Pherekydes von Syros

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Pherekydes von Syros (griech. Φερεκύδης Pherekýdēs; * zwischen 584 und 581 v. Chr. auf der Insel Syros) war ein antiker griechischer Mythograph und Kosmologe in der Zeit der Vorsokratiker.

Leben und Werk

Die früher strittige Frage von Pherekydes' Lebenszeit ist heute geklärt, da die Geburt in die 49. Olympiade (Zeitraum 584–581 v. Chr.) datiert werden kann.[1] Er war ein etwas jüngerer Zeitgenosse der Sieben Weisen. Der antiken – wohl glaubwürdigen – Tradition zufolge war er der erste griechische Prosa-Autor. Unklar ist sein Verhältnis zu Anaximander, der wahrscheinlich erst etwas später eine Schrift verfasste.[2] Darüber hinaus liegen keine glaubwürdigen Informationen über sein Leben vor; nur Legenden sind überliefert.

Pherekydes schrieb ein Buch über die Götter, das nicht erhalten ist. Die Anfangsworte zitiert der Doxograph Diogenes Laertios (3. Jahrhundert n. Chr.), dem es noch zugänglich war. Einiges lässt sich aus späteren Quellen und einem Papyrusfragment erschließen.

„In Pherekydes von Syros, der im sechsten vorchristlichen Jahrhundert lebte, erscheint innerhalb des griechischen Geisteslebens eine Persönlichkeit, an welcher man die Geburt dessen beobachten kann, was in den folgenden Ausführungen «Welt- und Lebensanschauungen» genannt wird. Was er über die Weltenfragen zu sagen hat, gleicht auf der einen Seite noch den mythischen und bildhaften Darstellungen einer Zeit, die vor dem Streben nach wissenschaftlicher Weltanschauung liegt; auf der anderen Seite ringt sich bei ihm das Vorstellen durch das Bild, durch den Mythus, zu einer Betrachtung durch, die durch Gedanken die Rätsel des Daseins und der Stellung des Menschen in der Welt durchdringen will. Er stellt noch die Erde vor unter dem Bilde einer geflügelten Eiche, welcher Zeus die Oberfläche von Land, Meer, Flüssen usw. wie ein Gewebe umlegt; er denkt sich die Welt durchwirkt von Geistwesen, von welchen die griechische Mythologie spricht. - Doch spricht er auch von drei Ursprüngen der Welt: von Chronos, von Zeus und von Chthon.“ (Lit.:GA 18, S. 35)

Götterlehre und Kosmologie

Pherekydes nahm an, dass drei Gottheiten ewig existieren: Zas (Zeus), Chronos und die Erdgottheit Chthon. Ob Pherekydes den Zeitgott Chronos mit dem Gott Kronos, den er an anderer Stelle erwähnt, gleichsetzte oder zwei verschiedene Götter meinte oder eine Verwechslung der beiden in der handschriftlichen Überlieferung vorliegt, ist umstritten.[3] Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob es im Rahmen der Mentalität der Griechen des 6. Jahrhunderts v. Chr. vorstellbar war, einem Gott, der das abstrakte Prinzip Zeit verkörperte, eine solche Rolle zuzuweisen.[4] Chronos brachte aus seinem eigenen Samen drei Elemente hervor: Feuer, Luft (Wind) und Wasser. Aus den Elementen entstanden die sekundären, nicht ewigen Gottheiten.

Zeus heiratete die Erdgottheit, die nunmehr den Namen Gē (Gaia) erhielt; das war die erste Hochzeit und das Urbild aller Hochzeiten. Zeus entschleierte seine Braut und vertraute ihr die irdische Welt an, indem er ihr ein von ihm selbst angefertigtes Tuch (Gewand) übergab, auf dem die Erde und der Ur-Ozean „Ogenos“ (Okeanos) eingewebt waren. Erst durch dieses Gewand erhielt die physische Welt ihre den Menschen vertraute Gestalt. Das Gewand stellte nicht nur die Erdoberfläche dar, sondern es war sie; in diesem mythischen Denken waren Bild und Sache dasselbe.[5]

Außerdem erzählte Pherekydes von einer Schlacht zwischen zwei Göttern und ihren Heeren, wobei es um den Besitz des Himmels ging; Kronos kämpfte als Anführer der Himmelsmächte gegen den von der Erde hervorgebrachten Schlangengott Ophioneus (Ophion) und dessen Nachkommenschaft. Der Kampf endete mit einem Sieg des Kronos, Ophioneus und seine Mitkämpfer wurden in den Ozean geschleudert, wo sie dauerhaft verblieben. Dann erhielten die einzelnen Gottheiten ihre Anteile (Zuständigkeitsbereiche).

„In den verschiedenen Kulturen der Völker hat sich der Übergang von dem alten Bild-Erleben zum Gedanken-Erleben zu verschiedenen Zeitpunkten vollzogen. In Griechenland kann man diesen Übergang belauschen, wenn man den Blick auf die Persönlichkeit des Pherekydes wirft. Er lebt in einer Vorstellungswelt, an welcher das Bild-Erleben und der Gedanke noch gleichen Anteil haben. Es können seine drei Grundideen, Zeus, Chronos, Chthon, nur so vorgestellt werden, daß die Seele, indem sie sie erlebt, sich zugleich dem Geschehen der Außenwelt angehörig fühlt. Man hat es mit drei erlebten Bildern zu tun und kommt diesen nur bei, wenn man sich nicht beirren läßt von allem, was die gegenwärtigen Denkgewohnheiten dabei vorstellen möchten.

Chronos ist nicht die Zeit, wie man sie gegenwärtig vorstellt. Chronos ist ein Wesen, das man mit heutigem Sprachgebrauch «geistig» nennen kann, wenn man sich dabei bewußt ist, daß man den Sinn nicht erschöpft. Chronos lebt, und seine Tätigkeit ist das Verzehren, Verbrauchen des Lebens eines anderen Wesens, Chthon. In der Natur waltet Chronos, im Menschen waltet Chronos; in Natur und Mensch verbraucht Chronos Chthon. Es ist einerlei, ob man das Verzehren des Chthon durch Chronos innerlich erlebt oder äußerlich in den Naturvorgängen ansieht. Denn auf beiden Gebieten geschieht dasselbe. Verbunden mit diesen beiden Wesen ist Zeus, den man sich im Sinne des Pherekydes ebensowenig als Götterwesen im Sinne der gegenwärtigen Auffassung von Mythologie vorstellen darf, wie als bloßen «Raum» in heutiger Bedeutung, obwohl er das Wesen ist, welches das, was zwischen Chronos und Chthon vorgeht, zur räumlichen, ausgedehnten Gestaltung schafft.

Das Zusammenwirken von Chronos, Chthon, Zeus im Sinne des Pherekydes wird unmittelbar im Bilde erlebt, wie die Vorstellung erlebt wird, daß man ißt; es wird aber auch in der Außenwelt erlebt, wie die Vorstellung der blauen oder roten Farbe erlebt wird. Dies Erleben kann man in folgender Art vorstellen. Man lenke den Blick auf das Feuer, welches die Dinge verzehrt. In der Tätigkeit des Feuers, der Wärme, lebt sich Chronos dar. Wer das Feuer in seiner Wirksamkeit anschaut und noch nicht den selbständigen Gedanken, sondern das Bild wirksam hat, der schaut Chronos. Er schaut mit der Feuerwirksamkeit - nicht mit dem sinnlichen Feuer - zugleich die «Zeit». Eine andere Vorstellung von der Zeit gibt es vor der Geburt des Gedankens noch nicht. Was man gegenwärtig «Zeit» nennt, ist erst eine im Zeitalter der gedanklichen Weltanschauung ausgebildete Idee. - Lenkt man den Blick auf das Wasser, nicht wie es als Wasser ist, sondem wie es sich, in Luft oder Dampf verwandelt, oder auf die sich auflösenden Wolken, so erlebt man im Bilde die Kraft des «Zeus», des räumlich wirksamen Verbreiterers; man könnte auch sagen: des sich «strahlig» Ausdehnenden. Und schaut man das Wasser, wie es zum Festen wird, oder das Feste, wie es sich in Flüssiges bildet, so schaut man Chthon. Chthon ist etwas, was dann später im Zeitalter der gedankenmäßigen Weltanschauungen zur «Materie», zum «Stoffe» geworden ist; Zeus ist zum «Äther» oder auch zum «Raum» geworden; Chronos zur «Zeit».“ (Lit.:GA 18, S. 40ff)

Seelenlehre

Der römische Schriftsteller Cicero berichtet, Pherekydes habe als erster die Auffassung vertreten, dass die Seele unsterblich sei.[6] Mit dem Konzept des Fortlebens nach dem Tode verband sich bei Pherekydes, wie aus einer Mitteilung des Gelehrten Porphyrios hervorgeht, die Lehre von der Seelenwanderung.[7] Diese Angaben der Quellen gelten in der Forschung als glaubwürdig; Pherekydes ist der erste namentlich bekannte Autor, der ein solches Seelenkonzept in einer Lehrschrift vorgetragen hat. Allerdings war die Fortexistenz der Seele nach dem Tod des Körpers schon für Homer selbstverständlich.[8]

„Pherekydes kommt zu seinem Weltbilde auf andere Art, als man vor ihm zu einem solchen gekommen ist. Das Bedeutungsvolle bei ihm ist, daß er den Menschen als beseeltes Wesen anders empfindet, als dies vor ihm geschehen ist. Für das frühere Weltbild hat der Ausdruck «Seele» noch nicht den Sinn, welchen er für die späteren Lebensauffassungen erhalten hat. Auch bei Pherekydes ist die Idee der Seele noch nicht in der Art vorhanden wie bei den ihm folgenden Denkern. Er empfindet erst das Seelische des Menschen, wogegen die Späteren von ihm deutlich - in Gedanken - sprechen und es charakterisieren wollen. - Die Menschen früher Zeiten trennen das eigene menschliche Seelen-Erleben nodi nicht von dem Naturleben ab. Sie stellen sich nicht als ein besonderes Wesen neben die Natur hin; sie erleben sich in der Natur, wie sie in derselben Blitz und Donner, das Treiben der Wolken, den Gang der Sterne, das Wachsen der Pflanzen erleben. Was die Hand am eigenen Leibe bewegt, was den Fuß auf die Erde setzt und vorschreiten läßt, gehört für den vorgeschichtlichen Menschen einer Region von Weltenkräften an, die auch den Blitz und das Wolkentreiben, die alles äußere Geschehen bewirken. Was dieser Mensch empfindet, läßt sich etwa so aussprechen: Etwas läßt blitzen, donnern, regnen, bewegt meine Hand, läßt meinen Fuß vorwärts schreiten, bewegt die Atemluft in mir, wendet meinen Kopf. - Man muß, wenn man eine derartige Erkenntnis ausspricht, sich solcher Worte bedienen, welche auf den ersten Eindruck hin übertrieben scheinen können. Doch wird nur durch das scheinbar übertrieben klingende Wort die richtige Tatsache voll empfunden werden können. Ein Mensch, welcher ein Weltbild hat, wie es hier gemeint ist, empfindet in dem Regen, der zur Erde fällt, eine Kraft wirkend, die man gegenwärtig «geistig» nennen muß, und die gleichartig ist mit derjenigen, die er empfindet, wenn er sich zu dieser oder jener persönlichen Betätigung anschickt.“ (Lit.:GA 18, S. 36f)

Rezeption

Zu den von der heutigen Forschung als unglaubhaft eingestuften Pherekydes-Legenden der Antike gehören folgende Behauptungen:

  • Er soll eine Sonnenwendmarkierung festgelegt haben.[9]
  • Er soll prophetische Aussagen gemacht und unter anderem ein Erdbeben vorausgesagt haben.
  • Er soll von den Spartanern umgebracht worden sein, worauf die dortigen Könige, einem Orakel folgend, seine Haut aufbewahrten.
  • Er soll ein Schüler des Pittakos gewesen sein.[10]
  • Er soll der Lehrer des Pythagoras von Samos gewesen sein (eine Behauptung, die wohl mit der Übereinstimmung der beiden in der Seelenlehre zusammenhängt). Als er sich todkrank auf der Insel Delos befand, soll Pythagoras ihn dort gepflegt und dann für sein Begräbnis gesorgt haben.[11] Als historischer Ausgangspunkt dieser Legende kommt eine wie auch immer geartete Beziehung zwischen Pherekydes und Pythagoras in Betracht.
  • Er soll mit Thales korrespondiert haben; der angebliche Briefwechsel ist gefälscht.

Das um 1506 entstandene berühmte Gemälde Die drei Philosophen des Renaissance-Malers Giorgione zeigt nach Ansicht der Wiener Philologin Karin Zeleny Pythagoras, Pherekydes und Thales, wobei Pherekydes als Orientale abgebildet ist, da sein Beiname Syrios („von Syros“) im Sinne von syrischer Herkunft missverstanden wurde. Zelenys Hypothese ist allerdings auf Skepsis gestoßen.[12]

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Hermann S. Schibli: Pherekydes of Syros, Oxford 1990, S. 1f.
  2. Zur Priorität des Pherekydes siehe Hermann S. Schibli: Pherekydes of Syros, Oxford 1990, S. 2–4; dort sind die Quellen zusammengestellt, nach denen er der erste Prosa-Autor war.
  3. Kurt von Fritz: Pherekydes (Mythograph). In: Pauly-Wissowa RE 19/2, Stuttgart 1938, Sp. 2025–2033, hier: 2028f.; Hermann S. Schibli: Pherekydes of Syros, Oxford 1990, S. 27ff., 136–139.
  4. Luisa Breglia: Ferecide di Siro tra orfici e pitagorici. In: Marisa Tortorelli Ghidini (Hrsg.): Tra Orfeo e Pitagora, Napoli 2000, S. 179ff.
  5. [[Wikipedia:Hermann Fränkel|]]: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, 3. Auflage, München 1969, S. 280; Hermann S. Schibli: Pherekydes of Syros, Oxford 1990, S. 50ff.
  6. Cicero, Tusculanae disputationes 1,16,38.
  7. Porphyrios, De antro nympharum 31; Text und englische Übersetzung bei Hermann S. Schibli: Pherekydes of Syros, Oxford 1990, S. 174f. (Nr. 88).
  8. Hermann S. Schibli: Pherekydes of Syros, Oxford 1990, S. 104–127.
  9. Siehe dazu Kurt von Fritz: Pherekydes (Mythograph). In: Pauly-Wissowa RE 19/2, Stuttgart 1938, Sp. 2025–2033, hier: 2025f.; Geoffrey S. Kirk: Pherekydes von Syros. In: Geoffrey S. Kirk, John E. Raven, Malcolm Schofield: Die vorsokratischen Philosophen, Stuttgart 1994, S. 59–61.
  10. Zur Unglaubwürdigkeit dieser Überlieferung siehe Richard Goulet: Phérécyde, disciple de Pittacos ou maître de Pythagore? In: Richard Goulet: Études sur les Vies de philosophes dans l'antiquité tardive, Paris 2001, S. 137–144.
  11. Kurt von Fritz: Pherekydes (Mythograph). In: Pauly-Wissowa RE 19/2, Stuttgart 1938, Sp. 2025–2033, hier: 2027f.; Hermann S. Schibli: Pherekydes of Syros, Oxford 1990, S. 11–13.
  12. Peter Daniel Moser: Nochmals zu den »Drei Philosophen«. Wurde der Giorgione-Code im Kunsthistorischen Museum wirklich geknackt? In: Otto Neumaier (Hrsg.): Was aus Fehlern zu lernen ist in Alltag, Wissenschaft und Kunst, Wien 2010, S. 157–192.
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