Gewissen

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Nikolai Nikolajewitsch Ge: Das Gewissen (Judas), 1891

Das Gewissen, das intuitiv sichere Wissen um den moralischen Wert einer Tat, entstand als besondere Fähigkeit des sich immer mehr individualisierenden Menschen in der griechisch-lateinischen Zeit, wie es etwa die unterschiedliche Schilderung der Orest-Tragödie bei Aischylos, Sophokles und Euripides deutlich zeigt.

Gewissen und Ätherleib

Das Gewissen lebt als eine im Zuge der Menschheitsentwicklung allmählich erworbene dauerhafte Gewohnheit im Ätherleib des Menschen.

"Alle Gewohnheiten sind im Ätherleibe oder Lebensleibe. Wenn wir ein sittliches Urteil fällen, so ist das wieder eine Tat des astralischen Leibes. Wenn sich uns eine gewisse Richtung des Urteilens durch wiederholtes Urteilen einprägt, so wird das sittliche Urteil zu einem dauernden, zum Gewissen. Das sittliche Urteil ist ein Erlebnis des astralischen Leibes, das Gewissen ist ein Erlebnis des Äther- oder Lebensleibes." (Lit.: GA 57, S. 273)

Das Gewissen - wie alles wahre Wissen - wird aber nicht in einem Leben, sondern durch die Erfahrungen vieler Inkarnationen ausgebildet. Ein im Laufe vieler Erdenleben hochentwickeltes Gewissen ist daher, zwar nicht vollständig, aber doch weitgehend unabhängig vom kulturellen Umfeld der gegenwärtigen Inkarnation und stellt sich gegebenenfalls aus einere höheren Verantwortung auch gegen die Normen und Gesetze der sozialen Gemeinschaft.

„Das Wissen ist etwas, was sich die Menschen in vielen Inkarnationen erworben haben. Nach langem Probieren gelangte die Menschheit zu einem Schatz des Wissens. Da sieht man die Wichtigkeit des Karmagesetzes; wir haben hier auch etwas, was sich als bleibende Angewöhnung und Neigung aus der Erfahrung heraus bildet. Solch eine Neigung wie das Gewissen haftet auch am Ätherleib: Indem der Astralleib sich soundso oft überzeugt hat, daß dieses oder jenes nicht geht, bildet sich diese Neigung im Ätherleib als eine bleibende Eigenschaft aus.“ (Lit.:GA 95, S. 74f)

In seinem Aufsatz über «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» (1907) schreibt Rudolf Steiner:

„Das, was man Gewissen nennt, ist nichts anderes als das Ergebnis der Arbeit des Ich an dem Lebensleib durch eine Reihe von Verkörperungen hindurch. Wenn der Mensch einsieht, daß er dies oder jenes nicht tun soll, und wenn durch diese Einsicht ein so starker Eindruck auf ihn gemacht wird, daß sich dieser bis in seinen Ätherleib fortpflanzt, so entsteht eben das Gewissen.“ (Lit.:GA 34, S. 318)

Seinem eigentlichen Wesen nach ist das Gewissen ein Vermächtnis der geistigen Welt, das wir in unser sinnliches Dasein mitgenommen haben.

„Wir haben gelebt in der geistigen Welt drüben bis zum Ende der Mondenzeit und noch in der Erdenzeit mit den Wesen der höheren Hierarchien. Wir sind herausgetreten durch die Sinnespforte. Aber wir haben nicht alles verloren, was sich in unserer Seele entwickelt hat an Zusammengehörigkeitsgefühl mit den Wesen der höheren Hierarchien. Wir tragen einen unterbewußten Rest mit. Neben vielem anderen ist dieser unterbewußte Rest auch die Grundlage des Gewissens. Man kann das Gewissen auch von diesem Gesichtspunkte aus betrachten. Das Gewissen ist durchaus noch ein Vermächtnis der geistigen Welt. Nur allmählich, indem wir die Welt wieder verstehenlernen, indem wir sie wieder geistig zu fassen wissen, wird sich uns eine Summe von Moralprinzipien ergeben, die sich beleuchtend verhalten werden zu dem, was wie eine instinktive Moral aus unserem Gewissen kommt. Eine immer leuchtendere Moral wird auftreten - wenn die Menschheit sie sucht, selbstverständlich!“ (Lit.:GA 170, S. 217)

Vor allem gibt uns das Gewissen auch ein prophetisches Vorgefühl davon, wie wir unsere Taten im Leben zwischen Tod und neuer Geburt bewerten werden, wenn wir sie im Devachan schauen.

„Das Gewissen gibt an, ob wir zurückschrecken werden, oder ob wir beseligt sein werden, wenn wir im Devachan unsere Handlungen werden schauen können. So ist das Gewissen ein Vorgefühl prophetischer Art, wie wir unsere Taten nach dem Tode erleben werden.“ (Lit.:GA 143, S. 69)

Vorläufer des Gewissen

Orest wird von Furien gehetzt

Als der Mensch noch über ein natürliches Hellsehen verfügte, konnte er die Stimme des Gewissens nicht vernehmen, aber er erlebte hellsichtig die Rachegeister, die ihn verfolgten, die Erinnyen (Furien).

„Wenn wir nun in jene Urzeiten der Menschheit zurückleuchten mit den Methoden, die wir hier charakterisiert haben, und welche dem hellseherischen Bewußtsein zur Verfügung stehen, was sagt uns dann der Seher über das ursprüngliche menschliche Bewußtsein, zum Beispiel wenn der Mensch eine schlimme Tat begangen hatte? Da stellte sich die schlimme Tat nicht dar als etwas, was der Mensch mit seinem Innern taxieren konnte, sondern er sah sie in ihrer ganzen Schädlichkeit und Schändlichkeit wie ein Gespenst vor seiner Seele stehen. Und wenn das Gefühl für die schlechte Tat in der Seele auftauchte, so war die Folge die, daß die betreffende Tat in ihrer Schändlichkeit als geistige Wirklichkeit an den Menschen herantrat. Da war der Mensch gleichsam umgeben von der Anschauung des Schlimmen seiner Tat.

Dann kam der Mensch immer mehr und mehr in die Zeit hinein, wo das alte traumhafte Hellsehen schwand und wo sich das Ich immer mehr und mehr geltend machte. Indem der Mensch seinen Mittelpunkt in seinem Innern fand, erlosch das alte Hellseherbewußtsein, dafür aber tauchte immer deutlicher das Selbstbewußtsein auf. Was er früher vor sich hatte als Anschauung seiner bösen Tat - und auch seiner guten Tat -, das wurde in sein Inneres verlegt. Es spiegelte sich gleichsam das, was er früher hellseherisch geschaut hatte, in seinem Innern.

Was waren das nun für Gestalten, die der Mensch im traumhaften Hellsehen erblickte als geistige Gegenbilder seiner schlechten Tat? Es war das, was ihm die geistigen Mächte seiner Umgebung zeigten als etwas, wodurch er die Weltordnung gestört, zerrüttet hatte. Das war im Grunde keine schlimme Wirkung im rechten Sinne des Wortes; es war eine heilsame Wirkung. Es war gleichsam die Gegenwirkung der Götter, die den Menschen emporheben wollten, indem sie ihm die Wirkung seiner Tat zeigten, um ihm zu ermöglichen, die schädliche Folge seiner Tat zu beseitigen. So war es zwar etwas Furchtbares, wenn die Wirkung der schlimmen Tat vor dem Menschen stand, aber im Grunde war es eine heilsame Wirkung des Weltengrundes, aus dem der Mensch selbst herauskam. Als dann die Zeit kam, wo der Mensch in sich seinen Ich-Mittelpunkt fand, da wurde diese Anschauung in das Innere verlegt und trat als Wirkung seiner Tat im Spiegelbilde im Innern auf. Wenn unser Ich zuerst zum Vorschein kommt, ist es zunächst schwach innerhalb der Empfindungsseele vorhanden, und der Mensch muß sich langsam erst hinaufarbeiten, um das Ich nach und nach zur Vollkommenheit zu bringen. Fragen wir uns einmal: Was wäre geschehen in dem Augenblick der Entwickelung, als die hellseherische Anschauung der Taten des Menschen von außen verschwand, wenn nicht innerlich etwas aufgetreten wäre in dem noch schwachen Ich, was zugleich wie ein Gegenbild jener wohltätigen Wirkung erschien, die dem Menschen früher vor Augen trat, wenn er die Wirkung seiner Tat hellseherisch schaute?

Der Mensch hätte sein schwaches Ich gehabt; er wäre aber hin und her gerissen worden in der Empfindungsseele durch seine eigenen Leidenschaften wie in einem uferlosen, aufgepeitschten Meere. Was trat beim Menschen in diesem großen weltgeschichtlichen Augenblick aus dem Äußeren in das Innere? Wenn es der große Weltengeist war, der als heilsame Gegenwirkung die schädliche Wirkung einer Tat vor das hellseherische Bewußtsein stellte, der dem Menschen zeigte, was er auszubessern hatte, dann war es nachher auch dieser Weltengeist, der sich als ein Mächtiges im Innern des Menschen kundgab, als das Ich selber noch schwach war. So zog sich der früher in dem hellseherischen Anschauen sprechende Weltengeist in das menschliche Innere in bezug auf dasjenige zurück, was er zur Korrektur der gestörten Weltordnung zu sagen hatte. Das Ich ist noch schwach. Über diesem Ich wacht aber der Weltengeist; und er läßt sich vernehmen als etwas, was jederzeit wachend über dem Ich steht und über das urteilt, worüber das Ich noch nicht urteilen könnte. Hinter diesem schwachen Ich steht etwas wie ein Abglanz des mächtigen Weltengeistes, der früher im hellsichtigen Bewußtsein dem Menschen die Wirkung seiner Taten gezeigt hatte.

So nahm der Mensch, als dann das alte Hellsehen hinschwand, von dem, was der Weltengeist selber wirkte, nur noch einen Abglanz in seinem Innern wahr. Dieser Abglanz des korrigierenden Weltengeistes, der neben dem Ich wachend steht, erschien dem Menschen als das ihn überwachende Gewissen!“ (Lit.:GA 59, S. 255ff)

Dieser Übergang zeigt sich deutlich am Geschick des Orest, wie es die großen griechischen Tragödiendichter nachgezeichnet haben. Aus Rache für die heimtückische Ermordung seines Vaters Agamemnon tötet Orest seine Mutter Klytaimnestra und deren Liebhaber Aigisthos. Damit scheint er mit kühler Überlegung der Gerechtigkeit genüge zu tun; er handelt nicht aus Hass, sondern im göttlichen Auftrag Apolls. Dennoch verfolgen ihn nach der Schilderung von Aischylos sogleich die Erinnyen, die Rachegeister der toten Mutter – oder er wird, wie es Euripides (Orestes Vers 396) schildert, von der Stimme seines Gewissens gequält. Hier wird der welthistorische Übergang greifbar. Danach gefragt, was ihn quäle, läßt Euripides Orest antworten: „Das Bewußtsein darum, daß ich von mir selbst aus weiß, etwas Schreckliches getan zu haben.“ Ein einzigartiger Moment in der Menschheitsgeschichte ist damit bezeichnet, wenn hier erstmals vom Gewissen gesprochen wird, von einer Fähigkeit, die die Menschheit vordem nicht kannte, obwohl ihr schon im 1. Buch Moses als Folge des Sündenfalls prophezeit wurde, daß „ihr wie Gott sein werdet, indem ihr Gutes und Böses erkennt.“ Jetzt erst beginnt sich dieses Wort aber wirklich zu erfüllen. Bis dahin ließen sich die Menschen, die sich noch kaum als Individuum, sondern als unabtrennbares Glied ihrer sozialen Gemeinschaft, ihres Stammes oder Volkes, fühlten, von der Stimme der Götter lenken, die entweder unmittelbar in mystischer Versenkung, oder durch Priester und Volksführer, denen sie vertrauensvoll folgten, zu ihnen sprach; oder sie ließen sich von den blinden Emotionen leiten, die aus der Tiefe ihres Wesens hervorbrachen und die vielfach als dämonische Mächte empfunden wurden. So entfaltete sich das menschliche Leben lange Zeit zwischen göttlicher Beseligung und dämonischer Besessenheit, und der Mensch war bloß der willenlose Schauplatz, auf dem Götter und Dämonen ihre Kämpfe austrugen.

Die Entwicklung des Gewissens

"Das menschliche Gewissen ist etwas, was uns ja im Tiefsten der Seele berühren muß. Und wo uns seit Jahrhunderten Philosophen oder sonstige Denker über die Welt entgegentreten, da ist es in der Regel auch die Frage nach dem, was man das menschliche Gewissen nennt, die sie interessierte. Man könnte nun gerade einer solchen Erscheinung wie dem Gewissen gegenüber sich leicht einer Illusion hingeben: der Illusion, die hier schon öfter eben als Illusion bezeichnet worden ist, und die darin bestehen würde, daß man glaubte, alles was in der menschlichen Seele heute gegenwärtig ist, das sei schon immer dagewesen. Wir haben aber gesehen, daß die verschiedensten Seelenfähigkeiten und Seelenvorgänge, welche sich im Menschen im Laufe der Jahrtausende entwickelt haben, in der Urzeit ganz andere waren, als sie gegenwärtig sind. Und auch mancherlei von dem, was wir heute als das Teuerste, als das Bedeutsamste besitzen in unserem Seelenleben, haben unsere Seelen nicht gehabt, als sie vor vielen Jahrtausenden in anderen Verkörperungen auf der Erde wandelten. Das Durchgehen durch verschiedene Verkörperungen hat ja einen Sinn. Wir haben das oft betont. Es hat den Sinn, daß die Seele, indem sie sich von Verkörperung zu Verkörperung entwickelt, immer neue Fähigkeiten und Kräfte sich aneignen kann, daß die Seele wirklich eine Geschichte durchmacht, daß ihr Erdendasein eine Lehrzeit ist, daß sie etwas anderes gewesen ist in der Zeit, als unsere Verkörperungen begonnen haben, und etwas anderes ist jetzt, und etwas anderes sein wird in einer fernen Zukunft.

Auch das menschliche Gewissen, dieses teure Gut der Menschenseele, welches wie eine Gottesstimme ruft gegenüber dem Guten und gegenüber dem Bösen in jedem individuellen Menschen, auch diese teure Gabe des menschlichen Innern ist nicht immer dagewesen. Auch dieses Gewissen ist etwas, was sich entwickelt hat. Und es ist sogar verhältnismäßig noch nicht lange her, seit sich dieses menschliche Gewissen ankündigte und sich seitdem immer weiter und weiter entwickelt hat. Und wenn es auch ein teures Gut ist, so ist es dennoch nicht dazu berufen, immer in derselben Weise durch alle folgenden Inkarnationen hindurch in der menschlichen Seele zu leben, so wie jetzt. Es wird sich weiter entwickeln, es wird andere Gestalten annehmen, wird sich erweisen als etwas, was sich der Mensch anzueignen hat, was ihm Früchte tragen wird, und was in späteren Zeiten, wenn er diese Früchte haben wird, etwas sein wird, auf das er zurückblickt und sagt: Es gab eine Epoche, da wurde es mir möglich, auf dem Durchgange von Inkarnation zu Inkarnation meinem Seelendasein das einzuverleiben, was das Gewissen ist, und jetzt habe ich die Früchte von dem, was ich einst meiner Seele einverleibt habe. - Wie wir heute zurückschauen auf eine Zeit, wo unsere Seelen in anderen Verkörperungen waren und das noch nicht hatten, was wir heute Gewissen nennen, so werden in späteren Zeiten unsere Seelen einstmals zurückblicken auf unsere gegenwärtigen Inkarnationen und werden sagen: Heil jener Vergangenheit! Dank jenen Gaben, die uns in der Vergangenheit geworden sind als menschliches Gewissen! Hätten wir damals nicht das menschliche Gewissen entwickeln können in unsern Seelen, so würde uns jetzt das fehlen, was wir brauchen zu dem jetzigen Leben!

Daraus schon sehen wir, daß das Gewissen zu den seelischen Gütern der Gegenwart gehört, und daß es etwas wie Verständnis unserer Gegenwart ist, wie Verständnis des Seelenlebens unserer Gegenwart, wenn wir etwas verstehen von der Natur und dem Wesen des menschlichen Gewissens. Daß es entstanden ist, darauf wurde ja in manchem Zusammenhange schon aufmerksam gemacht. Darauf wird auch am nächsten Donnerstag hingedeutet werden, daß man sozusagen mit Fingern hinweisen kann auf den Zeitpunkt, wo das Gewissen für die menschliche Seele erst entdeckt worden ist. Wenn wir einige Jahrhunderte zurückgehen in das alte Griechenland, so finden wir kaum ein halbes Jahrtausend vor dem Beginn der christlichen Zeitrechnung den großen Dichter Äschylos. Wenn wir bei ihm, bei diesem gewaltigen Genius der griechischen Urdramatik uns umsehen, wenn wir seine Gestalten auf uns wirken lassen, so finden wir in seiner Dramatik das, was wir heute mit dem Ausdruck Gewissen bezeichnen, noch nicht mit einem ähnlichen Ausdruck bezeichnet. Ein halbes Jahrtausend vor dem Beginn der christlichen Zeitrechnung gibt es für den größten Dramatiker noch keinen Ausdruck für das, was wir heute als das menschliche Gewissen bezeichnen. Wenn er ausdrücken will den menschlichen Seelenvorgang, der dem entsprechen würde, was wir heute Gewissen nennen, dann muß er es in der Weise tun, daß jemand, der zum Beispiel das Unrecht des Muttermordes begangen hat, durch die Gewalt dieses Ereignisses ins Geistige hineinschaut und Gestalten sieht im Geistigen, die das alte Griechentum die Erinnyen, das spätere Römertum die Furien genannt hat. Das heißt, wer ein Unrecht wie den Muttermord getan hat, der vernimmt bei Äschylos nicht das, was wir heute die vorwerfende Stimme des Gewissens im eigenen Innern nennen, sondern ihn drängt etwas, geistig zu schauen die Gestalten, die wie die Rächer seiner Tat ihn umgeben.

Das ist einer der besonderen Beweise, die Sie finden können in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit für das, was in umfassender Weise eben charakterisiert worden ist. Das menschliche Seelenvermögen war in alten Zeiten ganz anders. Wir haben immer betont, daß die menschliche Seele sich erst nach und nach entwickelt hat zu ihrer jetzigen Fähigkeit, die physisch-sinnliche Welt durch die Sinne so wahrzunehmen, wie sie es heute kann, und den Verstand so zu gebrauchen, wie sie ihn heute gebraucht. Wir haben betont, daß die Seele in alten Zeiten als normales Vermögen ein gewisses Hellsehen hatte. Dieses Hellsehen trat zur Zeit des Äschylos nur noch in besonderen Fällen ein. Hellsichtig wird die Seele zum Beispiel, um das zu schauen, was sie in der physischen Welt durch ihr Unrecht angerichtet hat. Hellsichtig wird die Seele des Orest, nachdem er den Muttermord begangen hat. Da sieht sie, welche Geister sie durch ihre Tat wachgerufen hat in der geistigen Welt. Die dringen an sie heran. Nicht im Innern der Seele sitzt so etwas wie das Gewissen, sondern hellsichtiges Bewußtsein tritt auf, um die Unordnung zu sehen, die wachgerufen ist dadurch, daß in der physischen Welt ein Unrecht begangen worden ist. Das würden wir in alten Zeiten überall finden: Wer ein Unrecht getan hat, hört noch nicht die warnende Stimme des Gewissens, denn die Seele ist in alten Zeiten im Zustande des Hellsehens und sieht da, was entstanden ist in der Außenwelt durch das Unrecht.

Was geschieht denn, wenn ein Unrecht begangen worden ist? Da wird durch uns selber in der geistigen Welt etwas geschaffen. Es ist nur materialistisches Vorurteil, daß ein Unrecht vorübergehen kann, ohne daß dabei in der geistigen Welt etwas geschaffen wird. Das Unrecht erzeugt ganz bestimmte Vorgänge in der geistigen Welt, Wirkungen, die von uns ausstrahlen, unsichtbar für die äußere Sinnenbeobachtung, aber vorhanden für geistiges Schauen. Und solche geistigen Vorgänge, die von jemandem ausstrahlen, der ein Unrecht getan hat, bedeuten Nahrung für gewisse Wesenheiten, die in der geistigen Welt tatsächlich vorhanden sind. Solche Wesenheiten können an den Menschen nicht immer heran. Wenn er keine solche Ausstrahlungen hat, wie sie von einem unrechten Tun kommen, dann können sie nicht an ihn heran. Es geht mit ihnen gerade so wie mit einer Stube: Wenn die Stube ganz rein ist, können keine Fliegen darinnen sein. Es sind auch keine drinnen. Aber wenn die Stube alles mögliche Schmutzige hat, Speisereste und so weiter, da sind die Fliegen gleich da. In dem Augenblick, wo der Mensch ausstrahlt durch seine schlechten Taten gewisse geistige Ausstrahlungen, da sind um ihn herum Wesenheiten, die sich davon nähren. Diese Wesenheiten läßt der große griechische Tragiker Äschylos um Orest herum sein. Was wir heute als innere Stimme vernehmen, das ist dem griechischen Tragiker Äschylos noch so bewußt, daß er es in äußeren Gestalten auftreten läßt, weil er weiß, daß in besonderen Fällen immer noch das eintrat, was in älteren Zeiten ein Gemeingut aller Seelen war: ein gewisses hellsichtiges Bewußtsein. Von allem früheren bleibt etwas für spätere Zeiten zurück und tritt dann als Atavismus auf, aber nur in abnormen Fällen. Daher ist es nicht etwas, was zu tadeln wäre, wenn bei Shakespeare zum Beispiel noch etwas ähnliches auftritt, gleichsam ein objektiviertes Gewissen.

Dann aber brauchen wir nur wenige Zeit weiterzugehen in der griechischen Kunst, von Äschylos zu Euripides, und Euripides, der spätere Tragiker, zeigt uns, daß er den Begriff des Gewissens bereits hat. So sehen wir im alten Griechenland, wie in dem halben Jahrtausend vor der christlichen Zeitrechnung der Begriff des Gewissens nach und nach erst auftritt. Suchen Sie sich im Alten Testament ein Wort für das, was wir heute Gewissen nennen: Sie werden es nicht finden. Gewissen ist etwas, was als Fähigkeit erst in die Menschenseele eingezogen ist. Und wenn wir nicht kurze Spannen Zeiten betrachten, sondern große Zeiträume, dann können wir sehen, daß das Gewissen etwas ist, was in die Menschenseele seinen Einzug gehalten hat auch ungefähr in derselben Zeit, als der Christus-Impuls in der Seele Platz gegriffen hat. Man möchte sagen, fast wie ein Schatten folgt das Gewissen dem Christus-Impuls, wie er eintritt in die weltgeschichtliche Entwickelung. Um das nun zu verstehen, müssen wir heute nun mancherlei in uns lebendig machen, was wir im Laufe der Jahre uns angeeignet haben, und was wir fruchtbar machen müssen zum Begreifen dessen, was das menschliche Gewissen eigentlich ist.

Wenn wir begreifen wollen in einem tieferen Grunde, was das Gewissen ist, so müssen wir gerade jenen Zeitpunkt ins Auge fassen, in welchem die menschliche Entwickelung sich dem Christus-Impuls nähert, diesen Christus-Impuls aufgenommen hat und dann in unsere Zeit hinein weitergeschritten ist. Wir wissen, daß wir es dabei zu tun haben mit drei Kulturepochen unserer Menschheitsentwickelung, die wir bezeichnen als die ägyptisch-chaldäische Kultur, die griechisch-lateinische Kultur und als unsere gegenwärtige Kultur. Die zwei vorhergehenden Kulturen, die uralt-indische und die urpersische, können wir jetzt unberücksichtigt lassen, denn da waren unsere Seelen noch weit entfernt, dasjenige auch nur zu ahnen, was wir heute mit dem Begriff des Gewissens bezeichnen. In der ägyptisch-chaldäischen Kultur sehen wir allmählich, wie sich vorbereitet alles, was dann zu der höchsten Höhe emporgestiegen ist, die es erreichen konnte, um m der griechisch-lateinischen Kultur den bedeutsamen Impuls zu erlangen, der als der Christus-Impuls aufgenommen worden ist. Und wir sehen dann in unserer eigenen Zeit die Epoche, wo dieser Impuls verarbeitet wird. Und immer größer und bedeutungsvoller wird dieses Verarbeiten in dem kommenden Zeitalter werden.

Wenn wir uns nun noch etwas genauer erinnern an diese Entwickelung, die sich vollzieht von der ägyptisch-chaldäischen Zeit durch die griechisch-lateinische Epoche bis in unsere Zeit hinein, so tritt uns da vor die Seele, daß in jeder dieser Epochen insbesondere ein Glied der menschlichen Seele entwickelt wird. Von den drei Gliedern der menschlichen Seele ist während der ägyptisch-chaldäischen Zeit entwickelt worden dasjenige, was wir die Empfmdungsseele nennen, das heißt, wir mußten in ägyptisch-chaldäischen Leibern einstmals verkörpert sein, damit wir in die Lage kamen, in regelrechter Weise jene Fähigkeiten in uns aufzunehmen, die zu der besonderen Ausbildung der Empfindungsseele taugen. Dann haben wir als Seelen jene Eigenschaft mitgenommen in die nächsten Verkörperungen während der griechisch-lateinischen Epoche, um jetzt auszubilden die Verstandes- oder Gemütsseele. Und mit den Früchten, die wir aus der griechisch-lateinischen Epoche gewonnen haben, leben wir in unseren jetzigen Verkörperungen, um nun allmählich das zu immer höherer Entwickelung kommen zu lassen, was wir die Kräfte der Bewußtsemsseele nennen. So wird unsere Seele als Mensch gerade während diesen drei Zeitaltern ausgebildet. Und wenn unsere Zeit vorüber sein wird, dann wird unsere Seele aufsteigen zu der Entwickelung der Fähigkeit des Geistselbst. Das wird in der sechsten Kulturepoche sein. Da sehen wir, welchen tiefen Sinn es hat, daß wir aufeinanderfolgende Verkörperungen durchmachen. Es hat den Sinn, daß wir uns dadurch nach und nach aneignen diejenigen Fähigkeiten, welche wir als die der menschlichen Seele kennen, und im weiteren Umfange auch diejenigen, welche dann über das bloße Seelenleben hinausgehen.

Also während der ägyptisch-chaldäischen Kultur haben unsere Seelen sich angeeignet die Kräfte der Empfindungsseele und haben diese Kräfte zur Entfaltung gebracht, während der griechisch-lateinischen Zeit die Kräfte der Verstandesseele oder Gemütsseele. Bis zur Verstandesseele mußte der Mensch normalerweise heraufdringen, dann konnte der Christus-Impuls auf ihn ausgeübt werden. Nun aber war in einer ganz verschiedenen Weise diese Ausbildung an den verschiedenen Punkten der Erde geschehen. Wenn wir nämlich mit einer gewissen Bequemlichkeit der Seele glauben wollten, daß sich in der Entwickelung der Menschheit alles möglichst einfach vollzieht, so werden wir niemals zum Begreifen der Menschheitsentwickelung kommen können. Vieles muß man kennenlernen, um die großen Gedanken der leitenden Weltwesen einigermaßen nachdenken zu können! Und es ist der größte Hochmut, wenn der Mensch den Satz ausspricht, daß die Wahrheit einfach sei; denn da will er die Wahrheit nach seiner Bequemlichkeit drechseln. Es ist nur eine Frucht der Bequemlichkeit, wenn gesagt wird, die Wahrheit müsse einfach sein. Aber die Wahrheit ist eine komplizierte, weil der Geist der leitenden Weltwesen von uns nur begriffen werden kann, wenn wir die höchsten Anstrengungen machen, um uns in die Gedanken der leitenden Weltengeister - auch bis in die subtilsten Gedanken hinein - zu vertiefen. So dürfen wir auch nicht glauben, daß wir schon alles erschöpft hätten, wenn wir sagen: Unsere Seelen haben sich durch die ägyptisch-chaldäische Kultur, durch die griechischlateinische Kultur und durch unsere jetzige Kulturepoche hinaufentwickelt. Versetzen wir uns für einen Augenblick in die Zeit, da es noch kein griechisch-lateinisches Wesen gab, sondern nur erst die ägyptisch-chaldäische Kultur.

In dieser Zeit lebten in den Gegenden Griechenlands und in den Ländern des römischen Reiches auch Menschen; sie lebten sozusagen vor der griechisch-lateinischen Zeit in den Ländern der späteren griechisch-lateinischen Kultur. Und auch in unseren Gegenden, auf dem Boden, den wir heute betreten, lebten Menschen in der Zeit, als die ägyptisch-chaldäische Kultur sich in Asien und Afrika abspielte. Während in Asien und Afrika zur Zeit der ägyptisch-chaldäischen Kultur gewisse Seelen im eminentesten Sinne das durchmachten, was sie vorbereiten sollte zum Empfang des Christus-Impulses, lebten in den Gegenden der späteren griechisch-lateinischen Kultur andere Seelen, die sich vorbereiteten, etwas ganz anderes hinzuzubringen zur Gesamtentwickelung der Menschheit. Ebenso lebten in unseren Gegenden Menschen, die sich zu etwas anderem vorbereiteten. Nicht nur, daß in den aufeinanderfolgenden Zeiten unsere Seelen verschiedene Fähigkeiten aufnehmen, sondern in denselben Zeiten leben die Seelen auch nebeneinander. Dadurch wird in der verschiedensten Weise auf die Seelen gewirkt, und dadurch entsteht eine weitere Komplikation in der Entwickelung. Es wird damit der Mensch-heitsentwickelung mehr gebracht, als wenn alles in gerader Linie fortliefe. In der Tat mußten Vorbereitungen gemacht werden sowohl auf griechisch-lateinischem Boden als auch in unseren Gegenden, damit von den verschiedensten Seiten her in die Kulturentwickelung das Rechte mit hineingebracht wurde. Eine ganz andere Aufgabe hatten die asiatischen und afrikanischen Völker, eine ganz andere die südeuropäischen Völker, und wiederum eine ganz andere Aufgabe hatten die Völker des mittleren und des nördlichen Europa. Sie hatten alle ganz verschiedenes hinzuzubringen zu der Gesamt-Menschheitsentwickelung, und sie konnten verschiedenes hinzubringen, weil ihre Anlagen und ihre ganze Ausbildung eine wesentlich andere war als die der andern.

Wenn wir nämlich unseren Blick richten auf die ägyptisch-chaldäischen Völker, auf die Seelen, welche gerade in der ägyptisch-chaldäischen Kultur ihren Höhepunkt erreichten, so müssen wir sagen: diese Völker entwickelten damals gewisse Fähigkeiten der Ernpfin-dungsseele, welche man eben ganz besonders entwickeln kann, wenn man jene wunderbaren Lehren aufnimmt, die damals aus den ägyptischen Heiligtümern flössen, oder die wunderbare Astrologie, die aus den chaldäischen Heiligtümern kommen konnte. Was aus den verschiedenen Kulturstätten fließt, ist dazu da, die Seelen vorwärtszubringen. Denn im Grunde ist die wahre Bedeutung dessen, was aus den verschiedenen Kulturstätten fließt, nicht dasjenige, was diese Kulturströmungen als Inhalt haben, sondern was sie zur Entwickelung der menschlichen Seele beitragen. Der Inhalt vergeht! Und nur die, welche im tieferen Sinne gar nicht bei Trost sind, können glauben, daß in einigen Jahrhunderten unsere heutige Wissenschaft nicht ebenso hinuntergesunken sein wird in den Schoß der Vergessenheit, wie gewisse Dinge der ägyptisch-chaldäischen Kultur in die Vergessenheit heruntergesunken sind. Wer glauben würde, daß in der kopermkanischen Weltanschauung ewige Errungenschaften gegeben sind, der irrt sich ganz gewaltig; sie wird später ebenso etwas Überwundenes sein wie die Errungenschaften der ägyptischen Kultur heute. Ihrem Inhalte nach gehen diese Dinge vorbei wie auch manches andere in der Menschheitsentwickelung. Wir treten zum Beispiel hin vor jenes wunderbare Bild, welches Ihnen allen wenigstens in Abbildungen bekannt sein wird, das «Abendmahl» von Leonardo da Vinci. Wenn wir es heute in Mailand sehen wollen, sehen wir es nur noch in ganz schwachen Umrissen, und wir wissen, es wird nicht lange dauern, dann wird nichts mehr zu sehen sein von dem, wohinein Leonardo da Vinci seine beste Kraft gelegt hat. Ebensowenig wird später einmal noch etwas zu sehen sein von den herrlichen Werken Raffaels, welche heute die Seele so tief ergreifen, wenn Sie sie auf sich wirken lassen. Alle diese Werke werden in Staub zerfallen, und eine Erinnerung daran wird auf dem physischen Plan nicht mehr da sein. Der Inhalt dieser Werke wie der Inhalt der Kulturen geht in den Tod hinunter. Aber wenn wir zum Beispiel vor diesen Bildern stehen, dann sollen wir daran denken, daß sie Raffaels Seele entflossen sind, und daß Raffaels Seele eine andere geworden ist, nachdem sie diese Bilder aus sich hervorgezaubert hatte, als sie vorher war. Und die Millionen und Millionen von Menschen, die sich daran erheben, nehmen den Inhalt der Bilder in ihre Seelen auf und werden dadurch etwas anderes. Und wenn die ganze Erde einmal in Staub zermalmt sein wird - was sie ganz gewiß sein wird -, dann wird von den äußeren Einrichtungen der Kulturen nichts mehr vorhanden sein, aber was die Seelen aufgenommen haben, das wird in die Ewigkeit mit hinübergehen. Für die Menschenseelen ist das da, was die Kulturen bieten, was aus Ägyptens und Chaldäas Heiligtümern geflossen ist an für die damalige Zeit hehrem Weisheitsinhalt. Vorwärts kommen sollten die Menschenseelen um ein entsprechendes Stück. Und um was sie vorwärts gekommen sind, um das waren sie reifer, wieder neue Güter entgegenzunehmen; jene Güter, die dann in der griechisch-lateinischen Kultur wieder die Seelen um ein Stück vorwärts brachten. Hätten unsere Seelen nicht das aufgenommen, was sie in der griechisch-lateinischen Zeit aufnehmen konnten, so könnten sie sich jetzt nicht in die Bewußtseinsseele hineinleben. Das ist der Fortgang in der Zeit.

Wenn wir uns an manches erinnern, was auch in den öffentlichen Vorträgen gesagt worden ist, so wissen wir, daß in den drei Seelengliedern dasjenige wirkt, was wir das Ich nennen. Aus dem Chaos der seelischen Erlebnisse, die uns in der Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele entgegentreten, entwickelt das Ich sich nach und nach heraus, kristallisiert sich aus all dem heraus, aber nicht in gleicher Weise an den verschiedenen Punkten der Erde. Während zum Beispiel in Asien und Afrika, als die ägyptisch-chaldä-ische Kultur vor sich ging, die Menschen sich so entwickelten, daß sie dort noch lange auf ihre Seele haben wirken lassen die Offenbarungen der chaldäischen und ägyptischen Heiligtümer, hatten die Völker Europas, die davon entfernt waren, sich so entwickelt, daß sie gewissermaßen schon etwas vorausgenommen hatten. In den europäischen Gegenden hatten die Menschen in der Empfmdungsseele schon in gewisser Weise das Ich entwickelt, ein starkes Gefühl, eine starke Empfindung für das Ich.

Hier sind wir an einem ganz unendlich wichtigen Punkt. Nach Asien und Afrika hinüber sind die Menschen gezogen, die mit ihrem Ich warteten zu der Zeit, wo in der Empfindungsseele schon vorher das entwickelt war, was durch die ägyptischen und chaldäischen Heiligtümer entwickelt werden konnte. Da waren in der Gegend der ägyptisch-chaldäischen Kultur Seelen inkarniert, welche mehr oder weniger ohne ein deutliches Gefühl von der Ichheit zu haben, hohe Lehren, eine hohe Kultur aufnahmen. In eine sich ihres Ich noch nicht bewußte Empfindungsseele wird im alten Chaldäa die hohe Kultur, die dazumal bestanden hat, hineinversenkt. Hier im Norden wird nicht eine so hohe Kultur in die Seele versenkt. Da bleibt die Seele mehr oder weniger unkultiviert, aber sie entwickelt dafür in dieser Unkultur, in dieser nicht von irgendwelchen Offenbarungen der Heiligtümer durchglühten Empfindungsseele ein Ich-Bewußtsein. Wir können sagen: Bei den ägyptisch-chaldäischen Völkern verspätet sich das Ich-Bewußtsein, es läßt zuerst die Empfindungsseele eine gewisse Kultur aufnehmen, bis die späteren Seelenglieder entwickelt sein werden. In Europa wartet das Ich nicht, sondern es entwickelt sich schon in der Empfindungsseele. Es wartet aber dafür mit der Aufnahme gewisser Kulturgüter, bis die späteren Seelenglieder entwickelt sein werden. So haben wir in Asien und Afrika solche Seelen verkörpert, die sich ihres Ich noch fast gar nicht bewußt sind, dagegen etwas wie Eingebungen hoher Offenbarungen haben in der Empfindungsseele. In Europa haben wir Seelen, die keine besonders hohe Kultur haben, die aber ihr individuelles Ich betonen, die in sich als Menschen hineinschauen und sich als Menschen fühlen. Zwischen beiden Extremen stehen die griechisch-lateinischen Völker drinnen, welche besonders die Aufgabe hatten, die Fähigkeiten der Verstandesseele zu entwickeln. Bei ihnen war es so, daß sie das Ich in der Verstandesseele entwickelten und auch gleichzeitig gewisse Kulturen in der Verstandesseele aufnehmen konnten. So daß also die ägyptisch-chaldäische Kultur mit dem Ich wartete bis in eine spätere Zeit, während die europäische Kultur dieses Ich frühzeitig entwickelte. In der griechisch-lateinischen Kultur hielt sich das in gewissem Sinne die Waage, da wurde gleichzeitig mit dem Ich eine gewisse Kultur entwickelt.

Damit deuten wir auf ein großes Geheimnis unserer menschlichen Entwickelung, ohne dessen Kenntnis wir niemals verstehen, warum gerade der Christus-Impuls jenen ungehinderten Einfluß und Eingang in Europa gefunden hat.

Warum das? Hätte der Christus in Europa erscheinen können, sich in Europa verkörpern können im Fleische? Nein, das hätte er nicht können. Er erschien in der griechisch-lateinischen Zeit, in welcher die Verstandesseele ausgebildet worden ist. Die war dazu geeignet, gerade den Christus sozusagen entgegenzunehmen. Aber nie hätte der Christus in Europa erscheinen dürfen, weil dort das starke Ich-Gefühl geblieben war. Dieses starke individuelle Ich-Gefühl war nicht geeignet, einen einzigen Menschen zu erzeugen, der vor allen übrigen den Vorzug hatte, daß er allein das Höchste aufnehmen konnte. Ein verfrühtes Ich-Gefühl, ein zu großes Gefühl für die Gleichheit der Menschen hatte sich in den europäischen Ländern entwickelt. Da wäre es unmöglich gewesen, daß eine Persönlichkeit über die anderen so hinausgeragt hätte, wie jene Persönlichkeit über ihre Zeitgenossen hinausragte, die in Palästina das Gefäß bilden sollte für den Christus. So intensiv wie in Europa durfte auf einer frühen Stufe das Ich-Gefühl nicht erscheinen, wenn der Christus einen Körper finden sollte, um sich zu verkörpern. Er mußte also gerade dort erscheinen, wo an der Grenze der ägyptisch-chaldäischen und der griechisch-lateinischen Kultur es möglich war, einen solchen Körper auszubilden, der noch nicht in sich das verfrühte Ich-Gefühl trug, der aber dennoch das tiefste Verständnis hatte für ein Begreifen der geistigen Welt, das aufgenommen war in der ägyptischen und chaldäischen Kultur. Wenn aber Europa nicht die Fähigkeit hatte, den Leib zu liefern für den Christus, so hatte es doch dadurch, daß es zu früh in der Morgenröte des neueren Daseins das Ich ausgebildet hatte, vor allen anderen Errungenschaften das volle Verständnis dafür, nachdem der Christus einmal da war, um den Menschen das volle Bewußtsein vom Ich zu bringen, dieses Ich-Bewußtsein zu begreifen, aus dem Grunde, weil die europäischen Völker das Ich-Gefühl zu früh aufgenommen hatten und mit ihm gleichsam zusammengewachsen waren.

Das müssen wir berücksichtigen, wenn wir den ganzen Aufgang der neueren Kultur verstehen wollen. In Asien und Afrika finden wir Menschen, die viel wissen über die Geheimnisse der Welt, die viel können in der Herstellung gewisser Symbole. Kurz, sie haben ihre Empfindungsseele so kultiviert, daß sie ein reiches Seelenleben haben, aber ihr Ich-Gefühl ist schwach. In Europa finden wir Menschen, die weniger Kultur haben durch das, was man durch Offenbarungen von außen sich aneignen kann, dafür finden wir aber dort den Typus des Menschen, der sich in sich sucht, der in sich die feste Stütze findet. So war in Asien vorbereitet der Boden für die Erscheinung des Christus, dort konnte es einen Leib geben, in den der Christus einziehen konnte; und in Europa finden wir die Menschen am besten vorbereitet zu einem Verständnis für den Bringer des Ich-Bewußtseins. Den europäischen Völkern brachte er das, wonach man gelechzt hatte. Daher entwickelt sich gerade in Europa jene wunderbare Mystik, die den Christus in die eigene Seele, in das Ich aufnehmen wollte: die christliche Mystik.

So wird an den verschiedenen Punkten der Erde die Menschheit vorbereitet durch die weise Lenkung der Welt, daß ein jedes Entwickelungsmoment zu seinem Recht kommt. Das ist eine der großen Errungenschaften der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung, daß man immer mehr das Gefühl erhält, wie weise alles in der Menschheitsentwickelung und in der ganzen Welt eigentlich vor sich gegangen ist, wie durch Jahrtausende auf europäischem Boden die Seelen vorbereitet sind, daß sie so früh wie möglich einen festen Punkt im eigenen Innern hatten, und daß sie, um diesen festen Punkt zu entwickeln, sogar zurückgehalten wurden in den Kräften, die in Asien so hoch ausgebildet waren. Daher nimmt der Kulturstrom von Asien herüber seinen Weg, das starke Gefühl der Ich-Persönlichkeit geht in Europa auf. Ja, wir können geradezu wieder mit Fingern hinweisen darauf, wie das Adriatische Meer fast eine festbestimmte Grenze bildet zwischen einem sogar noch etwas schwächeren Ich-Gefühl in Griechenland einerseits, wo sich der Mensch noch nicht so fühlte als einzelne individuelle Persönlichkeit, sondern mehr als Athener, als Spartaner, Thebaner, angehörig seiner Polis, und zwischen den römischen Kulturgegenden andererseits, wo das starke Ich-Gefühl ganz wesentlich ausgebildet ist im Bewußtsein des römischen Bürgers, der als Persönlichkeit fest steht auf seinem Boden. Da sehen wir in Griechenland noch das im Menschen, was man bezeichnen könnte: Das Ich ist doch noch etwas zurücktretend, es wird doch noch mehr von der Außenwelt entgegengenommen, mehr auf eine Art, wo das Ich nicht dabei zu sein braucht.

Und überschreiten wir das Adriatische Meer, so kommen wir nach Rom und sehen fest auf seinen Beinen stehen, mit dem schon gefühlten Ich, den römischen Bürger. Das alles hängt mit tieferen, mit bedeutsamen Untergründen zusammen. Diese Dinge gehen in der Welt nicht vor sich, ohne daß für die Dinge, welche sich auf dem physischen Plan abspielen, die entsprechenden Ereignisse in der geistigen Welt sich vollziehen. Wir sehen, daß in der griechischen Kultur noch ein starker Einschlag von zurückgehaltenem Ich sich findet. Viel wird dort noch unpersönlich aufgenommen. Der Grieche fühlt sich nicht als einzelner Bürger, sondern als Glied des athenischen, spartanischen oder thebanischen Organismus. Das muß abgestreift werden. Es muß die Sehnsucht des Menschen, von außen entgegenzunehmen, verschwinden, und der Mensch muß seinen Einzug halten in das Innere der Seele, wenn er immer mehr ein abendländischer Mensch wird.

Was die großen Massen bilden soll, das muß vorgelebt werden von den großen Führern, den großen Individualitäten der Menschheit. Da sehen wir, wenn wir etwas vor unsere Seele treten lassen, worauf wir wiederholt hingewiesen haben, daß der Grieche noch ein starkes Bewußtsein hatte, daß dasjenige, was ihm von außen gegeben wird, ohne das Innere seiner Persönlichkeit stark zu entwickeln, ein besonders Wertvolles ist. Noch einmal erinnere ich an den Ausspruch eines hochgebildeten Griechen, der uns tief hineinblicken läßt in das Sehnen des griechischen Volkes: Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt als ein König im Reiche der Schatten! - Noch nicht ist begriffen der große Wert des Unsichtbaren, des übersinnlichen Lebens. Es wird aus der Umgebung herausgeholt, was ohne das Ich herausgeholt werden kann. Und es ist nun tief ergreifend, gerade an diesem Punkt zu sehen, wie an der Wende der Zeiten eine große führende Persönlichkeit wie ein Markstein dasteht, um abzulegen die Gesinnungen des Früheren und aufzunehmen die Gesinnungen des Neueren, um gleichsam weithin schallend für die Geistwelt zu sagen: Jetzt soll eine Zeit kommen, wo nicht mehr bloß aufgenommen werden soll, was ohne das Ich einfließt in die menschliche Persönlichkeit, sondern wo das aufgenommen werden soll, was durch das Ich in die menschliche Persönlichkeit kommt!

Diese Tat hat sich vollzogen in einem der großen Weisen jenes griechischen Altertums, das sich zum Teil abgespielt hat auf der Insel Sizilien, in Empedokles. In mancher Legende, die heute nur so hinerzählt wird, ruht etwas außerordentlich Tiefes. Von Empedokles, dem großen Weisen, der nicht nur ein großer Philosoph war, sondern ein Eingeweihter in die tiefen Geheimnisse der Zeit, der einer der größten Staatsmänner aller Zeiten gewesen ist und zugleich Opferpriester in Agrigent war, von ihm erzählt die Legende, berichtet aber auch die okkulte Wahrheit, daß er, nachdem er seine Aufgabe in Sizilien erfüllt hatte, seinen Leib in den Ätna versenkte, um zu vereinigen seine äußeren Hüllen mit dem Boden Siziliens, um damit gleichsam zu dokumentieren: Jetzt soll kommen der feste Glaube an das Ich, wenn das Äußere auch hinschwindet! - Das Opfer der äußeren Hülle des Empedokles wurde vollbracht damals, als er seine Hüllen hingab dem Ätna. Dahinter liegt eine tiefe okkulte Wahrheit. Für den, der nach Sizilien kommt, wird heute noch unter spirituellen Ereignissen dieses stehen: daß er in der Luft Siziliens, wenn er sie geistig atmet, heute noch die Nachwirkung der Tat des Empedokles findet. Empedokles' Seele hat sich weiter inkarniert; sein Leib hat eine besondere Bedeutung dadurch erhalten, daß er den Elementen bewußt übergeben worden ist, so daß man ihn heute findet in der geistigen Atmosphäre Siziliens. Empedokles' Leib bildet einen Bestandteil der geistigen Atmosphäre Siziliens.

Es war mir ein wichtiger Augenblick - und wir dürfen ja in unserem Zweige auch über solche Dinge miteinander reden -, als ich vor einigen Wochen unseren Palermoer Freunden über ihren Empedokles in der unmittelbaren Nähe jenes Ereignisses dasselbe sagen konnte, was ich Ihnen jetzt sagte: Wer mit Bewußtsein geistig betritt eure Stätte hier in Sizilien, der atmet heute noch geistig dasjenige, was in die Luft Siziliens gekommen ist durch den Opfertod des Empedokles! So sehen wir, wie das, was wir äußerlich, räumlich mit dem Adriatischen Meer andeuten konnten - die Grenze zwischen Ost und West -, angedeutet wird durch einen großen Führer der Menschheit, der, indem er weiter wirken sollte im Westen, dasjenige bewußt abstreift, wodurch man wachsen konnte drüben im Osten, und retten will für die weitere Entwickelung das Bestehen dessen, was erhaben ist über alle Elemente des äußeren physischen Planes.

Es ist etwas Gewaltiges, in diese Unterschiede hineinzuschauen, denn sie zeigen, wie auf getrennten Gebieten auch Getrenntes vorbereitet worden ist, damit in der Mannigfaltigkeit auch das Größte erreicht werden konnte. Durch die Zusammenwirkung des Mannigfaltigsten muß das Ziel der Gesamtentwickelung für die Menschheit erreicht werden. Daraus können wir sehen, daß der Christus, nachdem er im Osten erschienen war, hinüberzog nach dem Westen und dort aufgenommen wurde von denen, die vorbereitet waren mit einem starken Ich-Bewußtsein, um verstehen zu können den Bringer des starken Ich-Bewußtseins. Das war das Geheimnis vom Eintritt des Christus in den Okzident, daß er vorbereitete Seelen fand, und daß ihn diese Seelen aufnahmen. So sehen wir im Osten die Menschheit vorbereiten alles, was möglich macht, daß ein Körper oder eine Leiblichkeit entstehen kann, bestehend aus physischem Leib, Ätherleib und astralischem Leib, in welche der Christus einziehen kann, der durch das Ich-Bewußtsein und mit dem Ich-Bewußtsein den Impuls der Liebe auf die Erde bringt. Die Liebe ist das, was in ihrer seelischsten, geistigsten Form mit dem Christus der Erde gebracht wird. Die Liebe, wie wenn sie entstehen würde sozusagen in ihrer seelisch-geistigen Form im Osten, so betrachten wir sie zuerst; und wie wenn sie sich verbreiten würde nach dem Westen und hier verstanden würde, so betrachten wir die Entwickelung weiter.

Wodurch konnte gerade im Westen das Ich-Bewußtsein so wirken, daß es sich verwandt fühlte mit dem Christus? Was war mit den Seelen geschehen, die frühzeitig das Ich-Bewußtsein aufgenommen hatten? Die ägyptisch-chaldäischen Völker warteten mit der Entwickelung des Ich bis zur Bewußtseinsseele, die griechisch-lateinischen Völker entwickelten das Ich schon in der Verstandes- oder Gemütsseele, die Kultur des europäischen Nordens hat das Ich-Gefühl schon vorzeitig in der Empfindungsseele entwickelt. Da war es früh in der menschlichen Seele darinnen. Es hatte also zusammengewirkt die Empfindungsseele mit dem Ich-Bewußtsein hier in einer ganz anderen Weise als irgendwo in der Welt. In Nordeuropa haben sich zuerst in der Menschheitsentwickelung die Empfindungsseele und das Ich-Bewußtsein durchdrungen. Was war dadurch geschehen, daß sich bei den europäischen Völkern in der Empfindungsseele schon das Ich-Bewußtsein festgesetzt hatte, bevor Christus in die Menschheitsentwickelung eingetreten war, und bevor sie aufgenommen hatten, was sich in Asien entwickelt hatte?

Dadurch war mit der Empfindungsseele eine Kraft der menschlichen Seele entwickelt worden, die sich nur dadurch hatte entwickeln können, daß die Empfindungsseele, die noch ganz jungfräulich war und unbeeinflußt von anderen Kulturen, sich durchdrungen hatte mit dem Ich-Gefühl. Und diese Seelenkraft ist das Gewissen geworden: die Durchdringung von Ich-Gefühl mit Empfindungsseele. Daher das merkwürdig Unschuldige des Gewissens! Wie redet das Gewissen? Es spricht in dem einfachsten, naivsten Menschen wie in der kompliziertesten Seele. Es sagt unmittelbar: Das ist recht! Das ist unrecht! - Ohne eine Theorie, ohne irgendeine Lehre. Mit der Gewalt eines Triebes, eines Instinktes wirkt das, was uns sagt: Das ist recht! Das ist unrecht! - Nirgends sonst finden Sie das, was sich so im Westen entwickelte, in der Art, wie wir es heute auseinandergesetzt haben. Deshalb wirft es seine ersten Strahlen wie eine Morgenröte voraus nach Griechenland und von dort nach Rom, und dort tritt es uns sogar schon sehr stark entgegen. Da finden wir bei den römischen Schriftstellern zuerst das Wort Gewissen: conscientia. Während wir es bei den Griechen nur sporadisch finden, in ersten Andeutungen bei Euripides, finden wir es bei den Römern schon sehr stark hervorgehoben, schon als allgemein gebräuchliches Wort. Das ist der Einfluß jener Kulturströmung, die dadurch entstanden ist, daß Empfindungsseele und Ich-Gefühl sich durchdrungen haben, daß das Ich-Gefühl, das den Menschen hinaufträgt vom Niederen zum Höheren, schon in der Empfindungsseele wie eine Gottesstimme spricht, wie sonst nur Triebe, Begierden und Leidenschaften in der Empfindungsseele sprechen, und dort so spricht mit dem Drang, das Richtige zu tun, um hinaufzudringen zu dem höheren Ich. So sehen wir in der Menschheitsentwickelung bei den europäischen Völkern zuerst das Gewissen entstehen. Von dort strahlt es aus und teilt sich dann den anderen Menschen der Erde mit. So ist durch eine weise Weltenlenkung vorbereitet worden, daß die Menschheit auf einem Punkte so präpariert wurde, daß das Gewissen als ein Beitrag zur Gesamtentwickelung der Menschheit gebracht werden konnte. Damit haben wir im Grunde schon alles gegeben, was uns auch das Gewissen erklärt. Wir haben jenes Undefinierbare des Gewissens gegeben, das Herausdringen des Gewissens aus den Tiefen der Seele. Das Gewissen redet so, wie ein Trieb redet, und es ist doch kein Trieb. Diejenigen Philosophen, die es als Trieb schildern, hauen weit daneben. Es spricht mit derselben Großartigkeit, mit der die Bewußtseinsseele selber spricht, wenn sie auftritt; aber es spricht zugleich mit den elementaren, mit den ursprünglicheren Kräften. So sehen wir, wie auf der Erde drüben im Osten die Liebe auftaucht, hier im Westen das Gewissen. Das sind zwei Dinge, die zusammengehören: wie im Osten der Christus erscheint, wie im Westen das Gewissen erwacht, um den Christus als Gewissen entgegenzunehmen. In diesem gleichzeitigen Entstehen der Tatsache des Christus-Ereignisses und des Verständnisses des Christus-Ereignisses, und in der Vorbereitung dieser zwei Dinge an verschiedenen Punkten der Erde sehen wir walten eine unendliche Weisheit, die in der Entwickelung vorhanden ist. Damit haben wir auf die Vergangenheit des Gewissens hingedeutet.

Wenn wir uns jetzt erinnern an das, was wir oft betont haben, daß wir jetzt, nachdem das Kali Yuga abgelaufen ist, in einem Übergange sind, wo sich neue Kräfte zu entwickeln haben, dann werden wir es begreiflich finden, daß wir heute auch entgegengehen wichtigen Fragen in bezug auf die Entwickelung unseres Gewissens. Wir haben das letzte Mal betont, stark und scharf betont, daß wir entgegengehen einem neuen Christus-Ereignis, indem die Seele fähig werden wird, den Christus in einem gewissen ätherischen Hellsehen wahrzunehmen und das Ereignis von Damaskus m sich wiederzuerleben. Daher dürfen wir die Frage aufwerfen: Wie wird es sein mit dem Parallelereignis, mit der Entwickelung des Gewissens in den Zeiträumen, in die wir uns hineinleben?" (Lit.: GA 116, S. 124ff)

Das Gewissen wird sich künftig zur bewussten karmischen Vorschau weiterentwickeln:

"Parallel gehen wird mit dem Auftreten des Ereignisses von Damaskus bei einer großen Anzahl Menschen im Laufe des 20. Jahrhunderts so etwas, daß die Menschen lernen werden, wenn sie irgendeine Tat im Leben getan haben, aufzuschauen von dieser Tat. Sie werden bedächtiger werden, werden ein innerliches Bild haben von der Tat - zunächst wenige, dann immer mehr und mehr im Laufe der nächsten zwei bis drei Jahrtausende. Nachdem die Menschen etwas getan haben werden, wird das Bild da sein. Sie werden zunächst nicht wissen, was das ist. Die aber Geisteswissenschaft kennengelernt haben, werden sich sagen: Hier habe ich ein Bild! Das ist kein Traum, gar kein Traum, es ist ein Bild dessen, was mir die karmische Erfüllung dieser Tat zeigt, die ich eben getan habe. Das wird einmal geschehen als Erfüllung, als karmischer Ausgleich dessen, was ich eben getan habe! - Das wird im 20. Jahrhundert beginnen. Da wird sich für den Menschen hinzuentwickeln die Fähigkeit, daß er ein Bild hat von einer ganz fernen, noch nicht geschehenen Tat. Das wird sich zeigen als ein inneres Gegenbild seiner Tat, als die karmische Erfüllung, die einmal eintreten wird. Der Mensch wird sich dann sagen: Jetzt habe ich dies getan. Nun wird mir gezeigt, was ich zum Ausgleich tun muß, und was mich immer zurückhalten würde in der Vervollkommnung, wenn ich den Ausgleich nicht vollbringen würde. - Da wird Karma nicht eine bloße Theorie mehr sein, sondern es wird dieses charakterisierte innere Bild erfahren werden.

Solche Fähigkeiten treten nach und nach immer mehr auf. Neue Fähigkeiten entwickeln sich, aber die alten Fähigkeiten sind die Keime für die neuen. Wovon werden es denn die Menschen haben, daß sich das karmische Bild zeigen wird? Davon werden sie es haben, daß die Seele eine gewisse Zeit im Lichte des Gewissens gestanden hat! Das ist ja das Wichtige für die Seele: nicht daß dieses oder jenes äußere Physische erlebt wird, sondern daß die Seele dadurch vollkommener wird. Durch das Gewissen bereitet sich die Seele zu demjenigen vor, was jetzt charakterisiert worden ist. Und je mehr die Menschen gegangen sein werden durch Inkarnationen, wo sie besonders das Gewissen ausgebildet haben, je mehr sie dieses Gewissen in sich pflegen werden, desto mehr werden sie tun, um jene höhere Fähigkeit zu haben, die ihnen im geistigen Schauen selber jene Gottesstimme wieder vorführt, welche die Menschen früher einmal in anderer Weise gehabt haben. Äschylos stellte noch einen solchen Orest dar, der vor sich hatte, was seine schlimmen Taten bewirkten. Orest muß noch ansehen, wie die Wirkung seiner Taten in die Außenwelt hinausgestellt ist. Die neue Fähigkeit, welche sich für die Seele entwickelt, ist eine solche, daß der Mensch in Bildern sehen wird die Wirkung seiner Taten für die Zukunft. Das ist das Neue. Die Entwickelung verläuft immer zyklisch, immer kreisförmig, und was die Menschheit an dem alten Schauen besessen hat, das stellt sich in erneuerter Weise auch wieder ein." (Lit.: GA 116, S. 161ff)

Gedächtnis, Phantasie und Gewissen

Das Gewissen bildet sich im Schlaf durch die Gemeinschaft mit der geistigen Welt im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System und wirkt von dort während des Tages aus dem Unterbewusstsein herauf.

„Aus den Tiefen des wachenden Seelenwesens tönt herauf, was sich während des Schlafens in Gemeinschaft mit der göttlich-geistigen Welt in dieses Seelenwesen hat einpflanzen können. Was heraufklingt, ist die Stimme des Gewissens.

So zeigt sich, wie dasjenige, was eine materialistische Weltansicht am meisten geneigt ist, bloß nach der Naturseite hin zu erklären, für die Geist-Erkenntnis auf der moralischen Seite gelegen ist.

Im Gedächtnis wirkt im wachenden Menschen unmittelbar das göttlich-geistige Wesen; im Gewissen wirkt im wachenden Menschen mittelbar - als Nachwirkung - dieses göttlich-geistige Wesen.

Gedächtnisbildung spielt sich in der Nerven-Sinnesorganisation ab; Gewissensbildung spielt sich als rein seelisch-geistiger Vorgang ab, aber in der Stoffwechsel-Gliedmaßenorganisation.

Zwischen beiden liegt die rhythmische Organisation. Diese ist nach zwei Seiten hin polarisch in ihrer Wirksamkeit ausgebildet. Sie ist als Atmungsrhythmus in inniger Beziehung zur Sinneswahrnehmung und zum Denken. In dem Lungen-Atmen ist der Vorgang am gröbsten; er verfeinert sich und wird als verfeinertes Atmen sinnliches Wahrnehmen und Denken. Was noch dem Atmen ganz nahesteht, aber ein Atmen durch die Sinnes-Organe, nicht durch die Lungen ist, das ist das sinnliche Wahrnehmen. Was dem Lungen-Atmen schon ferner ist und durch die Denkorganisation gestützt wird, das ist Vorstellen, Denken; und was schon nach dem Rhythmus der Blutzirkulation hinübergrenzt, schon ein innerliches Atmen ist, das mit der Gliedmaßen-Stoffwechselorganisation sich verbindet, das offenbart sich in der Phantasie-Tätigkeit.

Diese reicht dann seelisch in die Willens Sphäre, wie der Zirkulationsrhythmus in die Stoffwechsel-Gliedmaßenorganisation reicht.“ (Lit.:GA 26, S. 239f)

„Das, was nur in einem schwachen Abglanz in das Bewußtsein heraufschlägt als Gewissensregungen, als Beurteilungen der eigenen Tätigkeit, das ist im Unterbewußten eine sehr bedeutsame, einschneidende Tätigkeit. Alles, was der Mensch tut, bewertet er auch in seinem unterbewußten Seelenorganismus. In diesem kommt es nur zu einer Bewertung. Aber in dem, was dem Willensteil der Seele entspricht, kommt es noch zu etwas ganz anderem. Da sehen wir im Laufe des Erdenlebens, wie der astralische Leib und das Ich, die diesem Willensteil entsprechen, richtig aufbauen mit den astralischen und den Ich-Kräften des Kosmos eine ein dumpfes Leben führende innere Wesenheit des Menschen. Ja, es ist so: Indem wir innerlich unsere eigenen Fähigkeiten bewerten, gebären wir ein astralisches Wesen aus, das in uns sitzt und immer mehr und mehr wächst. Dieses Wesen enthält nun als Tatsachen jene Bewertungen, und der Gefühlsteil der Seele bewirkt nur, daß die Bewertung gewissermaßen da ist, gleichsam wie ein ideeller Vorgang oder - nach der Zeit, wo es geschehen ist - wie eine unterbewußt ideelle Erinnerung. Nach dem Geschehen entsteht in dem Willensteil etwas, was mehr ist. Das Urteil: Ich habe eine böse Tat vollbracht - wird zu einem Wesen in uns. Wir haben in diesem Wesen etwas in uns, das tatsächlich realisierte Bewertung des tätigen Menschen ist.“ (Lit.:GA 215, S. 164f)

„Ehe der Mensch die eigentliche geistige Welt betritt, das heißt, in das Zusammenleben mit anderen Menschenseelen kommt, die nicht verkörpert sind, die auch in einem ähnlichen Zustande sind - er lebt übrigens schon früher mit solchen Seelen zusammen - , aber namentlich ehe er eintreten kann in das Zusammenleben mit denjenigen geistigen Wesenheiten höchster Art, die in den Sternenkonstellationen ihr physisches Abbild haben, muß er im Bereiche der Mondensphäre die Wesenheit zurücklassen, die seine moralische Bewertung ausmacht. Er muß ohne sie in die Region eintreten, die nicht die Mondenregion, sondern die Sternenregion ist, in welcher aus dem Zusammensein mit anderen geistigen Wesenheiten höchster Art sich die Kräfte ihm in der Seele ergeben, durch die er nun wirklich den Geistteii des künftigen menschlichen physischen Organismus vorbereiten, erarbeiten kann.“ (S. 176)

„Das ist das Wesentliche im Neu-Erleben des nachtodlichen Mondensphären- Erlebens, daß es da im kosmischen Dasein einen Augenblick gibt, wo der Mensch in selbständiger Weise sein Schicksal, sein Karma, mit seiner fortschreitenden Wesenheit in Zusammenhang bringt. Und das irdische Abbild dieser im Überirdischen vollbrachten Tat im nachherigen irdischen Leben ist die menschliche Freiheit, das Freiheitsgefühl während des Erdendaseins. Das richtige Verstehen der Schicksalsidee und ihr Verfolgen bis in die geistigen Welten hinauf begründet nicht eine Determinationsphilosophie, sondern eine wirkliche Philosophie der Freiheit, wie ich sie in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in meinem Buche «Philosophie der Freiheit» zu geben hatte.“ (S. 178)

„Und so könnte man eigentlich auf Grundlage der geisteswissenschaftlichen Beobachtung das Folgende sagen: Der Mensch stellt tatsächlich jede Nacht, indem er schläft, an eine andere Welt, an die geistig-seelische Welt, eine ganz bestimmte Anfrage. Er stellt sie natürlich nicht bewußt, aber er stellt sie mit dem Teil seines Wesens, der dann heraustritt aus seinem physischen und aus seinem Ätherleib. Er stellt die Anfrage an die geistige Welt: Wie nimmt sich vor den Wesen der geistigen Welt meine moralische Seelenverfassung aus?

Und es wird ihm die Antwort gegeben. Sie wird ihm dadurch gegeben, daß er, je nachdem wie seine moralische Seelengestaltung ist, die Furchengestaltung und die Tingierung bekommt. Jeden Morgen, wenn der Mensch aufwacht, tritt er in die physische und ätherische Körperlichkeit hinein mit einer Antwort aus der geistig-seelischen Welt. Jedes Einschlafen ist eine Fragestellung, eine unbewußte Fragestellung an die geistige Welt, jedes Aufwachen ist ein unbewußtes Antwortgeben aus der geistigen Welt. Wir stehen fortwährend gewissermaßen mit unserem Unterbewußtsein mit der geistigen Welt in einer Korrespondenz, indem wir aus dieser geistigen Welt heraus uns die Antworten darüber holen, wie wir innerlich als Mensch eigentlich sind.

Und hier bekommen Sie eine Anschauung über etwas, was ja sonst immer außerordentlich abstrakt bleibt. Denken Sie doch, wenn der Mensch von seinem Gewissen spricht, dann spricht er von diesem Gewissen als etwas sehr Realem; wenn er aber irgendeine bestimmte Anschauung von seinem Gewissen geben soll, dann kommt er sogleich ins Unbestimmte. In bezug auf die moralische Impulsivität ist das Gewissen etwas sehr real Erlebtes in uns. Wenn man in Gemäßheit der äußeren Wissenschaft ebenso über das Gewissen nachdenkt, wie man etwa über Wärme oder Licht und dergleichen nachdenkt, dann fällt man ins Chaotische hinein. Man kommt zu keinen bestimmten Ansichten. Hier bekommen Sie eine bestimmte Ansicht. Hier bekommen Sie die Ansicht, daß Sie auf Ihre moralische Seelenverfassung fortwährend Antwort bekommen aus der geistigen Welt. Sie tragen das, was die geistige Welt an Ihnen gestaltet, herein in Ihr physisches und Ihr ätherisches Dasein. Damit tragen Sie die Stimme des Gewissens herein. Im wachen Leben verwandelt sich das, was man als Antwort bekommt in Gestaltung und Tingierung, in die Stimme des Gewissens. Überhaupt alles, was unsere innerliche moralische Stimmung ist, müssen wir aus solchen Erkenntnissen heraus auf den Schlafzustand beziehen.“ (Lit.:GA 208, S. 185f)

„Auch hier gibt es wieder eine Art von Übergang, nur ist derselbe nicht so leicht zu bemerken wie der Übergang, der vom Vorstellen durch die Phantasie zur Imagination führt. Dieser Übergang tritt dann ein, wenn der Mensch lernt, so auf sich achtzugeben, daß er nicht nur in die Lage kommt, irgend etwas zu wollen und dann die Handlung daranzuschließen - und sozusagen klaffend nebeneinanderstehend hat Gedanken und Handlung -, sondern wenn er beginnt, seine Gemütsbewegungen selber über die Qualität der Handlungen auszudehnen.

Das ist etwas in vielen Fällen sogar recht Mißliches; aber es tritt im Leben doch ein, daß man, indem man handelt, eine Art Wohlgefallen oder Ekelgefühl an seinen eigenen Handlungen haben kann. Ich glaube nicht, daß ein unbefangener Beobachter des Lebens leugnen kann, daß man die Gemütsbewegungen erweitern kann bis zu einer Art Hereinströmen-Lassen der Eigenschaften der eigenen Zustände in die Handlungen, so daß man innerhalb der Gemütsbewegungen auch vorhanden hat, was man als Sympathie oder Antipathie an einer Handlung bezeichnen kann. Aber steigern kann sich auch dieses Miterleben seiner eigenen Handlungen in den Gemütsbewegungen. Und wenn es sich steigert,,wenn es auftritt als das, als was es eigentlich auftreten soll, dann haben wir an dem Übergang zwischen den Gemütsbewegungen und der Intuition dasjenige gegeben, was wir nennen können das menschliche Gewissen, also die Gewissensregungen [es wird «Gewissensregung» angeschrieben]. Das Gewissen ist etwas, was in diesem Übergänge sitzt, wenn wir es seiner Stelle nach suchen. Deshalb können wir sagen: Eigentlich ist unsere Seele nach zwei Seiten hin offen, nach der Seite der Imagination und nach der Seite der Intuition, und die Seele ist geschlossen nach der Seite, wo wir gleichsam aufstoßen durch die Wahrnehmung auf die äußere Körperlichkeit. Sie kommt in eine Erfüllung, wenn sie sich in das Reich der Imaginationen hineinbegibt, und sie kommt auch in eine Erfüllung, und zwar mit einem Geschehen, wenn sie sich ins Reich der Intuition hineinbegibt.“ (Lit.:GA 115, S. 275f)

Zeichnung aus GA 115, S. 276
Zeichnung aus GA 115, S. 276

Das Herz als Sitz des Gewissens

„Was sind eigentlich diese sinnlichen Wahrnehmungen? Sie enthalten in sich auch dasjenige, was wir mit dem höheren Bewußtsein erlangen können: Die Imaginationen, die Bilder der höheren Realität; die Inspirationen, wodurch geistige Wesen sich uns offenbaren; die Intuitionen, wodurch wir eins werden mit den göttlichen Wesen. Das alles ist in der Wahrnehmung enthalten, aber es kommt nicht in uns herein, und wenn wir verfolgen, warum das so ist, dann finden wir, daß es Luzifer ist, der es verbrennt mit dem Feuer der Leidenschaften, Triebe und Begierden. In dem Herzen hat Luzifer seinen Sitz aufgeschlagen, und da vollzieht sich das Verbrennen der Imaginationen, Inspirationen, Intuitionen, die all dem Sinnlichen zugrunde liegen, denn mit jedem Atemzug, mit jeder Wahrnehmung dringen die Bilder der geistigen Wesen in uns hinein. Im Anfang der lemurischen Zeit, als sich dasjenige abspielte, was die Bibel schildert als den Kampf zwischen den Elohim und Luzifer, hat dieser sich mit seinem Feuer in das Herz der Menschen hineingemischt.

Das Herz war aber vorbestimmt, etwas ganz anderes zu sein; es war von den Elohim dazu geschaffen worden, um ihr Wohnort zu sein. Etwas kann klein sein in der physischen Welt und ein Großes in der geistigen Welt, und auch umgekehrt. So ist das Herz physisch nur ein kleines Ding und der Anatom glaubt, daß es noch dasselbe Ding wäre, wenn es aus dem Körper herausgenommen wird, aber in Wirklichkeit ist das Herz etwas sehr Großes in der geistigen Welt und war bestimmt, die Wohnstätte der Elohim zu sein. Als Luzifer in das menschliche Herz einzog, haben die Elohim aber eine Stelle für sich bewahrt, dort können sie immer noch wohnen, und das äußert sich im Menschenleben als die Stimme des Gewissens. Wo diese spricht, da spricht etwas, was nicht zu Luzifer mit seinem verzehrenden Feuer gehört, in ihr gelangt noch eine unmittelbare Götterinspiration zum Menschen. Und wir sehen, daß in wichtigen Zeitpunkten der Menschheitsgeschichte diese Stimme des Gewissens objektiv für Menschen geworden ist und vor ihnen gestanden hat. So war es mit Moses, auf dessen Seele das Schicksal seines ganzen Volkes drückte. Er bestieg den Berg Sinai. In dem brennenden Dornbusch (d. h. in dem Feuer, das Luzifer entzündet hat) vernahm er die Stimme seines Gottes, der ihm später auf Sinai die Gebote gab, die zur Grundlage aller späteren menschlichen Gesetze geworden sind.

Nachdem Luzifer sich in dieser Weise des menschlichen Herzens bemächtigt hatte, mußten die Elohim ein Gegengewicht auf die andere Schale der kosmischen Weltenordnung legen, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Das geschah in der atlantischen Zeit, als durch die Elohim Ahriman mit aller Munition verschanzt wurde im menschlichen Gehirn, um dort seine kühlende Wirkung gegen das luziferische Feuer zu bringen. Und dasjenige, was Ahriman abkühlt von dem Feuer, das die Imaginationen, Inspirationen, Intuitionen der Wahrnehmungen verbrennt, das wird im Menschen zu Gedanken, zu Vorstellungen. (Eines gibt es, das ganz besonders Brennmaterial für den Luzifer ist, und das ist Lieblosigkeit.)

Diese Erkenntnis, daß Luzifer mit seinem Feuer in unserem Herzen thront, und Ahriman dieses Feuer abkühlt in dem Haupte, haben die alten Eingeweihten immer gehabt, und einen letzten Rest findet man bei Aristoteles (der selber nicht mehr hellsehend war), der sagte, daß von dem Herzen Wärme ausgehe nach dem Kopfe und dort abgekühlt werde.

Nun könnte man einwenden: Es ist doch sonderbar, was gesagt wird: daß Luzifer und die Gottheit beide in unserem Herzen wohnen! Es klingt so, als ob es nur ein Herz in der Welt gäbe, und dabei gibt es doch so viele Herzen wie es Menschen gibt: Ja, da geraten wir auf ein Rätsel, das nur eines der kleineren Rätsel ist, denen der Okkultist begegnet, das Rätsel: Wie ist das Eine viel geworden? Es liegt nicht in der Absicht, hier die Lösung dieses Rätsels zu geben; man kann aber versuchen, durch meditierendes Nachdenken immer weiter in dasselbe einzudringen.“ (Lit.:GA 266c, S. 321ff)

Gewissen und geistiger Schulungsweg

„Wir sollen in unserem physischen Dasein alles das, was uns vom Schicksal auferlegt ist, mit Gelassenheit ertragen und die Empfindung lernen, als ginge einen selbst dieses alles gar nichts an, sondern so ruhig und gelassen hinnehmen, als wäre unser Körper uns selbst fremd. Ebenso müssen wir auch in uns das Gefühl erwecken, nicht daß wir dazu ausersehen sind, Fortschritte zu machen, sondern uns auch ebenso freuen können über die Fortschritte anderer wie über unsere eigenen. Für die Weltentwicklung ist es ganz einerlei, wer die Fortschritte macht, aber für uns ist die Bekämpfung, die Umwandlung des Egoismus der wesentliche Faktor.

Das Gefühl des Sich-selbst-ausschalten-Könnens ist der eine Pol der Bewußtseinsseele. Der Gegenpol aber, der hineinragt aus der geistigen Welt, ist das Gewissen. Dieses hält uns jetzt zurück, wenn wir Handlungen begehen wollen, die nicht übereinstimmen mit den moralischen Gesetzen. Wir müssen uns lenken und leiten lassen von unserem Gewissen und nicht nach den Prinzipien des großen Staatsmannes handeln, von dem man sagt, daß er, obgleich er sich anscheinend von seinen Pferden führen ließ, diese Pferde doch lenkte, wie er wollte, und ihnen die Richtung gab. Wir müssen auf dem physischen Plan achtgeben, damit wir das Gewissen in der richtigen Weise ausbilden, denn nur das, was man sich erworben hat, kann man mitnehmen in die geistigen Welten. Aber das Gewissen ändert sich auch durch unsere Meditationen. Es gibt eine Stufe, und diese ist die schwerste Stufe für den Okkultisten: das «Gewissenlos-Werden». Da muß aber der Mensch schon weit vorgeschritten sein und alles aus seiner Seele herausgeräumt haben; Eitelkeit und Ehrgeiz, diese allerschlimmsten Seelenkräfte, die den Menschen immer und immer wieder zu Fall bringen können, die muß er vollständig umgewandelt haben.

«Gewissenlos» sein ist nur ein sich ganz leibfrei fühlen im Sinne der höheren Selbsterkenntnis, um sich nur dann als ein Zentrum fühlen zu können für das Aufnehmen der Wahrheiten aus der geistigen Welt.“ (Lit.:GA 266b, S. 437f)

Gewissen und Intuition

Siehe auch: Moralische Intuition

„Man kann sehr leicht den Ausdruck Intuition mißverstehen, weil zum Beispiel derjenige, der Phantasie hat, der dichterisches Vermögen hat, die gefühlsmäßigen Empfindungen von der Welt, die er hat, auch schon Intuition nennt. Aber das ist eine dunkle, bloß gefühlte Intuition. Sie ist aber doch verwandt mit demjenigen, was ich Intuition hier nenne. Denn wie der Mensch vollständig hier als Erdenmensch seine sinnliche Wahrnehmung hat, so hat er einen Abglanz der höchsten Art der Erkenntnis der Intuition durch das irdische Gefühl und den irdischen Willen. Er würde sonst kein sittliches Wesen sein können. So daß dasjenige, was sich dunkel, ahnungsvoll für den Menschen im Gewissen kundgibt, ein Abglanz ist, gewissermaßen ein Schattenbild des Höchsten, das nun erst in der wahren Intuition, in der höchsten dem Menschen zunächst als Erdenmenschen möglichen Erkenntnisart erscheint.

Der Mensch hat wirklich als Erdenmensch etwas von dem Untersten, und wiederum ein Schattenbild des Obersten, das erst in der Intuition erreichbar ist. Gerade die mittleren Gebiete fehlen ihm zunächst vollständig als Erdenmenschen. Die muß er sich erwerben: Imagination und Inspiration. Die Intuition in der reinen, lichtvollen Innerlichkeit muß er sich auch erwerben; aber er hat gerade in der sittlichen Empfindung, im Inhalt des sittlichen Gewissens ein irdisches Abbild desjenigen, was dann als Intuition auftritt. So daß man auch sagen kann: Wenn der Mensch als ein Initiierter, Erkennender zu einem wirklichen intuitiven Erkennen der Welt aufsteigt, so wird ihm die Welt, die er sonst nur in Naturgesetzen kennt, so innerlich, so mit ihm verbunden, wie für ihn als Erdenmenschen sonst nur die sittliche Welt ist. Und das ist gerade das Bedeutsame in der Menschenwesenheit auf Erden, daß wir wie mit einem innersten dunklen Erahnen hängen an dem Allerhöchsten, was wiederum nur der entwickelten Erkenntnis in seiner wahren Gestalt zugänglich ist.

Der dritte Schritt des höheren Erkennens, der notwendig ist, um in die Region der Intuition zu kommen, der kann nur durch die höchste Ausbildung einer inneren Fähigkeit erlangt werden, die man in der heutigen materialistischen Zeit überhaupt nicht zu den Erkenntniskräften rechnet. Nur durch die höchste Ausbildung und Vergeistigung der Liebefähigkeit kann dasjenige errungen werden, was in Intuition sich offenbart. Es muß dem Menschen möglich werden, die Liebefähigkeit zu einer Erkenntniskraft zu machen. Wir bereiten uns schon gut auf diese vergeistigte Liebefähigkeit vor, wenn wir uns in einer gewissen Weise losreißen von unserem Hängen an den äußeren Dingen, wenn wir zum Beispiel zur regelmäßigen Übung machen, die Dinge, die wir erlebt haben, nicht in der Erlebnisfolge vorzustellen, sondern rückwärts verlaufend.

Wir sind ja mit unserem passiven Denken ganz - ich möchte sagen wie Menschensklaven - hingegeben an die Ereignisse der Welt. Ich habe schon gestern gesagt: Wir denken auch im Gedankenbilden das Frühere früher, das Spätere später. Wenn wir ein Drama auf der Bühne ablaufen sehen, dann hat es zuerst den ersten Akt, den zweiten, dritten, vierten, fünften Akt. Wenn wir uns aber dazu aufschwingen können, ganz am Ende anzufangen mit dem Vorstellen, dann dasjenige, was unmittelbar früher war, dann dasjenige, was im Anfange des fünften Aktes ist, dann zurückgehen zum vierten Akt, dann zurückgehen zum dritten, zum zweiten, zum ersten Akt, dann reißen wir uns ganz los von dem Verlauf, den die Welt äußerlich hat. Wir stellen rückwärts vor. So verläuft die Welt nicht. Wir müssen eine bedeutende, rein aus dem Innern herausgeholte Kraftanstrengung vollbringen, um rein rückwärts vorzustellen. Dadurch reißen wir die innere Tätigkeit unserer Seele los von dem Gängelbande, an dem wir sonst fortwährend gezogen werden, und dadurch bringen wir dieses innere geistig-seelische Erleben allmählich bis zu jenem Punkt, wo sich das Geistig-Seelische wirklich losreißt vom Körperlichen und auch vom Ätherischen.“ (Lit.:GA 227, S. 59)

Der wahre Ursprung der Stimme des Gewissens liegt in der Welt der Cherubim:

„Die Stimme des Gewissens! Aber diese Stimme des Gewissens, sie tönt in einer unbestimmten Weise aus dem menschlichen Wesen in das Bewußtsein herein. Der Mensch kennt gewöhnlich nicht recht dasjenige, was da in bezug auf sein moralisch-seelisches Verhalten aus geheimnisvollen Untergründen der Seele herauftönt und was er die Stimme seines Gewissens nennt. Man kommt eben nicht so tief in das eigene Wesen mit dem gewöhnlichen Bewußtsein hinunter, daß man die Stimme des Gewissens erreicht. Sie kommt herauf, aber der Mensch erreicht sie nicht. Und so schaut er sie nicht von Seelenangesicht zu Seelenangesicht.

Und wenn der Mensch dann meditierend vordringt bis zu der weiteren Welt der Cherubine, der weisheitsvollen Wesen, die die Welt durchweben und durchleben, dann macht er die große Entdeckung, wie aus der Welt der Cherubine in ihn hereindringt ein Weltenwirken, innerhalb dessen die Stimme des Gewissens lebt. Oh, die Stimme des Gewissens ist von hohem Ursprung, hoher Wesenheit. Sie lebt eigentlich in der Welt der Cherubine. Aus dieser Welt der Cherubine webt sie sich hinein in das Menschenwesen und tönt aus den Tiefen dieses Menschenwesens unbestimmt zunächst herauf. Aber es ist eine große, gewaltige Begegnung, wenn der Mensch im Intuitionsleben, da, wo er sich in Verbindung setzen kann mit dem Feld der Cherubine, der Welt begegnet, in der sein Gewissen west und webt. Es ist die größte persönliche Entdeckung, die der Mensch machen kann.“ (Lit.:GA 270b, S. 70f)

Gewissen und Leben nach dem Tod

„Das, was nach dem Tode im Kamaloka am wirksamsten ist, sind die Gemütsbewegungen und moralischen Impulse. Vorstellungen über die Sinneswelt sterben ab, nur die von Übersinnlichem kann der Mensch mitnehmen. Dagegen verfolgen uns die Gemütsbewegungen nach dem Tode ganz gewaltig und bleiben. Denn sie sind es, die uns eine gewisse Zeit im Kamaloka halten. Zum Beispiel ein Mensch, der ganz schlecht wäre, würde durch seine Gewissensbisse zwischen Tod und neuer Geburt überhaupt nicht ins Devachan hinaufkommen können, sondern müßte sich ohne das wieder inkarnieren. Ohne moralische Regungen würde er nicht hinaufkommen in die höhere Devachanwelt; er würde in kurzer Zeit wiederkommen und nachholen müssen. Da er keine guten Gemütsbewegungen hatte, ist ihm auch das niedere Devachan verschlossen.“ (Lit.:GA 143, S. 36)

Das Gewissen als physischer Leib des in der Menschheitsentwicklung fortwirkenden Christus-Impulses

Seit der Jordan-Taufe lebte der Christus in den Leibeshüllen des Jesus von Nazareth, also in dessen Astralleib, Ätherleib und physischem Leib. Mit dem Kreuzestod legte er diese Hüllen ab. Von da an bis zum Ende der Erdentwicklung bilden sich seine neuen Hüllen aus dem, was die Menschen an Erstaunen, an Liebe und Mitleid und als Gewissen entwickeln. Aus dem Staunen der Menschen wird der neue Astralleib des Christus gewoben, aus Liebe und Mitleid sein neuer Ätherleib und aus den Gewissenskräften entsteht sein neuer physischer Leib.

„Aus dem, was nur aus der Erde genommen werden kann. Was sich in der Menschheitsentwickelung, die mit dem Mysterium von Golgatha begonnen hat, auf der Erde auslebt seit dem vierten nachatlantischen Kulturzeitraum an Erstaunen oder Verwunderung über die Dinge, alles was in uns leben kann als Erstaunen und Verwunderung, das geht endlich an den Christus heran und bildet mit den Astralleib des Christus-Impulses. Und alles, was in den Menschenseelen Platz greift als Liebe und Mitleid, das bildet den ätherischen Leib des Christus-Impulses, und was als Gewissen in den Menschen lebt und sie beseelt, von dem Mysterium von Golgatha bis zum Erdenziele hin, das formt den physischen Leib oder das, was ihm entspricht, für den Christus-Impuls.“ (Lit.:GA 133, S. 113f)

Literatur

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Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.