Kontingenz

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Kontingenz (griech. τὰ ἐνδεχόμενα, endechómena, "etwas, das möglich ist"; lat. contingentia, "Möglichkeit, Zufall") bezeichnet ganz allgemein einen Zustand, der, so wie er gegeben ist, zwar möglich ist, aber keineswegs notwendig so und nicht anders sein muss. Alles, was kontingent ist, könnte auch anders oder gar nicht sein und erscheint in diesem Sinn als Zufall. Gäbe es keinen Zufall, würde alles Weltgeschehen mit zwingender Notwendigkeit, also streng deterministisch ablaufen. In dieser Art vom Zufall zu sprechen, ist aber nur berechtigt, solange man bei einer rein äußerlichen, nur das physische Geschehen umfassenden Betrachtung stehen bleibt. Bezieht man auch höhere Welten, also etwa die Ätherwelt, die Astralwelt und die geistige Welt ein, enthüllen sich übergeordnete Gesetzmäßigkeiten, die letztlich aus den Taten geistiger Wesenheiten resultieren. Das anzuerkennen erfordert Erkenntnismut, der aber für eine weitere fruchtbare Entfaltung der Wissenschaft aufgebracht werden muss.

Naturgesetze anerkennen, die in den chemischen, in den physikalischen Vorgängen wirken, das ist ein Mut, der ja da ist, den die Menschen haben, und er soll ihnen nicht abgesprochen werden; aber er ist billig. Denn die Welt läßt sich nicht leicht als eine bloße Zufälligkeit betrachten, insofern man es mit Naturtatsachen zu tun hat. Aber der Mut verdunstet gegenüber den Dingen, die man gewöhnlich als zufällig bezeichnet, wo der Mensch gerade stark sein sollte - nämlich dem Zufall gegenüber - und sich sagen sollte: Da treten mir in einer gewissen Sphäre Ereignisse gegenüber, welche sich scheinbar sinnlos zusammenschließen; ich werde einen tieferen Sinn darin suchen. - Hineintragen den Sinn in die äußere Zufälligkeit, das hieße, sich mit starker Seele den äußeren Zeichen entgegenwerfen, so daß der Mut auch andauerte gegenüber den scheinbar zufälligen Ereignissen. So daß also das heutige Phantasieren gegenüber dem Zufall aus einer inneren Schwäche stammt, weil sich der Mensch nicht getraut gegenüber den Dingen, die er heute Zufall nennt, ein Gesetz anzuerkennen. Das ist etwas, was man bezeichnen darf als wissenschaftliche Feigheit, als Feigheit der Wissenschaft gegenüber dem Zufall: stehenzubleiben und nicht den Mut zu haben, in das, was sich als ein bloßes wirres Chaos darbietet, die Gesetze hineinzutragen, weil das Gesetz sich nicht selbst anbietet und dazu zwingt, es aus innerem Mut hineinzutragen. Daher muß entgegentreten der mutlosen Wissenschaft, die sich heute bloß auf Naturgesetze ausdehnen will, die mutvolle, starke, kühne Wissenschaft des Geistes, welche die innere Seele so belebt, daß in das scheinbare Chaos der Zufälligkeiten Gesetz und Ordnung hineingebracht wird. Und das ist diejenige Seite der Geisteswissenschaft, von der man sagen muß: Der Mensch soll durch sie stark werden, um nicht bloß dort Gesetzmäßigkeiten anzuerkennen, wo die äußeren Verhältnisse zu Stärke und Mut zwingen, sondern auch dort, wo er sein Inneres aufrufen muß, um so zu sprechen, wie sonst nur die Naturereignisse mit ihrem Zwange zu ihm sprechen.“ (Lit.:GA 133, S. 53f)

Warum viele Wissenschaftler, namentlich Neurowissenschaftler, diesen Erkenntnismut nicht aufbringen wollen, beschreibt der amerikanische Philosoph John Searle wie folgt:

„Wenn man den tiefsten Beweggrund des Materialismus bezeichnen wollte, dann könnte man wohl sagen, daß es einfach ein horror conscientiae[1] ist. Doch weshalb? Warum sollten sich Materialisten vor dem Bewußtsein fürchten? Warum nehmen sie das Bewußtsein nicht an als eine weitere materielle Eigenschaft unter vielen anderen? Einige unter ihnen - Armstrong und Dennett zum Beispiel - behaupten, genau das täten sie. Aber sie tun es, indem sie für »Bewußtsein« eine neue Definition geben, mit der das zentrale Merkmal von Bewußtsein bestritten wird: seine subjektive Qualität. Der tiefste Grund für die Angst vor dem Bewußtsein ist, daß Bewußtsein das von sich aus furchteinflößende Merkmal der Subjektivität hat. Es widerstrebt Materialisten, dieses Merkmal zu akzeptieren, weil sie glauben, daß die Existenz eines subjektiven Bewußtseins sich nicht vertrüge mit der Welt, wie sie sich in ihrer Konzeption ausnimmt. Viele denken, daß man angesichts der naturwissenschaftlichen Entdeckungen nur noch eine Konzeption der Wirklichkeit haben kann, in der die Existenz von Subjektivität bestritten wird. Wie beim »Bewußtsein« kann man sich auch hier wiederum damit behelfen, daß man »Subjektivität« so umdefiniert, daß dieses Wort nicht mehr Subjektivität bedeutet, sondern irgend etwas Objektives...“ (Lit.: Searle, S. 72f)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. horror conscientiae „Angst vor dem Bewusstsein“