Partikulargericht

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Das Partikulargericht ist eine Denkfigur in der christlichen Theologie. Es ist die Abwägung der guten und bösen Taten eines Menschen unmittelbar nach dessen Tod und noch vor dem Jüngsten Gericht. Die zentrale Figur ist dabei häufig der Erzengel Michael mit seiner Seelenwaage.

Michael als Seelenwäger (Pfarrkirche Aulzhausen)

Problemstellung

Am Ende aller Zeiten werden nach christlichem Glauben die Toten auferstehen, um vor den Richter gestellt zu werden - was aber passiert zwischen dem Tod des Einzelnen und dem Jüngsten Gericht, das die gesamte Menschheit betrifft? Befinden sich Gute und Böse bis dahin am selben Ort, um dort gemeinsam den Jüngsten Tag abzuwarten? Wäre das nicht eine für die Guten unzumutbare Situation?

Problemstellungen wie diese führten dazu, dass sich die Aufmerksamkeit der Scholastik zunehmend auf das Gericht über den Einzelnen nach dessen individuellem Tod konzentrierte, was die Schaffung eines zweiten Gerichts, des Partikulargerichts, zur Folge hatte.

Partikulargericht und Jüngstes Gericht

Thomas von Aquin (1225-1274) verteidigte diese Idee in seiner Summa theologica ausdrücklich. Jeder Mensch sei sowohl Einzelperson als auch Teil des ganzen Menschengeschlechtes. Daher gebühre ihm ein doppeltes Gericht.

Der Hauptunterschied zwischen Partikulargericht und Jüngstem Gericht ist die Tatsache, dass das Partikulargericht direkt nach dem Tod jedes Individuums und nicht erst am Jüngsten Tag stattfindet. Es handelt sich hierbei um Gottes Gericht über die Seele, das nicht - wie das Jüngste Gericht - mit der Auferstehung des Leibes verbunden ist. Das Partikulargericht wird in den biblischen Schriften nicht direkt erwähnt, sondern ist ein Gedankenmodell, das von verschiedenen Kirchenvätern in einer Interpretation biblischer Textstellen entwickelt wurde.

Die Seelen der Heiligen, der Apostel, Märtyrer und Bekenner, die in ihrem Leben ihren christlichen Glauben bewiesen hatten, werden beim Partikulargericht direkt, ohne Gerichtsverfahren, in den Himmel geschickt.

Der richtende Gott entscheidet auch über das Schicksal derer, die sündig gelebt hatten. Diese werden in die Hölle verdammt, aus der es kein Entrinnen gibt. Sie werden dort bis in alle Ewigkeit gepeinigt und gequält werden.

Für die Delinquenten mit minder schwerwiegendem Sündenregister gibt es Hoffnung. Sie werden beim Partikulargericht dazu verurteilt, eine an ihren Vergehen gemessene Zeit im Fegefeuer zu verbringen. Beim Partikulargericht gibt es also drei mögliche Gerichtsentscheide: der Verstorbene wird in den Himmel, in die Hölle oder ins Fegefeuer geschickt. Das Urteil, das beim Partikulargericht gefällt wird, antizipiert das Urteil des Jüngsten Gerichts, wenn es um die Entscheidung Gut oder Böse geht. Die Möglichkeit, Seelen ins Fegefeuer zu schicken, bleibt dem individuellen Gericht vorbehalten (vgl. Arme Seelen).

Kontroverse Interpretationen

Philippe Ariès vertritt die These, dass das Partikulargericht im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts an Bedeutung gewonnen und das Jüngste Gericht von seinem vorrangigen Platz verdrängt hat. Den Grund dafür sieht Ariès in der wachsenden Bedeutung des Individuums, das sich im Spätmittelalter zunehmend für seinen eigenen Tod interessiert. Diese Veränderung belegt Ariès beispielsweise mit der großen Verbreitung von Ars moriendi-Traktaten, die zur Vorbereitung auf einen friedlichen Tod in großer Menge kursierten und sich größter Beliebtheit erfreuten.

Eine kontroverse Position vertritt der russische Historiker Aron Gurewitsch. Er ist der Meinung, dass beide Gerichte - Jüngstes Gericht und Partikulargericht - während des gesamten Mittelalters unabhängig voneinander koexistierten. Gurewitsch spricht von einer "paradoxen Koexistenz" zwischen der, wie er sie nennt, "kleinen Eschatologie" und der "großen Eschatologie", die jedes Individuum in zweifacher Weise betrifft: wenn es um sein eigenes Schicksal geht und zugleich für ihn als Mitglied der Gemeinschaft, die am Jüngsten Tag gerichtet wird.

Jacques Le Goff sieht dagegen keine Konkurrenz zwischen den beiden Gerichten. Für ihn vollzog sich die Entstehung des Partikulargerichts am Ende des 12. Jahrhunderts analog zur Entstehung des Fegefeuers. Beide Phänomene haben dieselbe gesellschaftspolitische Wurzel und sind für ihn ebenfalls ein Phänomen des zunehmenden Interesses der Menschen an ihrem individuellen Tod.

Siehe auch

Literatur


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