Bibliothek:Rudolf Steiner/Naturwissenschaft/GA 320 Geisteswissenschaftliche Impulse zur Entwickelung der Physik I/Zehnter Vortrag

Aus AnthroWiki

[163]

ZEHNTER VORTRAG

Stuttgart, 3. Januar 1920

Ich möchte als einen vorläufigen Schluß dieser paar improvisierten Stunden, die naturwissenschaftliche Betrachtungen enthielten, Ihnen heute einige Richtlinien geben, die Ihnen nützlich sein können, um selbst solche Naturbetrachtungen an der Hand charakteristischer Tatsachen, die man sich durch das Experiment vor Augen führen kann, sich zu bilden. Es handelt sich ja heute im naturwissenschaftlichen Gebiete, namentlich für den Lehrenden, sehr stark darum, daß er sich hineinfinde in eine richtige Vorstellungsart und Betrachtungsweise desjenigen, was die Natur darbietet. Und gestern war ich gerade auch im Hinblick auf das eben Gesagte bemüht, Ihnen zu zeigen, wie der Gang der physikalischen Wissenschaft ein solcher ist, nachdem die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts herangekommen waren, daß gewissermaßen von der Physik aus der Materialismus aus den Angeln gehoben wird, und auf diesen Gesichtspunkt sollten Sie eigentlich den Hauptwert legen.
Wir haben gesehen, daß auf die Zeit, die glaubte, schon die goldensten Beweise zu haben für die Universalität des Schwingungswesens, eine Zeit gefolgt ist, die unmöglich an der alten Schwingungs- oder Undulations-Hypothese festhalten konnte, eine Zeit, die gewisser maßen in der Physik in den letzten drei Jahrzehnten so revolutionierend gewesen ist, wie nur irgend etwas revolutionierend in seinem Gebiete gedacht werden kann. Denn der Physik ist ja nichts Geringeres verlorengegangen unter dem Zwange der Tatsachen, die sich geboten haben, als der Materienbegriff in der alten Form als solcher. Wir haben gesehen, daß die Lichterscheinungen in nahe Beziehung gebracht worden sind, aus der alten Anschauungsweise heraus, zu den elektromagnetischen Erscheinungen, und daß zuletzt geführt haben die Erscheinungen des Ganges der Elektrizität durch luftverdünnte oder gasverdünnte Röhren, in dem sich ausbreitenden Lichte selbst etwas zu sehen wie sich ausbreitende Elektrizität. Ich sage nicht, daß man damit recht hat, aber es ist eben gekommen. Und man hat das
[164]
dadurch erreicht, daß man gewissermaßen die elektrische Strömung, die man sonst immer wie eingeschlossen hatte in die Drähte, kaum nach einem anderen Gesichtspunkte als nach dem Ohmschen Gesetze betrachten konnte, daß man die gewissermaßen belauschte bei ihrem Gange, wo sie den Draht verläßt, überspringt auf einen weit entfernten Pol und nicht durch die Materie gewissermaßen, durch die sie dringt, verbergen kann, was in ihr ist. Dadurch aber ist etwas sehr Kompliziertes zum Vorschein gekommen. Wir haben gestern gesehen, wie die verschiedensten Strahlenarten dadurch zum Vorschein gekommen sind. Wir haben gesehen, daß zuerst - ich habe Ihnen ja die Erscheinungen angeführt - bekannt geworden sind die sogenannten Kathodenstrahlen, die von dem negativen Pol der Hittorfschen Röhren aus gehen und durch den luftverdünnten Raum gehen, wie schon diese Kathodenstrahlen dadurch, daß sie ablenkbar sind durch magnetische Kräfte, etwas Verwandtes gezeigt haben mit dem, was man gewöhnlich als Materielles empfindet. Auf der anderen Seite haben sie etwas Verwandtes mit dem, was man durch Strahlungen wahrnimmt. Das zeigt sich ja besonders anschaulich dann, wenn man solche Versuche macht, daß man diese Strahlen, die also in irgendeiner Weise vom elektrischen Pol kommen, wie Licht auffängt durch einen Schirm oder durch sonst einen Gegenstand. Licht wirft Schatten, und solche Strahlungen werfen auch Schatten. Natürlich ist aber gerade dadurch auch die Beziehung hergestellt zu dem gewöhnlichen materiellen Element. Denn wenn Sie sich vorstellen, daß von hier aus, wie es ja, wie wir gestern gesehen haben, zum Beispiel nach Crookes' Vorstellungen mit den Kathodenstrahlen geschieht, bombardiert wird, so gehen die Bomben nicht durch das Hindernis durch, und dasjenige, was dahinter ist, bleibt ungeschoren. Wir können dieses durch das Crookessche Experiment besonders veranschaulichen, indem wir die Kathodenstrahlen auffangen.
Wir werden hier den elektrischen Strom erzeugen, den wir dann durch diese Röhre leiten, die luftverdünnt ist, die hier ihre Kathode, den negativen Pol, und hier ihre Anode, den positiven Pol, hat. Wir bekommen also, indem wir durch diese Röhre die Elektrizität treiben, die sogenannten Kathodenstrahlen. Diese fangen wir auf durch ein
[165]
eingefügtes Andreaskreuz. Wir lassen sie darauf aufprallen, und Sie werden sehen, daß auf der anderen Seite nun etwas sichtbar wird wie der Schatten dieses Andreaskreuzes, was Ihnen bezeugt, daß dieses Andreaskreuz die Strahlen aufhält. Bitte berücksichtigen Sie genau: Das Andreaskreuz ist da drinnen, die Kathodenstrahlen gehen so, werden aufgefangen durch das hier sitzende Kreuz, und es wird der Schatten an der rückwärtigen Wand sichtbar. Ich werde nun diesen Schatten, der hier sichtbar wird, in das Feld eines Magneten ein beziehen, und ich bitte Sie jetzt, diesen Schatten des Andreaskreuzes zu beobachten. Sie werden ihn vom magnetischen Feld beeinflußt finden. Sie sehen? Also, wie ich irgendeinen anderen einfachen, sagen wir, Eisengegenstand mit dem Magneten anziehe, so verhält sich wie äußere Materie dasjenige, was da wie eine Art von Schatten entsteht. Also, es verhält sich auch materiell.
Wir haben also hier auf der einen Seite eine Art von Strahlen, die für Crookes eigentlich sich zurückführen auf strahlende Materie, einen Aggregatzustand, der weder fest, flüssig noch gasförmig ist, sondern der ein feinerer Aggregatzustand ist und der uns zeigt, daß diese ganze Elektrizität in ihrer Strömung sich so verhält wie einfache Materie. Also, wir haben gewissermaßen den Blick auf die Strömung der fließenden Elektrizität gerichtet, und dasjenige, was wir sehen, enthüllt sich uns so wie dasjenige, was wir als Wirkungen innerhalb der Materie sehen.
Ich will Ihnen nun noch zeigen - weil das gestern nicht möglich war -, wie diejenigen Strahlen entstehen, die vom anderen Pol kommen, die ich Ihnen gestern als die Kanalstrahlen charakterisierte. Sie sehen hier unterschieden die Strahlen, die von der Kathode kommen, die nach dieser Richtung gehen, in dem violettlichen Licht schimmern, und die Kanalstrahlen ihnen entgegenkommend mit einer viel geringeren Geschwindigkeit, die das grünliche Licht geben. Nun will ich Ihnen noch zeigen die Strahlenart, die hier durch diese Vorrichtung entsteht und die sich Ihnen besonders dadurch offenbaren wird, daß das Glas Fluoreszenzerscheinungen zeigt, indem wir die elektrische Strömung hindurchleiten. Hier werden wir diejenige Strahlenart bekommen, welche man sonst sichtbar macht, indem man diese
[166]
Strahlen durch einen Schirm gehen läßt von Bariumplatinzyanür, und die die Eigenschaft haben, das Glas recht stark fluoreszierend zu machen. Sie sehen das Glas - auf das bitte ich Sie jetzt hauptsächlich Ihre Aufmerksamkeit zu richten - in sehr stark grünlich-gelblich fluoreszierendem Lichte. Die Strahlen, die in solchem sehr stark fluoreszierendem Lichte erscheinen, sind nun eben die schon gestern erwähnten Röntgenstrahlen. So daß wir auch diese Gattung hier bemerken.
Nun sagte ich Ihnen, daß beim Verfolgen dieser Vorgänge sich her ausgestellt hat, daß gewisse als Stoffe angesehene Entitäten ganze Bündel von Strahlen, zunächst wenigstens von dreierlei Art, aussenden, die wir gestern unterschieden haben in α-, β- und γ-Strahlen und die deutlich voneinander verschiedene Eigenschaften zeigen, daß dann diese Substanzen, die man als Radium und so weiter bezeichnet, aber noch ein Viertes aussenden, das gewissermaßen das Element selbst ist, das sich hingibt und das sich, nachdem es ausgesandt ist, verwandelt hat so, daß, während das Radium ausströmt, es sich verwandelt in Helium, also etwas ganz anderes wird. Wir haben es also nicht zu tun mit festbleibender Materie, sondern mit einer Metamorphose der Erscheinungen.
Nun möchte ich eben gerade in Anknüpfung an diese Dinge einen Gesichtspunkt entwickeln, der gewissermaßen für Sie werden kann der Weg in diese Erscheinungen hinein, überhaupt der Weg in die Naturerscheinungen hinein. Sehen Sie, woran das physikalische Denken des neunzehnten Jahrhunderts hauptsächlich gekrankt hat, das ist, daß die innere Tätigkeit, durch die der Mensch die Naturerscheinungen zu verfolgen suchte, im Menschen nicht beweglich genug war, vor allen Dingen noch nicht fähig war, sich auf die Tatsachen der Außenwelt selbst einzulassen. Man konnte Farben sehen am Lichte entstehen, aber man schwang sich nicht auf zu einem Aufnehmen des Farbigen in sein Vorstellen, in sein Denken, man konnte Farben nicht mehr denken, und man ersetzte die Farben, die man nicht denken konnte, durch das, was man denken konnte, was eben nur phoronomisch ist, durch die errechenbaren Schwingungen eines unbekannten Äthers. Dieser Äther aber, sehen Sie, der ist etwas, was tückisch ist. Denn
[167]
immer, wenn man ihn aufsuchen will, da stellt er sich nicht. Und alle diese Versuche, die da diese verschiedenen Strahlen zutage gefördert haben, die haben eigentlich gezeigt, daß sich wohl flüssige Elektrizität zeigt, also etwas, was als Erscheinungsform in der Außenwelt liegt, daß sich aber der Äther durchaus nicht stellen will. Nun ist es eben nicht gegeben gewesen dem Denken des neunzehnten Jahrhunderts, in die Erscheinungen selber einzudringen. Das ist aber gerade dasjenige, was vom jetzigen Zeitpunkt ab für die Physik so notwendig sein wird, mit dem menschlichen Vorstellen in die Erscheinungen selbst einzudringen. Dazu aber werden gewisse Wege eröffnet werden müssen gerade für die Betrachtung der physikalischen Erscheinungen.
Man möchte sagen, die mehr an den Menschen herankommenden objektiven Mächte, die haben eigentlich das Denken schon gezwungen, etwas beweglicher zu werden, aber man könnte sagen: von einer falschen Ecke aus. Dasjenige, was man als das Sichere betrachtet hat, worauf man sich am allermeisten verlassen hat, das ist ja dasjenige, daß man so schön mit der Rechnung und mit der Geometrie, also mit der Anordnung von Linien, von Flächen und von Körpern im Raume, die Erscheinungen hat erklären können. Dasjenige, wozu einen diese Erscheinungen hier in den Hittorfschen Röhren zwingen, das ist, daß man mehr an die Tatsachen herantreten muß, daß die Rechnung vielmehr eigentlich doch versagt, wenn man sie in so abstrakter Form anwenden will, wie man das in der früheren Undulations-Lehre getan hat.
Nun, von der Ecke, von der zuerst etwas wie ein Zwang zum Beweglichmachen des arithmetischen und des geometrischen Denkens gekommen ist, möchte ich Ihnen zuerst sprechen. Nicht wahr, die Geometrie war etwas sehr altes. Wie man sich aus der Geometrie her aus Gesetzmäßigkeiten an Linien, Dreiecken, Vierecken usw. vor stellt, das ist etwas Althergekommenes und das hat man angewendet auf dasjenige, was sich einem als äußere Erscheinungen in der Natur bietet. Nun ist aber gerade vor dem Denken des neunzehnten Jahrhunderts diese Geometrie etwas ins Wanken gekommen, und das ist auf die folgende Weise geschehen: Nicht wahr, versetzen Sie sich wiederum gut auf die Schulbank, so wissen Sie, überall wird Ihnen gelehrt
[168]
- und unsere lieben Waldorfschullehrer lehren es selbstverständlich auch, müssen es ja lehren -, wenn man ein Dreieck hat und die drei Winkel nimmt, so sind diese drei Winkel zusammen ein gestreckter oder 180°. Das ist Ihnen bekannt. Nun fühlt man sich natürlich gedrängt - und muß sich gedrängt fühlen -, auch den Schülern eine Art Beweis zu geben dafür, daß diese drei Winkel zusammen 180° sind. Man macht ja das dadurch, daß man hier eine Parallele zieht zu der Grundlinie des Dreiecks, daß man sagt: Derselbe Winkel, der hier als α ist, zeigt sich hier als α'. α und α' sind Wechselwinkel. Sie sind gleich. Ich kann also einfach diesen Winkel hier herüberlegen.
Bild GA 320 168
Ebenso kann ich diesen Winkel β hier herüberlegen und habe hier das gleiche. Nun, der Winkel γ bleibt ja liegen, und wenn γ = γ und α' = α und β' = β ist und α' + β' + y zusammen einen gestreckten Winkel geben, so müssen auch α + β + γ einen gestreckten Winkel zusammen bilden. Ich kann also das klar anschaulich beweisen. Etwas Klareres und Anschaulicheres kann es, möchte man sagen, gar nicht geben. Nun aber, die Voraussetzung, die man da macht, indem man dies beweist, ist die, daß diese obere Linie A'-B' parallel ist zu A-B. Denn nur dadurch bin ich in der Lage, den Beweis zu führen. Nun gibt es aber in der ganzen Euklidschen Geometrie kein Mittel zu beweisen, daß zwei Linien parallel sind, das heißt sich in unendlicher Entfernung erst schneiden, das heißt gar nicht schneiden. Das sieht so aus, als ob sie parallel wären, nur solange ich beim gedachten Raum bleibe. Nichts verbürgt mir, daß das auch bei einem wirklichen Raum so der Fall ist. Und wenn ich daher nur das eine annehme, daß diese beiden Geraden
[169]
sich nicht in unendlicher Entfernung erst schneiden, sondern sich real früher schneiden, dann geht mein ganzer Beweis für die 180° der Dreieckswinkel kaputt, dann würde ich herausbekommen, daß zwar nicht in dem Raum, den ich mir selber in Gedanken konstruiere und mit dem sich die gewöhnliche Geometrie befaßt - in diesem Raum haben die Dreieckswinkel 180° als Winkelsumme -, daß aber, sobald ich einen vielleicht anderen, wirklichen Raum ins Auge fasse, die Winkelsumme des Dreiecks gar nicht mehr 180°, sondern vielleicht größer ist. Das heißt, es sind außer der gewöhnlichen, von Euklid herstammen den Geometrie noch andere Geometrien möglich, für welche die Summe der Dreieckswinkel durchaus nicht 180° ist. Mit Auseinandersetzungen nach dieser Richtung hat sich das Denken des neunzehnten Jahrhunderts, namentlich seit Lobatschewskij, viel beschäftigt, und daran anschließend mußte doch die Frage entstehen: Sind denn nun eigentlich die Vorgänge der Wirklichkeit, die wir da verfolgen mit un seren Sinnen, wirklich auch zu fassen, vollgültig zu fassen mit denjenigen Vorstellungen, die wir als geometrische Vorstellungen in dem von uns gedachten Raum gewinnen? Der von uns gedachte Raum ist zweifellos gedacht. Wir können zwar als eine schöne Vorstellung hegen, daß dasjenige, was da draußen außer uns geschieht, teilweise zusammentrifft mit demjenigen, was wir darüber aushecken, aber es garantiert uns nichts dafür, daß dasjenige, was draußen geschieht, so wirke, daß wir es restlos begreifen durch die von uns ausgedachte Euklidsche Geometrie. Es könnte sehr leicht sein - darüber könnten uns aber nur die Tatsachen selber belehren -, daß die Dinge draußen nach einer ganz anderen Geometrie vorgehen und wir sie erst bei unserer Auffassung übersetzen in die Euklidsche Geometrie und ihre Formeln. Das heißt, wir haben zunächst, wenn wir uns bloß einlassen auf dasjenige, was der Wissenschaft der Natur heute zur Verfügung steht, gar keine Möglichkeit, irgend etwas zunächst darüber zu entscheiden, wie sich verhalten unsere geometrischen, überhaupt, die phoronomischen Vorstellungen zu demjenigen, was uns draußen in der Natur erscheint. Wir rechnen, zeichnen die Naturerscheinungen, insoferne sie physikalisch sind. Aber ob wir da irgend etwas nur äußerlich an der Oberfläche zeichnen oder in irgend etwas von der Natur eindringen, darüber
[170]
ist zunächst ja nichts auszumachen. Und wenn man einmal an fangen wird, gründlichst zu denken in der namentlich physikalischen Naturwissenschaft, dann wird man in eine furchtbare Sackgasse hineinkommen, dann wird man sehen, wie man nicht weiterkommt. Und man wird nur weiterkommen, wenn man sich zuerst belehren wird über den Ursprung unserer phoronomischen Vorstellungen, unserer Vorstellungen über das Zählen, über das Geometrische und auch unserer Vorstellungen über die bloße Bewegung, nicht über die Kräfte. Woher kommen denn alle diese phoronomischen Vorstellungen? Man kann so gewöhnlich den Glauben haben, sie kommen aus demselben Grunde heraus, aus dem die Vorstellungen kommen, die wir auch gewinnen, wenn wir uns auf die äußeren Tatsachen der Natur einlassen und diese verstandesmäßig bearbeiten. Wir sehen durch unsere Augen, hören durch unsere Ohren, wir verarbeiten das durch die Sinne Wahr-genommene mit dem Verstande zunächst primitiv, ohne daß wir es zählen, ohne daß wir es zeichnen, ohne daß wir auf die Bewegung schauen. Wir richten uns nach ganz anderen Begriffskategorien. Da ist unser Verstand an der Hand der Sinneserscheinungen tätig. Aber wenn wir nun anfangen, sogenannt wissenschaftliche Geometrie-, Arithmetik-, Algebra- oder Bewegungs-Vorstellungen anzuwenden auf dasjenige, was da äußerlich vorgeht, dann tun wir doch etwas anderes noch, dann wenden wir Vorstellungen an, die wir ganz sicher nicht aus der Außenwelt gewonnen haben, sondern die wir aus unserem Inneren herausgesponnen haben. Woher kommen denn diese Vorstellungen eigentlich? - das ist die Kardinalfrage. Diese Vorstellungen, die kommen nämlich gar nicht aus unserer Intelligenz, die wir anwenden, wenn wir die Sinnesvorstellungen verarbeiten, sondern diese Vorstellungen kommen eigentlich aus dem intelligenten Teile unseres Willens, die machen wir mit unserer Willensstruktur, mit dem Willensteil unserer Seele. Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen allen anderen Vorstellungen unserer Intelligenz und den geometrischen, arithmetischen und Bewegungs -Vorstellungen. Die anderen Vorstellungen gewinnen wir an den Erfahrungen der Außenwelt; diese Vorstellungen, die geometrischen, die arithmetischen Vorstellungen, die steigen auf aus dem unbewußten Teile von uns,
[171]
aus dem Willensteile, der sein äußeres Organ im Stoffwechsel hat. Daraus steigen zum Beispiel im eminentesten Sinne die geometrischen Vorstellungen auf. Sie kommen aus dem Unbewußten im Menschen. Und wenn Sie anwenden diese geometrischen Vorstellungen - ich werde sie jetzt gebrauchen auch für die arithmetischen und algebraischen Vorstellungen -, wenn Sie sie anwenden auf Lichterscheinungen oder Schall- oder Tonerscheinungen, dann verbinden Sie in Ihrem Erkenntnisprozeß dasjenige, was Ihnen von innen auf steigt, mit demjenigen, was Sie äußerlich wahrnehmen. Unbewußt bleibt Ihnen dabei der ganze Ursprung der aufgewendeten Geometrie. Sie vereinigen diese aufgewendete Geometrie mit den äußeren Erscheinungen; unbewußt bleibt Ihnen der ganze Ursprung. Und Sie bilden aus solche Theorien wie die Undulations-Theorie -es ist ja ganz gleichgültig, ob man diese oder die Emissions-Theorie Newtons ausbildet -, Sie bilden aus Theorien, indem Sie vereinigen, was aus Ihrem unbewußten Teil aufsteigt, mit demjenigen, was sich Ihnen als bewußtes Tagesleben darstellt, Schallerscheinungen und so weiter, durchdringen das eine mit dem anderen. Diese beiden Dinge gehören zunächst nicht zusammen. Sie gehören so wenig zusammen, wie Ihr vorstellendes Vermögen mit den äußeren Dingen zusammengehört, die Sie wahrnehmen in einer Art von Halbschlaf. Ich habe Ihnen öfters Beispiele genannt in anthroposophischen Vorträgen, wie der menschliche Traum symbolisiert: Ein Mensch träumt, daß er mit einem anderen Menschen als Student steht an der Türe eines Hörsaales, beide geraten in Streit, der Streit wird stark, sie fordern sich - alles wird geträumt -, es wird geträumt, wie sie hinausgehen in den Wald, es wird das Duell arrangiert. Der Betreffende träumt noch, wie er losschießt. In dem Moment wacht er auf und - der Stuhl ist um gefallen. Das war der Stoß, der sich nach vorne fortsetzt in den Traum. Die vorstellende Kraft hat sich in einer nur symbolisierenden Weise, nicht in der dem Objekt adäquaten Erscheinung verbunden mit demjenigen, was äußere Erscheinung ist. In einer ähnlichen Weise verbindet sich dasjenige, was Sie in dem Phoronomischen heraufholen aus dem unterbewußten Teil Ihres Wesens, mit den Lichterscheinungen. Sie zeichnen Lichtstrahlen geometrisch. Dasjenige, was Sie da
[172]
vollziehen, hat keinen anderen Realitätswert als dasjenige, was sich im Traum ausdrückt, wenn Sie solche objektive Fakten wie den Stoß des Stuhles symbolisierend vorstellen. Dieses ganze Bearbeiten der optischen, akustischen und zum Teil der Wärme-Außenwelt durch geometrische, arithmetische und Bewegungs -Vorstellungen, das ist in Wahrheit, wenn auch ein sehr nüchternes, so doch ein waches Träumen über die Natur. Und bevor man nicht erkennt, wie das ein waches Träumen ist, wird man nicht mit der Naturwissenschaft so zurecht kommen, daß diese Naturwissenschaft einem Realitäten liefert. Dasjenige, worinnen man glaubt, ganz exakte Wissenschaft zu haben, das ist der Natur-Traum der modernen Menschheit.
Wenn Sie aber nun hinuntersteigen von den Lichterscheinungen, von den Schallerscheinungen über die Wärmeerscheinungen in das Gebiet, das man betritt mit diesen Strahlungserscheinungen, die eben ein besonderes Kapitel der Elektrizitätslehre sind, dann verbindet man sich mit demjenigen, was äußerlich in der Natur gleichwertig ist mit dem menschlichen Willen. Aus demselben Gebiete im Menschen, das als Willensgebiet gleichwertig ist dem Wirkensgebiet der Kathoden-, Kanal-, Röntgenstrahlen, der α-, β-, γ-Strahlen usw., aus diesem selben Gebiet, das beim Menschen das Willensgebiet ist, hebt sich heraus dasjenige, was wir in unserer Mathematik, in unserer Geometrie, in unseren Bewegungs-Vorstellungen haben. Da kommen wir erst in verwandte Gebiete hinein. Nun ist aber das heutige menschliche Denken auf diesen Gebieten nicht so weit, bis hinein in diese Gebiete noch wirklich zu denken. Träumen kann der heutige Mensch, indem er Undulationstheorien ausdenkt, aber mathematisch ergreifen das Gebiet der Erscheinungen, insoferne das verwandt ist mit dem menschlichen Willensgebiet, aus dem auch urständet die Geometrie, die Arithmetik, das bringt der Mensch heute noch nicht zustande. Dazu muß das arithmetische, das algebraische, das geometrische Vorstellen selbst noch wirklichkeitsdurchtränkter werden, und auf diesen Weg muß sich gerade die physikalische Wissenschaft begeben. Wenn Sie sich heute mit Physikern unterhalten, die ihre Bildung noch in der Zeit erlangt haben, in der die Undulations -Theorie blühte, so finden sich viele von ihnen recht unbehaglich diesen neueren Erscheinungen gegenüber, weil die
[173]
rechnerischen Vorstellungen dabei an allen möglichen Ecken und Enden ein bißchen flötengehen. Und man hat ja in den letzten Zeiten sich schon anders geholfen, indem man, weil das ganz gesetzmäßige Arithmetisieren, Geometrisieren nicht mehr ging, eingeführt hat eine Art statistischer Methode, die einem gestattet, mehr in Anknüpfung an die äußeren empirischen Tatsachen auch empirische Zahlenverbindungen zu knüpfen und damit der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu operieren, wobei einem erlaubt ist zu sagen: Man rechnet eben eine Gesetzmäßigkeit aus, die eine gewisse Reihe hindurch dauert; dann kommt man an einen Punkt, wo die Geschichte nicht mehr so geht. Solche Dinge zeigen oftmals gerade in dem Entwickelungsgang der neueren Physik, wie man zwar den Gedanken verliert, aber gerade dadurch, daß man den Gedanken verliert, in die Wirklichkeit hinein-kommt. So zum Beispiel wäre es leicht denkbar gewesen, daß, unter gewissen starren Vorstellungen über die Natur eines erwärmten Gases oder erwärmter Luft und dem Verhalten dieser erwärmten Luft gegen über der Umgebung unter gewissen Bedingungen, jemand mit einer ebensolchen mathematischen Sicherheit bewiesen hätte, daß die Luft niemals hätte verflüssigt werden können. Sie ist doch verflüssigt worden, weil an einer gewissen Stelle sich gezeigt hat, daß gewisse Vorstellungen, die Gesetzmäßigkeiten einer Reihe überbrücken, am Ende dieser Reihe nicht mehr gelten. Solche Beispiele könnten viele angeführt werden. Solche Beispiele zeigen, wie die Wirklichkeit heute gerade auf physikalischem Gebiete vielfach den Menschen zwingt, sich zu gestehen: Mit deinem Denken, mit deinem Vorstellen tauchst du nicht mehr voll in die Wirklichkeit unter. Du mußt die ganze Sache an einem anderen Ende beginnen. - Und eben, um an diesem anderen Ende zu beginnen, ist es so notwendig, daß man die Verwandtschaft fühle zwischen all dem, was aus dem menschlichen Willen kommt -und daher kommt die Phoronomie -, und demjenigen, was einem äußerlich so entgegentritt, daß es von einem getrennt ist und nur durch die Erscheinungen des anderen Pols sich ankündigt. Alles das, was durch die Röhren da geht, kündigt sich an mit Licht und so weiter. Aber das, was als Elektrizität fließt, das ist durch sich selbst nicht wahrnehmbar. Daher sagen die Leute: Wenn man einen sechsten Sinn
[174]
hätte für die Elektrizität, würde man sie auch direkt wahrnehmen. - Es ist natürlich ein Unsinn, denn nur dann, wenn man aufsteigt zur Intuition, die im Willen ihre Grundlage hat, kommt man in die Region auch für die Außenwelt hinein, in weicher die Elektrizität lebt und webt. Aber man bemerkt damit zugleich, daß man in diesen Erscheinungen, die man hier in dem zuletzt betrachteten Gebiete hat, gewissermaßen das Umgekehrte vor sich hat wie beim Schall oder beim Ton. Beim Schall oder beim Ton liegt das Eigentümliche vor durch das bloße Hineingestelltsein des Menschen in die Schall- oder Tonwelt, wie ich es charakterisiert habe, daß der Mensch sich nur mit der Seele in den Schall oder Ton als solchen hineinlebt und daß dasjenige, wo hinein er sich lebt durch den Leib, bloß dasjenige ist, was im Sinn einer solchen Betrachtung, wie ich sie in diesen Tagen gegeben habe, ansaugt das wirkliche Wesen des Schalles oder Tones - Sie erinnern sich des Vergleiches mit dem ausgepumpten Rezipienten -, ansaugt! Da bin ich drinnen, beim Schall, beim Ton, in dem Geistigsten, und dasjenige, was der Physiker beobachtet, der natürlich nicht das Geistige, nicht das Seelische beobachten kann, das ist die äußere sogenannte materielle Parallel-Erscheinung der Bewegung, der Welle. Komme ich zu den Erscheinungen des letztbetrachteten Gebietes, dann habe ich außer mir nicht nur die objektive - so genannte - Materialität, sondern ich habe außer mir dasselbe, was sonst in mir im Seelischen, Geistigen als Schall und Ton lebt. Es ist im wesentlichen auch im Äußeren vorhanden, aber ich bin mit diesem Äußeren verbunden. Hier habe ich in derselben, ich möchte sagen, Sphäre, in der ich nur die Wellen, die materiellen Wellen des Tones habe, da habe ich dasjenige, was sonst beim Tone eben nur seelisch wahrgenommen werden kann. Da muß ich dasselbe physisch wahrnehmen, was ich beim Tone nur seelisch wahrnehmen kann. An ganz entgegengesetzten Polen im Verhältnis des Menschen zur Außenwelt stehen die Tonwahrnehmungen und zum Beispiel die Wahrnehmungen der elektrischen Erscheinungen. Nehmen Sie Ton wahr, dann zerlegen Sie sich gewissermaßen selbst in eine menschliche Zweiheit. Sie schwimmen in dem ja auch äußerlich nachweisbaren Wellen-Element, Undulations-Element, Sie gewahren: Da drinnen ist noch
[175]
etwas anderes als das bloß Materielle. Sie sind genötigt, innerlich sich regsam zu machen, um den Ton aufzufassen. Mit Ihrem Leibe, mit Ihrem gewöhnlichen Leibe, den ich hier schematisch hinzeichne, gewahren Sie die Undulation, die Schwingungen. Sie ziehen zusammen in sich Ihren Äther- und Astralleib, der nur einen Teil Ihres Raumes dann ausfüllt, und erleben das, was Sie erleben sollen in dem Tone, in dem innerlich konzentrierten Ätherischen und Astralischen Ihres Wesens. Treten Sie gegenüber als Mensch den Erscheinungen des letzten Gebietes, dann haben Sie zunächst überhaupt nichts von irgendeiner Schwingung und dergleichen. Aber Sie fühlen sich veranlaßt, dasjenige, was Sie früher konzentriert haben, zu expandieren. Sie treiben
Bild GA 320 175
überall Ihren Ätherleib und Astralleib über Ihre Oberfläche heraus, machen sie größer, und nehmen dadurch wahr diese elektrischen Erscheinungen. Ohne daß man zum Geistig-Seelischen des Menschen fortschreitet, wird man nicht in der Lage sein, eine wahrheitsgemäße und wirklichkeitsgemäße Stellung zu den physikalischen Erscheinungen zu gewinnen. Man wird müssen sich vorstellen immer mehr und mehr: Schall-, Ton-, Lichterscheinungen, die sind verwandt unserem bewußten Vorstellungselemente; Elektrizitäts- und magnetische Erscheinungen, sie sind verwandt unserem unterbewußten Willenselemente, und Wärme liegt dazwischen. Wie das Gefühl zwischen Vorstellung und Willen liegt, so die äußere Wärme der Natur zwischen Licht und Schall auf der einen Seite und Elektrizität und Magnetismus auf der anderen Seite. Die Struktur der Betrachtung der Naturerscheinungen muß daher immer mehr und mehr werden - und sie kann es werden, wenn man der Goetheschen Farbenlehre nachgeht – eine
[176]
Betrachtung des Licht-Ton-Elementes auf der einen Seite und des völlig entgegengesetzten Elektrizitäts-Magnetismus-Elementes auf der anderen Seite. Wie wir im Geistigen unterscheiden zwischen Luziferisch-Lichtischem und Ahrimanisch-Elektrizitätsartigem, - Magnetismusartigem, so müssen wir auch die Struktur der Naturerscheinungen betrachten. Und gleichgültig zwischen beiden liegt dasjenige, was uns in den Erscheinungen der Wärme entgegentritt.
Damit habe ich Ihnen für dieses Gebiet eine Art Richtweg ange geben, Richtlinien, in die ich vorläufig zusammenfassen wollte dasjenige, was Ihnen in diesen paar improvisierten Stunden hat von mir vorgetragen werden können. Es ist ja selbstverständlich, daß mit der Raschheit, mit der das Ganze inszeniert werden mußte, es in den Absichten steckengeblieben ist, daß Ihnen nur einige Anregungen gegeben werden konnten; von denen ich hoffe, daß sie sich in recht baldiger Zeit hier werden ausbauen lassen. Ich glaube aber auch, daß Ihnen das hier Gegebene helfen kann, insbesondere den Lehrern an der Waldorfschule helfen kann, indem Sie da, wo Sie werden den Kindern naturwissenschaftliche Vorstellungen beibringen, darauf sehen werden, daß Sie zwar nicht unmittelbar, ich möchte sagen in fanatischer Weise, die Kinder so unterrichten, daß dann schon diese Kinder hinausgehen in die Welt und sagen: Alle Universitätsprofessoren sind Esel. - Sondern in diesen Dingen kommt es darauf an, daß sich Wirklichkeiten in entsprechender Weise entwickeln können. Es handelt sich also darum, daß wir nicht unsere Kinder beirren. Aber wir können ja das erreichen, daß wir wenigstens nicht zu viele unmögliche Vorstellungen in den Unterricht einmischen, Vorstellungen, die nur entnommen sind dem Glauben, daß das Traumbild, das über die Natur gemacht wird, eine äußere reale Wirklichkeit habe. So wird, wenn Sie sich selbst mit einer gewissen wissenschaftlichen Gesinnung durchdringen, welche durchdringt, ich möchte als Exempel sagen, dasjenige, was ich Ihnen in diesen Stunden vorgetragen habe, so wird Ihnen das für die Art und Weise, wie Sie mit den Kindern über die Naturerscheinungen reden, durch diese Art und Weise, dienen können. Aber auch in methodischer Weise glaube ich, daß Sie manches haben können. Obwohl ich gerne weniger im Galopp durch diese Erscheinungen
[177]
hindurchgegangen wäre, als es nötig war, so werden Sie doch gesehen haben, daß man in einer gewissen Weise verbinden kann das äußerlich Anschauliche im Experiment mit demjenigen, wodurch man Vorstellungen über die Dinge hervorruft, so daß der Mensch die Dinge nicht bloß anglotzt, sondern nachdenkt, und wenn Sie Ihren Unterricht so einrichten, daß Sie die Kinder an dem Experiment denken lassen, mit ihnen das Experiment vernünftig besprechen, dann werden Sie gerade im naturwissenschaftlichen Unterricht eine Methode entwickeln, welche diese Naturwissenschaft fruchtbar machen wird für die Ihnen anvertrauten Kinder. Damit glaube ich gerade durch ein Exempel etwas hinzugefügt zu haben noch an dasjenige, was ich im pädagogischen Kurs bei Beginn des Unterrichtes an der Waldorfschule gesagt habe.
Ich glaube, auf der anderen Seite, dadurch, daß wir diese Kurse haben einrichten können, haben wir etwas getan, was wiederum bei tragen kann zu dem Gedeihen unserer Waldorfschule, welche sich wirklich entwickeln sollte - und nach dem guten, so sehr anerkennenswerten Anlauf kann sie ja das -, welche ein Anfang sein sollte von einem aus Neuem heraus schöpfenden Wirken für unsere Menschheitsentwickelung. Wenn wir uns durchdringen mit diesem Bewußtsein: Es ist eben so vieles Brüchige in demjenigen, was sich bisher heraufentwickelt hat in der Menschheitsentwickelung, und es muß anderes Neugebildetes an dessen Stelle treten, dann werden wir gerade für diese Waldorfschule das richtige Bewußtsein haben. Gerade an der Physik zeigt es sich, daß eine ganze Anzahl von Vorstellungen wirklich außerordentlich brüchig sind, und dieses hängt zusammen doch mehr, als man denkt, mit dem ganzen Elend unserer Zeit. Nicht wahr, wenn die Menschen soziologisch denken, so merkt man gleich, wo sie schief denken - das heißt, die meisten merken es auch nicht. Aber man kann es bemerken, weil man ja weiß, daß soziologische Vorstellungen in die soziale Ordnung der Menschen hinein gehen. Aber wie gründlich die physikalischen Anschauungen in das ganze Leben der Menschheit hineingehen, davon bildet man sich doch nicht eine genügende Vorstellung, und so weiß man nicht, was die manchmal so schrecklichen Vorstellungen der neueren Physik eigentlich
[178]
für Unheil in Wahrheit angerichtet haben. Ich habe ja öfter zitiert auch in öffentlichen Vorträgen, wie Herman Grimm, der seinerseits nur, ich möchte sagen, von außen die naturwissenschaftlichen Vorstellungen angesehen hat, es mit einem gewissen Recht ausgesprochen hat, wie zukünftige Generationen es sich schwer werden begreiflich machen können, daß es einmal so eine wahnsinnige Welt gegeben hat, die sich die Entwickelung der Erde und des ganzen Sonnensystems aus der Kant-Laplaceschen Theorie heraus erklärt hat. Diesen wissenschaftlichen Wahnsinn zu begreifen, wird später einmal nicht leicht sein. So aber wie diese Kant-Laplacesche Theorie gibt es vieles, was heute in unseren Vorstellungen über die unorganische Natur ist. Aber wie werden sich die Menschen noch freimachen müssen von Kantisch-Königsbergischem und Ähnlichem, wenn sie zu durchgreifenden gesunden Vorstellungen werden vorrücken wollen! Man erfährt da ganz sonderbare Dinge, an denen man sehen kann, wie sich das Verkehrte auf der einen Seite zusammenkettet mit dem Verkehrten auf der anderen Seite. Es ist doch etwas wie zum an die Wand Hinaufkriechen, was man in der folgenden Weise erfahren kann. Ich habe in diesen Tagen - wie man sagt, zufällig - vorgelegt bekommen den ab gedruckten Vortrag, den ein deutscher Universitätsprofessor, der sich sogar in diesem Vortrag kundgibt als etwas Kantisch-Königsbergisches, an einer Universität des Baltenlandes über die Beziehungen von Physik und Technik gesprochen hat. Der Vortrag ist am 1. Mai 1918 gehalten. Ich bitte das Datum zu beachten: am 1. Mai 1918. Der Mann, der gelehrter Physiker der Gegenwart ist, spricht sein Ideal am Schlusse dieses Vortrages aus und sagt ungefähr: Der Verlauf dieses Krieges hat klar gezeigt, daß wir viel zu wenig schon den Bund haben herstellen können zwischen der wissenschaftlichen Laboratoriumsarbeit der Hochschulen und dem Militarismus. In der Zukunft muß, damit die Menschheit in entsprechender Weise sich fortentwickeln könne, ein viel näheres Band geknüpft werden zwischen den militärischen Stellen und zwischen demjenigen, was an den Universitäten vorgeht, denn es muß in die Mobilisierungsfragen der Zukunft schon einbezogen werden alles dasjenige, was von der Wissenschaft aus die Mobilisierung zu etwas besonders Kräftigem wird
[179]
machen können. Wir litten im Beginne dieses Krieges gar sehr dar unter, daß dieses innige Band noch nicht geschlungen war, das daher in der Zukunft von den wissenschaftlichen Versuchsanstalten in die Generalstäbe hinein führen soll.
Meine lieben Freunde, es muß die Menschheit umlernen, und sie wird umlernen müssen auf vielen Gebieten. Kann sie sich entschließen, auf einem solchen Gebiete, wie die Physik es ist, umzulernen, so wird sie am leichtesten auch dann bereit sein, auf anderen Gebieten umzulernen. Die Physiker aber, die so im alten Sinne denken, die werden immer nicht gar weit entfernt sein von der netten Koalition zwischen der wissenschaftlichen Versuchsanstalt und den Generalstäben. Es muß vieles anders werden. Möge die Waldorfschule immer eine Stätte sein, wo das erkeimt, was eben anders sein soll! Mit diesem Wunsche möchte ich zunächst diese Betrachtungen schließen.