Das Rätsel der Sphinx

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Ödipus und die Sphinx – Die Szene bildet die Begegnung beider bei der Lösung des Rätsels ab. (Malerei auf einem Kylix, ca. 440 v. Chr., heute im Louvre)

In der Ödipus-Sage der griechischen Mythologie belagerte die Sphinx die Stadt Theben und gab den vorüberkommenden Thebanern Rätsel auf. Wer falsch antwortete, wurde gefressen. Einzig Ödipus konnte ihr entkommen.

Ödipus

Das Rätsel, das die Sphinx den Menschen stellte, und das erst Ödipus zu lösen vermochte, lautete:[1]

„Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße; aber eben wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder ihm am geringsten.“

Ödipus’ richtige Antwort war:

„Du meinst den Menschen, der am Morgen seines Lebens, solange er ein Kind ist, auf zwei Füßen und zwei Händen kriecht. Ist er stark geworden, geht er am Mittag seines Lebens auf zwei Füßen, am Lebensabend, als Greis, bedarf er der Stütze und nimmt den Stab als dritten Fuß zu Hilfe.“

Damit entging Ödipus als Einziger dem Ungeheuer, welches sich aus Scham und Verzweiflung in den Tod stürzte. Für seine Befreiung Thebens von der Sphinx bekam er Iokaste, die Witwe des Königs Laios, zur Gemahlin und herrschte mit ihr über Theben – ohne zu wissen, dass es sich bei Iokaste um seine eigene Mutter und bei dem toten König um seinen von ihm selbst vor Jahren im Streit getöteten Vater handelte. So erkannte Ödipus zwar das Rätsel der Sphinx, das eigentliche Rätsel seiner eigenen Existenz jedoch blieb ihm verborgen, wie es der Seher Teiresias in Sophokles’ Drama König Ödipus ihm vorwirft:

„Du schaust umher und siehst nicht, wo du stehst im Üblen,
Nicht, wo du wohnst, und nicht, mit wem du lebst –
'Weißt du, von wem du bist?“

Sophokles: König Ödipus[3]

Der Albtraum, das Fragemotiv und die Sphinx

Gustave Moreau, Ödipus und die Sphinx

In verfeinerter Form zeigt sich der Albtraum in der Rätselfrage der Sphinx, wie sie etwa durch die Ödipus-Sage überliefert ist. Sie beruht auf dem luziferischen Einfluss auf die Atmung und Blutbewegung, der in der griechisch-lateinischen Zeit besonders stark war und zu einer Ausweitung des Ätherleibs über die Grenzen des physischen Leibs führte. Heute tritt an dessen Stelle vermehrt der ahrimanische Einfluss, der sich im Erleben der Mephistopheles-Gestalt äußert, wie sie Goethe in seiner Faust-Tragödie schildert.

„In das menschliche Leben spielen immer Erlebnisse herein, die von Luzifer und Ahriman stammen. In das Grunderlebnis der vierten nachatlantischen Periode spielte insbesondere Luzifer herein; in unsere Periode spielt Ahriman herein und bedingt das Grunderlebnis. Nun hängt Luzifer mit alledem zusammen, was noch nicht bis zur Deutlichkeit der einzelnen Sinne sich ausgewachsen hat, was undeutlich an den Menschen, undifferenziert an ihn herankommt. Mit andern Worten, Luzifer hängt mit dem Atemerlebnis zusammen, mit dem Erlebnis des Ein- und Ausatmens. Das Atmen des Menschen ist etwas, was in einem ganz bestimmten geregelten Verhältnis stehen muß zu seiner Gesamtorganisation. In dem Augenblick, wo der Atmungsprozeß in irgendeiner Weise gestört ist, verwandelt sich sogleich die Atmung aus dem, wie sie sonst auftritt, nämlich als unbewußter Vorgang, auf den wir nicht zu achten brauchen, in einen bewußten, in einen mehr oder weniger traumhaft bewußten Vorgang. Und wenn - wir können es ganz trivial ausdrücken - der Atmungsprozeß zu energisch wird, wenn er größere Anforderungen an den Organismus stellt, als dieser Organismus leisten kann, dann hat Luzifer die Möglichkeit, mit dem Atmen einzudringen in den menschlichen Organismus. Er muß es ja nicht selbst sein, aber seine Scharen tun es, diejenigen, die zu ihm gehören.

Ich weise damit auf eine Erscheinung hin, welche jeder kennt als Traumerlebnis. Dieses Traumerlebnis kann sich in beliebiger Weise steigern. Der Alptraum, wo also der Mensch durch das gestörte Atmen zum Traumbewußtsein kommt, so daß sich Erlebnisse der geistigen Welt hineinmischen können, und auch alle Angst- und Furchterlebnisse, die mit Alpträumen verbunden sind, haben in dem luziferischen Element der Welt ihren Ursprung. Alles, was vom gewöhnlichen Atmungsprozeß übergeht zum Würgen, zu dem Gefühl des Gewürgtwerdens, das hängt zusammen mit dieser Möglichkeit, daß Luzifer sich einmischt in den Atmungsprozeß. Das ist der grobe Prozeß, wo durch eine Herabminderung des Bewußtseins Luzifer sich in das Atemerlebnis hineinmischt, gestaltenhaf t in das Traumbewußtsein tritt und da zum Würger wird. Das ist das grobe Erlebnis.

Es gibt aber auch ein feineres Erlebnis, das uns dieses Würgeerlebnis gleichsam verfeinert, nicht so grob wie ein physisches Würgen darstellt. Man achtet gewöhnlich nicht darauf, daß eine solche Verfeinerung des Würgens zu den menschlichen Erlebnissen gehört. Aber jedesmal, wenn an die menschliche Seele dasjenige herantritt, was zu einer Frage wird oder zu einem Zweifel an diesem oder jenem in der Welt, dann ist in verfeinerter Weise ein Würgeerlebnis da. Man kann schon sagen: Wenn wir eine Frage aufstellen müssen, wenn ein kleines oder ein großes Weltenrätsel sich uns aufdrängt, dann werden wir gewürgt, aber so, daß wir es nicht merken. - Jeder Zweifel, jede Frage ist ein verfeinertes Alpdrücken oder ein verfeinerter Alptraum.

So verwandeln sich die Erlebnisse, die uns sonst grob entgegentreten, in feinere Erlebnisse, wenn sie mehr seelisch auftreten. Man kann sich schon denken, daß die Wissenschaft einmal dazu kommen wird, den Zusammenhang des Atmungsprozesses mit der Fragestellung oder der Empfindung eines Zweifels in der Menschenseele zu studieren. Aber auch alles das, was mit Fragen und Zweifeln zusammenhängt, alles das, was damit zusammenhängt, daß wir unbefriedigt sind, weil die Welt an uns herantritt und eine Antwort verlangt, oder weil wir gezwungen sind, eine Antwort zu geben durch das, was wir sind, hängt mit dem Luziferischen zusammen.

Wenn wir nun die Sache geisteswissenschaftlich betrachten, so können wir sagen: Bei allem, wo der Würgeengel im Alptraum uns bedrückt, oder wo wir durch die Fragestellung eine innere Bedrückung, einen Anflug von Beängstigung erfahren, haben wir es mit einem gleichsam stärkeren, energischeren Atmungsprozeß zu tun, mit etwas, was im Atem lebt, was aber, damit die menschliche Natur in der richtigen Weise funktioniert, harmonisiert, abgeschwächt werden muß, damit das Leben richtig verläuft. Was findet nun statt, wenn ein energischerer Atmungsprozeß eintritt? Da ist gleichsam der Ätherleib und alles, was mit der ätherischen Natur des Menschen zusammenhängt, zu weit ausgedehnt, zu sehr auseinandergedrängt, und da sich das dann auslebt im physischen Leibe, so kann es sich nicht auf den physischen Leib beschränken, es will ihn gewissermaßen auseinanderzerren. Ein zu üppiger, ein zu weit ausgedehnter Ätherleib liegt einem verstärkten Atmungsprozeß zugrunde, und dann besteht die Möglichkeit für das luziferische Element, sich besonders geltend zu machen. Man kann also sagen: Das Luziferische kann sich in die menschliche Natur hineinschleichen, wenn der Ätherleib geweitet ist. — Man kann auch sagen: Das Luziferische hat die Tendenz, in einem der menschlichen Form gegenüber geweiteten Ätherleibe sich auszudrücken, also in einem Ätherleibe, der mehr Raum braucht, als in der menschlichen Haut eingeschlossen ist, der die Form üppiger gibt. — Man kann sich nun denken, daß man künstlerisch diese Frage beantworten will, und da kann man sagen: So wie der menschliche Ätherleib normal ist, ist er der Bildner der menschlichen Gestalt, die physisch vor uns steht. Aber sobald er sich weitet, sobald er sich einen größeren Raum, weitere Grenzen verschaffen will, als in der menschlichen Haut darinnen sind, will er auch andere Formen geben. Es kann da nicht die menschliche Form bleiben. Er will überall über die menschliche Form hinaus. - Dieses Problem hat man in alter Zeit schon gelöst. Was für eine Form kommt da heraus, wenn der geweitete Ätherleib, der nicht für das menschliche Wesen, sondern für das luziferische Wesen paßt, sich Geltung verschafft und formhaft vor die menschliche Seele tritt? Was kommt da heraus? Die Sphinx!

Hier haben wir eine besondere Art, uns in die Sphinx hinein zu vertiefen. Die Sphinx ist es, was eigentlich an einem würgt. Wenn der Ätherleib des Menschen durch die Energie des Atmens sich ausweitet, taucht ein luziferisches Wesen in der Seele auf. Es lebt in diesem Ätherleibe nicht die menschliche Gestalt, sondern die luziferische Gestalt, die Sphinxgestalt. Die Sphinx taucht auf als die Zweifelaufwerferin, als die Fragepeinigerin. Diese Sphinx hat also eine besondere Beziehung zum Atmungsprozeß. Wiederum wissen wir aber, daß der Atmungsprozeß eine besondere Beziehung zur Blutbildung hat. Daher lebt das Luziferische auch im Blute, durchwogt und durchwallt das Blut. Überall kann auf dem Umwege durch die Atmung das Luziferische in das Blut des Menschen hinein, und wenn zuviel Energie in das Blut hineinkommt, dann ist das Luziferische, die Sphinx, besonders stark.

So steht der Mensch dadurch, daß er in seinem Atmungsprozeß dem Kosmos geöffnet ist, der Sphinxnatur gegenüber. Dieses Erlebnis, in seinem Atmen der Sphinxnatur des Kosmos gegenüberzustehen, dieses Grunderlebnis ging besonders in der vierten nachatlantischen, der griechisch- lateinischen Kulturperiode auf. Und in der Ödipus-Sage sehen wir, wie der Mensch der Sphinx gegenübersteht, wie die Sphinx sich an ihn kettet, zur Fragepeinigerin wird. Der Mensch und die Sphinx, oder wir können auch sagen, der Mensch und das Luziferische im Weltall sollten gleichsam als ein Grunderlebnis der vierten nachatlantischen Kulturperiode so hingestellt werden, daß, wenn der Mensch sein äußeres normales Leben auf dem physischen Plan nur ein wenig durchbricht, er mit der Sphinxnatur in Berührung kommt. Da tritt Luzifer in seinem Leben an ihn heran, und er muß mit Luzifer, mit der Sphinx fertig werden.“ (Lit.:GA 158, S. 99ff)

Weiteres überliefertes Rätsel

Ein anderes überliefertes Rätsel der Sphinx lautete:[4]

„Wer sind die beiden Schwestern, die sich stets gegenseitig erzeugen?“

Die Antwort war: „Tag und Nacht“, die im Griechischen beide als weibliche Gestalten personifiziert wurden.

Kommentare

Der französische Literatur-Nobelpreis-Träger André Gide sagte:[5]

„Egal, was mich die Sphinx gefragt hätte, ich hätte immer gesagt: Der Mensch, denn es ist doch der Mensch, um den alle Rätsel sich ranken!“

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. Sagen des klassischen Altertums, Insel Verlag, 1838 (abgerufen am 10. März 2013)
  2. Zit. n. Gustav Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Stuttgart: Reclam 1986, S. 259
  3. Sophokles: König Ödipus, V. 416-418, zit. n. Sophokles: Die Tragödien, übers. von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt a.M.: Fischer 1963, S. 155
  4. Eric M. Morrmann/Wilfried Utterhoeve: Lexikon der antiken Gestalten, Stuttgart: Kröner 1995, S. 504
  5. Christoph Drösser, NZZ: Eine kurze Geschichte des Grübelns (Dezember 2007; abgerufen am 9. Juli 2009)
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