François Quesnay

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François Quesnay

François Quesnay [fʀɑ̃ˈswa kɛˈnɛ] (* 4. Juni 1694 in Méré/Montfort-l’Amaury[1] bei Versailles; † 16. Dezember 1774 in Versailles) war ein französischer Chirurg und Ökonom. Er gilt als Begründer der physiokratischen Schule der Ökonomie und Enzyklopädist.[2]

Der Arzt

Quesnay wurde als achtes von 13 Kindern seiner Eltern in einem Dorf in der Île-de-France im Arrondissement Rambouillet geboren, ungefähr 90 km von Paris entfernt. Sein Vater war ein kleiner Grundbesitzer (kein Jurist), arbeitete als Landwirt und betrieb daneben einen Krämerladen; als er starb, war François erst acht Jahre alt. Im Alter von 16 Jahren begann er in Paris eine Lehre bei einem Kupferstecher, der Illustrationen für die chirurgische Akademie anfertigte. Hier entwickelte Quesnay sein Interesse an der Medizin, im Anschluss an seine Lehre absolvierte er eine Ausbildung zum Wundarzt im Chirurgiekollegium von Saint-Côme in Paris, 1718 war er Chirurg.

James Gillray: Der Aderlass (um 1805)

Eine medizinische Streitschrift verschaffte ihm einige Aufmerksamkeit. Sie richtete sich gegen Jean-Baptiste Silva, den konsultierenden Arzt des Königs, und dessen – damals weit verbreitete – Ansicht, praktisch jede Krankheit müsse mit einem kräftigen Aderlass behandelt werden. Quesnay dagegen empfahl, mit Blut als einem nützlichen Stoff vorsichtiger umzugehen.[3] In Paris bekam er eine ehrenvolle Anstellung als Leibarzt des Herzogs von Villeroy, wurde 1744 Doktor der Medizin und schließlich 1749 von der einflussreichen Mätresse des Königs Ludwig XV., Madame de Pompadour, an den Hof von Versailles berufen.[4] Als ihr vertrauter Leibarzt hatte er eine kleine Wohnung im Schloss; zu seinen Aufgaben gehörte es, alle Speisen zu prüfen, die sie zu sich nahm. Er wurde unter die offiziellen Hofärzte eingereiht, mit dem erklärten Anspruch auf die Nachfolge als oberster Leibarzt des Königs. 1751 wählte man ihn in die Akademie der Wissenschaften, 1752 erhielt er einen Adelstitel, nachdem er den Kronprinzen von den Windpocken geheilt hatte.

Der Ökonom

Das Tableau Économique

Erst in weit fortgeschrittenem Alter beschäftigte sich Quesnay mit Fragen der Volkswirtschaft. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts erschienen in Frankreich zahlreiche Schriften zu diesem Thema. Auch in der Enzyklopädie von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, einem zentralen Werk der Aufklärung, nahmen diese Probleme großen Raum ein. Quesnay war mit d’Alembert befreundet, in den Jahren 1756/57 schrieb er mehrere enzyklopädische Artikel, allerdings – aus unbekanntem Anlass – nicht über Medizin, sondern über Landwirtschaft und ihre gesamtwirtschaftliche Bedeutung. 1758 entwickelte er sein revolutionäres Modell vom wirtschaftlichen Kreislauf und dessen Gesetzmäßigkeiten, das Tableau économique, und wurde so zum Begründer der Physiokratie.

Häufig wird die naheliegende Vermutung geäußert, dass Quesnay seine medizinischen Kenntnisse des Blutkreislaufs auf die Volkswirtschaft übertrug; einen Beleg dafür gibt es nicht. Dass Quesnay auch „Konfuzius Europas“ genannt wurde, spricht für die These, dass ihn chinesische Vorbilder anregten.[5]

Ein wesentlicher Fortschritt in Quesnays Wirtschaftsmodell bestand in der Erkenntnis, dass Ausgaben nicht einfach nur verbraucht waren, sondern an anderer Stelle als Einnahmen erschienen, die nun wieder Ausgaben möglich machten und so weiter. Nicht mehr einzelne Phänomene des Wirtschaftslebens wurden untersucht, sondern es entstand ein Schema, mit dem erkennbar wurde, wie Produktion, Verteilung und Verbrauch zusammenhingen und einander bedingten. Der so entstehende Kreislauf würde sich sozusagen naturgesetzlich selbst regulieren, der Staat sollte so wenig wie möglich eingreifen: „Laissez faire et laisser passer“ wurde zum Wahlspruch der Physiokraten. Als Träger aller wirtschaftlichen Aktivitäten benannte Quesnay drei „Klassen“ (Gruppen bzw. Sektoren): Die Landwirtschaft (classe productive) erwirtschaftet den volkswirtschaftlichen Überschuss. Die Grundeigentümer (classe des propriétaires oder classe distributive), meist Adlige, betreiben durch Verpachtung die Verteilung des Bodens und sorgen für dessen Melioration; sie verbrauchen den gesamten Überschuss. Die Händler und Gewerbetreibenden (classe stérile) erwirtschaften mit ihrer Tätigkeit keinen volkswirtschaftlich relevanten Überschuss, daher ihre Einordnung als steril.

Die Denkschule der Physiokraten hatte unter französischen Intellektuellen zahlreiche Anhänger. In Fachzeitschriften gab es seit 1765 Beilagen mit ihren Schriften. Quesnay selbst veröffentlichte darin unter den Pseudonymen H., N., Isle oder Nisaque regelmäßig Artikel wie „Observations sur le droit naturel“ und „Mémoire sur les avantages de l’industrie et du commerce“. In Paris fanden zehn Jahre lang zweimal wöchentlich Zusammenkünfte im Palais des Grafen Mirabeau statt, gesellschaftliche Ereignisse mit Diskussionen, die auch der Vorbereitung neuer Publikationen zur physiokratischen Ökonomie dienten. Während seines längeren Frankreichaufenthalts seit 1764 nahm auch der britische Moralphilosoph und später berühmte Ökonom Adam Smith an den Veranstaltungen teil. Auch Quesnay kam als Siebzigjähriger noch gelegentlich zu diesen Treffen nach Paris. Am 16. Dezember 1774, im damals ungewöhnlich hohen Alter von 80 Jahren, starb er in seiner Wohnung in Versailles. Wenige Monate zuvor war ein Anhänger seiner Theorie, der Staatsmann und Ökonom Turgot, Finanzminister Ludwigs XVI. geworden.

Quesnays Betrachtungsweise der Wirtschaft als Kreislauf markierte einen wissenschaftlichen Durchbruch und ebnete Wege zur Entwicklung der klassischen Volkswirtschaftslehre. Seine Charakterisierung der verschiedenen „Klassen“ rief jedoch bald Widerspruch hervor, vor allem die Bewertung der aufstrebenden Manufakturen als unproduktiv und „steril“. Adam Smith korrigierte dann 1776 in seinem ökonomischen Hauptwerk Der Wohlstand der Nationen die These vom Vorrang der Landwirtschaft als Quelle des nationalen Reichtums. Er schrieb die Produktivkraft überhaupt keinem bestimmten Sektor der Volkswirtschaft zu, sondern generell der Arbeit, die allen Produktionsformen zugrunde liegt. Entscheidend sei, dass ausreichend Kapital zur Verfügung gestellt werde, um produktive Arbeit nutzen zu können.

Siehe auch

Werke (Auswahl)

Tableau economique, 1965
  • Observations sur les effets de la saignée (1730)
  • Essai phisique sur l'œconomie animale (1736)
  • L’art de guérir par la saignée (1736)
  • Histoire de l'origine et des progrès de la chirurgie en France. Paris 1749
  • Traité de la suppuration (1749)
  • Traité de la gangrène (1749)
  • Traité des fièvres continues (1753)
  • Auguste Oncken (Hrsg.): Oeuvres économiques et philosophiques. Frankfurt/M.: Joseph Baer; Paris: Jules Peelman, 1888
  • Marguerite Kuczynski (Hrsg.): Ökonomische Schriften. Berlin: Akademie-Verlag, 1971/76. 1.: Schriften aus den Jahren 1756–1759. 1971 (2 Bde.). 2.: Schriften aus den Jahren 1763–1767. 1976 (2 Bde.)

Literatur

  • Hermann Korte: Einführung in die Geschichte der Soziologie (= Einführungskurs Soziologie. Band 2). 8., überarbeitete Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, ISBN 978-3-531-14774-1.
  • Reinhard Blomert: Der Doktor der Nation. In: Der Tagesspiegel. Nr. 20108, 7. Dezember 2008.
  • Hansgeorg Köster: Die Kreislauftheorie von François Quesnay und Wassily W. Leontief. Dissertation. Universität Erlangen 1982.
  • Gianni Vaggi: The economics of François Quesnay. Duke University Press, Durham 1987, ISBN 0-8223-0757-X (englisch).
  • Peter D. Groenewegen: Die Bedeutung der „philosophie rurale“ als ein physiokratischer Text. Wirtschaft und Finanzen, Düsseldorf 2002, ISBN 3-87881-175-6.
  • Anja Eckstein u. a.; Bernd O. Weitz (Hrsg.): Bedeutende Ökonomen. Oldenbourg, München 2008, ISBN 978-3-486-58222-2.
  • Hans Immler: Natur in der ökomischen Theorie. Teil 1: Vorklassik – Klassik – Marx. Teil 2: Physiokratie – Herrschaft der Natur. Westdeutscher Verlag, Opladen 1985, ISBN 3-531-11715-7.
  • Barbara I. Tshisuaka: Quesnay, François. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1209.

Weblinks

Commons: François Quesnay - Weitere Bilder oder Audiodateien zum Thema
 Wikisource: François Quesnay – Quellen und Volltexte (français)

Einzelnachweise

  1. Barbara I. Tshisuaka: Quesnay, François. 2005, S. 1209.
  2. Frank Arthur Kafker: Notices sur les auteurs des 17 volumes de « discours » de l'Encyclopédie Recherches sur Diderot et sur l'Encyclopédie. Année (1990) Volume 8 Numéro 8, S. 112
  3. François Quesnay. Observations sur les effets de la saignée, tant dans les maladies du ressort de la médecine que de la chirurgie, fondées sur les lois de l'hydrostatique: avec des remarques critiques, sur le traité de l'usage des différentes sortes de saignées, de Monsieur Silva. Osmont, Paris 1730 (Digitalisat)
  4. Uwe Schultz: Madame de Pompadour oder die Liebe an der Macht. C.H.Beck, München (2004) ISBN 3-406-52194-0 S. 79–82
  5. z. B. Wolfgang Eßbach: Elemente ideologischer Mengenlehren: Rasse, Klasse, Masse. in: Justin Stagl, Wolfgang Reinhard (Hrsg.): Grenzen des Menschseins. Band 8 von Veröffentlichungen des "Instituts für Historische Anthropologie e. V.", Verlag Böhlau, Wien 2005, S. 738
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