruch zu lösen, ist ein Naturtrieb, den selbst die anerkannte Unmöglichkeit, ihn zu befriedigen, nicht auslöschen würde.

Wir wollen nicht fragen, ob es einen Standpunkt geben müsse, von welchem aus, wenn er uns zugänglich wäre, Natur und System als Bild und Gegenbild einander entsprechend erscheinen würden. Wir wollen nicht untersuchen, ob dieser Standpunkt, wenn er existiert, dem Menschen durchaus unerreichbar sei. Erreicht ist er noch nicht, das ist gewiß; was immer die Naturforscher, namentlich die Botaniker in ihrem Bezirk versucht haben, den angedeuteten Widerspruch zu lösen: bald waren es mehr oder minder die Natur beengende Systeme, bald mehr oder minder die Wissenschaft mystifizierende Naturverkündigungen.

Linnés Leistungen sind früher in diesen Heften auch wohl an andern Orten, treffend gewürdigt. Seine Zeit liegt schon weiter zurück, die Botanik hat seitdem vielleicht den größten Umschwung erfahren, dessen sie fähig war, beides erleichtert die richtige Schätzung Linnéischer Botanik und ihrer Bedeutsamkeit für Naturwissenschaft überhaupt.

Neuer unter uns ist die Idee der Metamorphose, sie beherrscht noch mit der Gewalt des ersten Eindrucks die Gemüter, deren sie sich bemächtigte; weit schwerer, wenn nicht unmöglich, ist daher schon jetzt vorauszusehen, wohin sie die Wissenschaft führen werde. An Zeichen fehlt es indessen nicht, welche befürchten lassen, daß man auch ihr, wie früher dem Sexualsystem, eine zeitlang unbedingt huldigen und zu einem Äußersten fortschreiten werde, von dem abermals nur der reine Gegensatz ins Gleichgewicht zurückrufen kann.

Die Idee der Metamorphose ist eine höchst ehrwürdige, aber zugleich höchst gefährliche Gabe von oben. Sie führt ins Formlose, zerstört das Wissen, löst es auf. Sie ist gleich einer vis centrifuga, und würde sich ins Unendliche verlieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zugegeben. So warnt uns Goethe selbst, nachdem er die erstarrte Wissenschaft durch den Götterfunken jener Idee neu belebt, vor den Gefahren, welche diese Gabe mit sich führt. So erkannte einst Linné, nachdem er das Chaos, das er vorfand, geordnet, zuerst die wahre Bedeutung seines Systems, und warnte seine Schüler, wiewohl vergeblich, vor dessen Mißbrauch.

Das unerläßliche Gegengewicht wird nun näher bezeichnet. Es ist der Spezifikationstrieb, das zähe Beharrlichkeitsvermögen dessen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen; eine vis centripeta, welcher in ihrem tiefsten Grunde keine Äußerlichkeit etwas anhaben kann.

Wir begegnen hier einem zweiten Widerspruch, der dem ersten völlig analog ist, doch so, daß beide in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehen. In der Forderung eines natürlichen Systems scheint der menschliche Verstand seine Grenzen zu überschreiten, ohne doch die Forderung selbst aufgeben zu können. Ein Beharrlichkeitsvermögen in der Natur scheint den Strom des Lebens hemmen zu wollen; und doch ist in ihr etwas Beharrliches, der unbefangene Beobachter muß es anerkennen. Als auffallendere Beispiele dafür in der Pflanzenwelt möchte ich am liebsten solche Pflanzen nennen, die man ihrer reinen Eigentümlichkeit wegen mit andern nicht einmal in eine Gattung, oft kaum in eine Familie vereinigen kann. Dahin gehören Aphyteia Hydnora, Buxbaumia aphylia, Isoëtes lacustris, Schmidtia utriculosa, Aphyllanthes monspeliensis, Coris monspeliensis, Hippuris vulgaris, Adoxa Moschatellina, Tamarindus indica, Schizandra coccinea, Xanthorrhiza apiifolia, und sehr viele andere.

Verfolgen wir aber diese Analogie beider, an sich selbst, wie es scheint, unauflöslichen Widersprüche, so überrascht uns wohl die Hoffnung, daß vielleicht gegenseitig der eine im andern seine Lösung finde.

Der Mensch, wo er bedeutend auftritt, verhält sich gesetzgebend. Allein er mag nicht immer herrschen, oft zieht er vor, in Liebe sich hinzugeben und von geheimer Neigung beherrschen zu lassen. Indem er so der Natur sich zuwendet, entsteht ein höchst glückliches Verhältnis: das gegenseitige Widerstreben hört auf; sie läßt ihr tiefstes Geheimnis ahnend durchschauen, und ihm ist das erweiterte Leben Ersatz für das Opfer nie zu befriedigender Ansprüche.

Die Natur dagegen hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu einer nicht erkennbaren Grenze. Allein was sie im ganzen versagt, gestattet sie desto williger im einzelnen. jedes besondere Naturwesen beschreibt, außer dem großen Kreislauf alles Lebens, an dem es teilhat, noch eine engere, ihm eigentümliche Bahn, und das Charakteristische derselben, welches sich, aller Abweichungen ungeachtet, in einem Umlaufe wie in dem andern durch die fortgesetzte Reihe der Geschlechter ausspricht, dies beharrlich Wiederkehrende im Wechsel der Erscheinungen, bezeichnet die Art. Aus innigster Überzeugung behaupte ich fest. gleicher Art ist, was gleiches Stammes ist. Es ist unmöglich, daß eine Art aus der andern hervorgehe; denn nichts unterbricht den Zusammenhang des nacheinander Folgenden in der Natur; gesondert besteht allein das ursprünglich nebeneinander Gestellte; und dies ist es, von dein unser Text sagt, daß man ihm auf rationellem Wege beikommen könne. Was von den Abweichungen zu halten sei, die in einzelnen oder auch mehrern Umläufen des Lebens vorkommen und die man Varietäten, Abarten nennt, wollen wir unten näher beleuchten. Wer aber sie für Arten nimmt, darf das Schwankende des ihnen willkürlich zugeschriebenen Charakters nicht der Natur beimessen oder gar daraus auf ein Schwanken der Arten überhaupt schließen. Auch dem Einwurf ist zu begegnen, daß zuweilen, wenn auch selten, ganz dieselben Formen in den entlegensten, durch Meere, Wüsten und Schneegebirge geschiedenen Ländern sich wiederholen. Die Annahme einer gemeinsamen Abstammung wäre hier in der Tat gezwungen, könnte man nicht von dem ersten Tierpaar, von der ersten Mutterpflanze jeder Art noch einen Schritt weiter hinabsteigen bis zum spezifischen Entstehungsgrunde derselben im Schoße der alles erzeugenden Erde. Dieser bald ängstlich vermiedene, bald besinnungslos getane Schritt rechtfertigt nicht nur obigen Begriff der Art, sondern macht ihn allererst nicht bloß auf Tiere und Pflanzen, nein auf jedes Naturwesen ohne Ausnahme anwendbar. Doch hier ist nicht der Ort, diesen weitläufigen Gegenstand zu erschöpfen.

Will nun der Botaniker sich als Gesetzgeber geltend machen, so wendet er sich mit Recht an die Arten der Pflanzen, bestimmt und ordnet sie, so gut er kann, in irgendein Fachwerk. Allein er tut unrecht, sobald er mit gleicher Schärfe den Kreis der Metamorphose teilt, die lebendige Pflanze terminologisch zerstückelt. Will er sich der Natur in Liebe ergeben, so mag die Idee der Metamorphose ihn sicher leiten, solange sie ihn nicht verführt, Arten in Arten hinüberzuziehen, das wahrhaft Gesonderte mystisch zu verflößen. Von einem System des Organismus, von einer Metamorphose der Arten, von beiden kann nur symbolisch die Rede sein. Es ist ein gefährlicher Irrtum, ist Götzendienst des Verstandes oder der Natur, das Symbol mit der Sache selbst zu verwechseln, die es bedeutet.

Hüten wir uns aber vor diesem Mißbrauch, so macht eine Symbolik vielleicht das Unmögliche möglich und setzt uns in den Stand, das Zugleichwirken der beiden Kräfte, die unser Text bezeichnet, auch bei didaktischer Überlieferung zugleich darstellen zu können. Wie es mit dieser Symbolik gemeint sei, erläutert die überaus glückliche Vergleichung der Botanik mit der Musik. Wir können aber diese Vergleichung noch etwas weiter ausdehnen, um noch mehr Licht in den Focus zu sammeln.

Aufs genaueste sind die nebeneinander liegenden Töne nach ihren Intervallen bestimmt; nie wird man von den bekannten vierundzwanzig Tonarten eine ausschließen oder zu ihnen eine neue hinzutun können, und mit mathematischer Strenge beherrscht der Generalbaß die Harmonie. Um so freier bewegt sich die Melodie, das eigentliche Leben der Töne; Takt und Tempo streben umsonst sie zu fesseln. Beide in der Tonwissenschaft (die von Melodie eigentlich gar nichts weiß) unmittelbar zu vereinigen, wäre wenigstens ebenso schwer, wo nicht unmöglich, als in der Botanik eine unmittelbare Vereinigung des Systems mit der Idee der Metamorphose. Aber die wahre Vermittlerin ist die Kunst. Die Kunst der Töne, die höhere Musik ertrotzt von der Natur die Geregeltheit, erschmeichelt das Fließende von der Theorie.

Wenn es nun ferner heißt. wir müßten einen künstlichen Vortrag eintreten lassen; eine Symbolik wäre aufzustellen; so ist hier offenbar das Wort Kunst in einem höheren Sinne genommen, als die Botaniker ihm beizulegen gewohnt sind, wenn sie von künstlichen, das heißt logischen Systemen reden. Die Wissenschaft, da sie nun einmal nicht ganz zur Kunst sich veredeln kann, soll wenigstens dieser so weit als möglich durch eine Symbolik sich nähern.

Es sei mir vergönnt, hier an eine Stelle aus der Farbenlehre zu erinnern, welche den Grundgedanken vorstehender Fragmente vielleicht besser erläutert als alles, was eine fremde Hand darüber beibringen kann. In den Betrachtungen über Farbenlehre und Farbenbehandlung der Alten lesen wir folgendermaßen: Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innre, dieser das Äußere fehlt, so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgendeine Art von Ganzheit erwarten. Und zwar haben wir diese nicht im Allgemeinen, im Überschwänglichen zu suchen, sondern wie die Kunst sich immer ganz in jedem einzelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die Wissenschaft sich auch jedesmal ganz in jedem einzelnen Behandelten erweisen.

Um aber einer solchen Forderung sich zu nähern, so müßte man keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit ausschließen. Die Abgründe der Ahnung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sei, entstehen kann.

Wie aber wäre eine künstliche Behandlung der Botanik in diesem Sinne möglich, als nur durch Symbolik? Sie allein vermittelt das Widerstrebende, ohne eins im andern zu vernichten oder alles in charakterlose Allgemeinheit zu verflößen.

Zuvorderst möchte es darauf ankommen, sowohl die Arten in ihrer Besonderheit und Standhaftigkeit, als auch das Leben in seiner Alleinheit und Beweglichkeit unwiderruflich anzuerkennen. Sodann, aber nicht ohne diese Bedingung, wäre ein Pflanzensystem nach dem Typus der Metamorphose, eine Geschichte des Pflanzenlebens nach dein Typus des Systems zu versuchen. Beide dienten einander zu symbolischer Bezeichnung dessen, was der Verstand in die Natur nicht hineintragen, was die Natur dem Verstande nicht enthüllen kann. Auch müßten beide im genauesten Gleichgewicht auftreten, äußerlich zwar geschieden, doch innen von demselben Geiste so ganz durchdrungen, daß jedes im andern seinen Grundstein wie Schluß- Stein fände.

Als Schema solcher symbolischer Naturwissenschaft der Pflanzenwelt bietet sich die Ellipse dar. Die Metamorphose des Lebens und die Beharrlichkeit der Arten wären ihre Brennpunkte. Ruhend gedacht möchten die Radien, welche von dem einen Brennpunkte bis zum Umfang hinausträten, das System der Pflanzen andeuten, welches, ausgehend vorn Zentrum der einfachsten infusoriellen Pflanzenform, ringsum, doch nicht gleich weit nach allen Seiten, hinaustritt. Als Bahn einer geregelten Bewegung gedacht, möchte sie das Leben der Urpflanze bezeichnen, den Umfang, der alle wirklichen und möglichen Radien einschließt. Im einen Falle wäre dieses, im andern jenes Zentrum das ursprünglich bestimmende, welchem aber, damit sich der Kreis zur Ellipse erweitere, das gegenüberstehende symbolisch vermittelnde Zentrum niemals fehlen dürfte.

So viel zur Andeutung der geforderten Symbolik. Wer aber soll sie leisten? Wer das Geleistete anerkennen? Die zweite Frage möchte immerhin unbeantwortet bleiben, wüßten wir nur für die erste Rat. Allein wie die Botanik heutiges Tages dasteht, wird morgen oder übermorgen noch keiner die Aufgabe lösen. Es fehlt ihr noch das innere Gleichgewicht. Die Metamorphose ist im Verhältnis zur Kenntnis der Arten noch viel zu wenig bearbeitet, als daß ein ihr entsprechendes System schon jetzt gelingen könnte. Möchte man sich daher der voreiligen Versuche, ein Pflanzensystem gleichsam zu erraten, lieber ganz enthalten und sich überzeugen, daß ein symbolisch-natürliches Pflanzensystem von selbst nach und nach hervortreten werde, in dem Maße, in welchem unsre Erkenntnis der pflanzlichen Entwicklung und Umbildung unserer weit vorausgeeilten Kenntnis der besondern Pflanzenformen wiederum nachkommt. Goethe selbst hat das Gemälde des Pflanzenlebens mit wenigen kräftigen Zügen entworfen, und wieviel ist damit auch für das System bereits gewonnen? An uns ist es nun, das Gemälde weiter auszuführen, wenn wir jemals zu einem ausgeführteren symbolisch-natürlichen System gelangen wollen.

Um nur einiges hervorzuheben: wie wenig untersucht ist noch immer das Verhältnis der Wurzel zum Stengel und beider zu dem, was sie vermittelt. Nicht minder das Verhältnis des Blatts zum Internodium und beider zum vermittelnden Knoten. Ferner der Bau und die Bedeutung des Knotens an sich und seiner Umbildung einerseits in die Kollektivknoten der Knospen, Zwiebeln und so weiter, andrerseits in die Halbknoten der vereinzelten Blätter dikotyledonischer Pflanzen, bei denen ursprünglich je zwei Blätter zu einem Vollknoten gehören. Ferner das Verhältnis der Ramifikation des Stengels zur Infloreszenz, welche die Natur durch den merkwürdigen Gegensatz der anthesis basiflora und centriflora auseinander hält und damit den wahren Kulminationspunkt jedes einzelnen Umlaufes der Metamorphose bezeichnet. Sodann die Bedeutung der Normalzahlen der Teile in aufsteigender Folge der Organe. Bei den Blättern die Bedeutung der sogenannten Afterblätter, stipulae, welche so wichtig sind, daß sie oft sicherer als Frucht oder Blumen die Verwandtschaft der Pflanzen bezeichnen. Beim Stengel das Aufrechtstehen oder Niederliegen, die Windung nach der rechten oder linken Seite. Doch ich breche ab, da ich vergeblich das Ende suchen würde.

Wer soll das alles leisten? Zumal wenn man sich einbildet, es sei auf dieser Seite schon genug geschehen. Wenn ich aber die Schriften eines Jussieu, eines Robert Brown studiere und mit Bewunderung erkenne, wie diese Männer, ihrem Genius vertrauend, wenigstens hie und da so gearbeitet haben, als ob alles, was wir noch vermissen, längst fertig ihnen zu Gebot gestanden hätte: so glaube ich auch in der Botanik an die Möglichkeit einer kunstmäßigen Behandlung und enthalte mich nicht, einen einzigen ihrer tiefen und sichern Blicke in die Verwandtschaften der Pflanzen höher zu achten als all jene bei uns aufwuchernden Systeme. Mögen wir doch der Hoffnung leben, daß in der verjüngten Wissenschaft auch unter uns Männer aufstehen werden, die mit jenen sich vergleichen, oder sie gar übertreffen werden. Sie als Vorbilder zu verschmähen, weil sie Ausländer sind, wird man uns nie überreden.

Schließlich noch ein paar Worte über die beiden Sätze der Fragmente, die von charakteristischen und charakterlosen Pflanzengattungen handeln. je leichter jene sich fügen, desto schwerer ist mit diesen fertig zu werden. Wer sie aber mit Ernst und anhaltendem Eifer beobachtet, und des angebornen, durch Übung ausgebildeten Taktes nicht ganz ermangelt, der wird sicherlich, weit entfernt an ihnen sich zu verwirren, die wahrhaften Arten und deren Charakter aus aller Mannigfaltigkeit der Formen gar bald herausfinden. Wer ist je in Versuchung geraten, eine Rosa canina, welche Form, Farbe und Bekleidung sie auch angenommen habe, mit einer Rosa cinnaniomea, arvensis, alpina, rabiginosa zu verwechseln? Dagegen die Übergänge der Rosa canina in die sogenannte Rosa glaucescens, dumetorum, collina, aciphylia und zahllose andere, die man zu voreilig zu Arten hat erheben wollen, täglich vorkommen, ja wohl gar aus einer und derselben Wurzel auf jüngern oder ältern, beschnittenen oder unbeschnittenen Stämmen sich zeigen. Sollte aber wirklich in irgendeiner formenreichen Gattung durchaus keine Grenze, welche die Natur selbst achtet, zu finden sein, was hindert uns dann, sie als eine einzige Art, alle ihre Formen als ebenso viele Abarten zu behandeln? Solange der Beweis fehlt, der schwerlich je zu führen, daß überhaupt in der Natur keine Art bestehe, sondern daß jede, auch die entfernteste Form durch Mittelglieder aus der andern hervorgehen könne: so lange muß man uns jenes Verfahren schon gelten lassen.

Damit soll aber keineswegs das Studium der Varietäten als überflüssig oder gar verderblich abgelehnt werden. Man mache nur nicht mehr und nicht weniger aus ihnen, als Natur und Wissenschaft fordern. Dann ist nichts leichter, als ihnen den rechten Platz anzuweisen; zugleich nichts notwendiger, um das Gebäude der Wissenschaft zu vollenden.

Die Mannigfaltigkeit der Arten fand ihren Gegensatz in der Einheit des Lebens. Gleich wie nun das Leben, abweichend von der mittlern Norm der Gesundheit, doch stets seiner alten Regel treu, in Krankheit ausartet, so schweift jede Art, abweichend von der mittlern Norm des Gewohnten, doch stets ihrem Charakter treu, in mehr oder weniger Varietäten hinüber. Und wie das System der Arten und die Metamorphose des Lebens sich gegenseitig zu symbolischer Erläuterung dienen, so werden wir die vegetative Krankheit nicht eher verstehen lernen, bis wir die Varietäten ihr gegenüber gestellt, diese nicht eher zu ordnen wissen, bis wir das Wesen jener klarer durchschaut haben. Die Wissenschaft kann auch hier einer vermittelnden Symbolik nicht entbehren; in der Natur selbst verschlingen sich krankhafte Mißbildung und gesunde Abart ebenso unauflöslich ineinander, wie beim normalen Zustande der Formen und des Lebens die Formen lebendig sich aneinander reihen, das Leben seine höhern Pulse in den Formen zu erkennen gibt.

Auch diese Ansicht fügt sich bequem in das obige Schema. Die unendliche Mannigfaltigkeit der Varietäten verhält sich zu der bestimmten, wiewohl unbekannten Zahl der wirklich vorhandenen Arten, wie sich die Radien, mittelst deren der Mathematiker den Kreis in Grade teilt, zu der Unendlichkeit denkbarer Radien verhalten. Und die eine absolute Gesundheit, die wir vorauszusetzen genötigt sind, verhält sich zu den Krankheiten, sowohl einer beschleunigten als verzögerten Metamorphose, so wie sich irgendein gesetzter Umkreis in bestimmtem Abstande von seiner Mitte zu der Unendlichkeit der Kreise verhält, die enger oder weiter um jeden Punkt gedacht werden können.

Zu dem letzten Satze der Fragmente noch etwas hinzuzufügen scheint überflüssig. Muß ich doch befürchten, daß ich ohnehin schon zu viel gesagt, die klaren Gedanken des Textes durch die Menge der Worte vielleicht absichtslos getrübt habe. Doch wie konnte ich so schmeichelhafter Aufforderung widerstehen? Mag nun der Meister den Schüler belehren, oder nach alter Sitte ihn vertreten.»

Ernst Meyer