Verstand

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Der Verstand (abgeleitet aus dem dt. Präfix ver- und dem Verb stehen; von ahd. firstȃn, „davorstehen“; griech. ἐπιστήμη epistêmê „Erkenntnis, Wissen, Wissenschaft“, lat. intellectus, intelligentia, „Intelligenz“ bzw. „ratio“) ist der auf das diskursive, d.h. schrittweise voranschreitende logische Denken gerichtete Teil der Verstandes- oder Gemütsseele, deren andere Seite das Gemüt ist, welches die Gefühls- und Willenssphäre umfasst. Im Verstand liegt das Vermögen Begriffe und Vorstellungen zu bilden, die Begriffe zu Urteilen zu verbinden und aus diesen weitere logische Schlüsse zu ziehen.

Übergeordnet dem Verstand, der sich auf die Erkenntnis des Einzelnen richtet, ist die Vernunft (griech. νοῦς, nous), als die auf das Geistige gerichtete Tätigkeit der Bewusstseinsseele, durch die das Einzelne erst ganzheitlich im großen Weltzusammenhang erfasst werden kann.

Der Verstand als Folge der luziferischen Versuchung

Durch Luzifer - in Gestalt einer Schlange - wurden nach der biblischen Erzähung Adam und Eva versucht, unrechtmäßig von den Früchten des Baums der Erkenntnis zu esssen. Das führte zum Sündenfall, als dessen Folge dem Menschen der Zugang zum Baum des Lebens verwehrt wurde. Der sich allmählich entwickelnde Verstand wurde damit einseitig an die absterbenden Kräfte gebunden und der Mensch dem Tod unterworfen.

„Die Schlange sagt: Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. - Alle Verstandes- und Sinneserkenntnis ist luziferisch, ist sein eigentliches Wahrzeichen.“ (Lit.:GA 150, S. 135)

„Wenn der luziferische Einfluß nicht gekommen wäre, wäre der menschliche Verstand durch alles, was ihm zugedacht war, so geworden — wegen der dann im menschlichen Leibe befindlichen aufbauenden Kräfte, die den zerstörenden die Waage gehalten hätten —, daß der Mensch mit dem Verstände einsehen würde den aufbauenden Prozeß, wie man ein Experiment im Laboratorium einsieht. So ist aber unser Verstand so geworden, daß er nur an der Oberfläche der Dinge bleibt und nicht in die Tiefen der kosmischen Dinge sieht.

Es müßte also jemand, der diese Verhältnisse richtig charakterisieren wollte, sagen: Im Beginne unseres Erdendaseins ist durch den luziferischen Einfluß der physische Leib nicht so geworden, wie er hätte werden sollen durch den Willen der Mächte, die durch Saturn, Sonne und Mond gewirkt haben; sondern es hat sich ihm eingegliedert ein Zerstörungsprozeß. Und der Mensch lebt fortan — seit dem Beginn des Erdendaseins — in einem physischen Leib, der der Zerstörung unterworfen ist, der nicht in entsprechender Weise den zerstörenden Kräften entgegensetzen kann die aufbauenden Kräfte.“ (Lit.:GA 131, S. 165)

Die Entwicklung des Verstandes von der Griechisch-Lateinischen Kulturepoche bis in die heutige Zeit

Die Entwicklung des Verstandes begann etwa im 8. Jahrhundert v. Chr. mit dem Anbruch der Griechisch-Lateinischen Kultur, erreichte im 4. Jahrhundert n. Chr. seinen Höhepunkt und reifte nochz bis zum 15. Jahrhundert nach. Diese Art des Verstandesdenkens war aber noch eine ganz andere als unsere heutige. Der Mensch bediente sich damals noch des Ätherleibs, um zu denken. Ab dem 15. Jahrhundert wurde das Denken dann immer stärker an den physischen Leib gebunden. Das Denken wurde dadurch immer toter und schattenhafter und der Mensch fühlte sich immer mehr von der Welt und ihrer Wirklichkeit abgetrennt. Ändern wird sich das erst wieder, wenn das Denken zur vollbewussten Imagination erhoben wird, wie sie durch die moderne Geisteswissenschaft ausgebildet werden kann.

„Die Zeit vom 8. vorchristlichen Jahrhundert bis zum 15. nachchristlichen Jahrhundert ist die Zeit der Entwickelung der Verstandes- oder Gemütsseele bei dem eigentlichen zivilisierten Teil der Menschheit. Diese Entwickelung der Verstandes- oder Gemütsseele beginnt im 8. vorchristlichen Jahrhundert in Südeuropa, in Vorderasien, und wir können es verfolgen , wenn wir auf die Anfänge der geschichtlichen Entwickelung des griechischen Volkes hinschauen. Das griechische Volk hat ja durchaus noch sehr viel von dem in sich, was man nennen kann Entwickelung der Empfindungsseele, die insbesondere angemessen war dem dritten nachatlantischen Zeitalter, dem ägyptisch-chaldäischen Zeitalter. Da war alles Entwickelung der Empfindungsseele. Da gab sich der Mensch den Eindrücken der Außenwelt hin und in den Eindrücken der Außenwelt empfing er zugleich alles dasjenige, was er dann als seine Erkenntnisse schätzte, was er in seine Willensimpulse übergehen ließ. Der ganze Mensch war gewissermaßen so, daß er sich fühlte als ein Glied des ganzen Kosmos. Er befragte die Sterne und ihre Bewegungen, wenn es sich darum handelte, was er tun solle und so weiter. Dieses Miterleben der Außenwelt, dieses Sehen von Geistigem in allen Einzelheiten der Außenwelt, das war ja dasjenige, was die Ägypter in dem Höhenzeitalter ihrer Kultur auszeichnete, was in Vorderasien lebte und was bei den Griechen eine gewisse Nachblüte hatte. Die älteren Griechen hatten ja durchaus diese freie Hingabe der Seele an die äußere Umgebung, und mit diesem freien Hingeben der Seele an die äußere Umgebung war eben verknüpft ein Wahrnehmen des Elementar-Geistigen in den äußeren Erscheinungen. Aber es entwickelte sich dann bei den Griechen dasjenige heraus, was die griechischen Philosophen «Nus» nennen, was ein allgemeiner Weltverstand ist und dann eigentlich überhaupt die Grundeigenschaft der menschlichen Seelenentwickelungen bis ins 15. Jahrhundert hinein geblieben ist, im 4. nachchristlichen Jahrhundert eine Art Höhepunkt erlebte und dann wieder abflutete. Aber diese ganze Entwickelung vom 8. vorchristlichen Jahrhundert bis zum 15. nachchristlichen Jahrhundert entwickelt eigentlich dasjenige, was Verstand ist. Wenn wir aber in diesem Zeitalter von «Verstand» sprechen, so müssen wir absehen von dem, was wir jetzt in unserem Zeitalter eigentlich als Verstand ansprechen. Für uns ist der Verstand etwas, was wir eigentlich nur in uns tragen, was wir in uns entwickeln und wodurch wir die Welt begreifen. So war es nicht bei den Griechen und sowar es auch noch nicht im 11., 12., 13. Jahrhundert, wenn von Verstand gesprochen wurde. Der Verstand war ein Objektives, der Verstand war etwas, was die Welt erfüllte. Der Verstand ordnete die einzelnen Welterscheinungen. Man betrachtete die Welt und ihre Erscheinungen und sagte sich: Dasjenige, was eine Erscheinung auf die andere folgen läßt, was hineinstellt die einzelnen Erscheinungen in ein größeres Ganzes und so weiter, das macht der Weltverstand. - Dem menschlichen Kopfe sprach man nur zu, daß er teilnehme an diesem allgemeinen Weltverstand [...]

Ebensowenig wie das naive Bewußtsein von heute sagt: Da draußen ist es ganz finster, das Licht ist nur in meinem Kopfe -, ebensowenig sagte der Grieche oder sagte noch der Mensch des 11., 12. nachchristlichen Jahrhunderts: Der Verstand ist nur in meinem Kopfe. - Er sagte: Der Verstand ist draußen, er erfüllt die Welt, er ordnet da alles. Geradeso wie der Mensch sich bewußt wird des Lichtes durch seine Wahrnehmung, so sagte er sich, wird er sich bewußt des Verstandes. Der Verstand leuchtet gewissermaßen in ihm auf [...]

Vorher, als die Kulturentwickelung im Zeichen der Empfindungsseele verlief, da sprach man nicht von einem solchen die ganze Welt übergreifenden Einheitsprinzip, da sprach man von Geistern der Pflanzen, von Geistern, welche die Tierwelt regulieren, von Geistern des Flüssigen, von Geistern der Luft und so weiter. Es war eine Vielheit von geistigen Wesenheiten, von denen man sprach. Nicht nur war es der Polytheismus, die Volksreligion, welche von dieser Vielheit sprach, sondern es war durchaus auch in denjenigen, die Eingeweihte waren, das Bewußtsein vorhanden, daß sie es mit einer wesenhaften Vielheit draußen zu tun haben. Dadurch, daß das Verstandeszeitalter heraufrückte, entwickelte sich eine Art von Monismus. Der Verstand wurde als ein einziger, die ganze Welt umfassender angesehen; und dadurch entwickelte sich auch eigentlich erst der monotheistische Charakter der Religion, der allerdings schon im dritten nachatlantischen Zeitalter seine Vorstufe hatte. Aber das, was wir wissenschaftlich festhalten sollen von diesem Zeitalter - vom 8. vorchristlichen bis zum 15. nachchristlichen Jahrhundert - , das ist schon die Tatsache, daß es das Zeitalter der Entwickelung des Weltverstandes ist, und daß man ganz anders über den Verstand dachte, als wir heute denken [...]

Es war etwa so, wenn er nachdachte, wie wenn er etwas von stärkerem Aufwachen empfinde, als er empfand im gewöhnlichen Wachen. Das Nachdenken war noch etwas, was man unterschieden empfand von dem gewöhnlichen Leben. Vor allen Dingen empfand man im Nachdenken noch, daß man da in etwas drinnensteht, was objektiv ist, was nicht bloß subjektiv ist. Daher war es auch, daß bis in das 15. Jahrhundert, und in der Nachwirkung noch bis in spätere Zeiten, die Menschen ein gewisses Gefühl hatten gegenüber dem tieferen Nachdenken über die Dinge, ein Gefühl, das der Mensch heute gar nicht mehr hat. Heute hat der Mensch gar nicht das Gefühl, daß das Nachdenken in einer gewissen Seelenverfassung vollbracht werden sollte. Bis in das 15. Jahrhundert hatte der Mensch das Gefühl, daß er eigentlich nur etwas Schlechtes bewirkt in der Welt, wenn er nicht gut ist und doch nachdenklich wird. Er machte sich gewissermaßen einen Vorwurf, wenn er als ein schlechter Mensch nachdachte. Das ist etwas, was man gar nicht mehr so richtig gründlich empfindet. Heute denken die Menschen: Ich kann schlecht sein, wie ich will, in meiner Seele, ich denke halt nach. - Das haben die Menschen bis zum 15. Jahrhundert nicht getan. Die haben es eigentlich als eine Art Beleidigung des göttlichen Weltenverstandes empfunden, wenn sie in einer schlechten Seelenverfassung nachgedacht haben; sie haben also in dem Akte des Nachdenkens schon etwas Reales gesehen, sie haben sich darinnen gewissermaßen mit der Seele schwimmend gesehen in dem allgemeinen Weltenverstande. Woher kommt das?

Das kommt davon her, daß die Menschen eigentlich in diesem Zeitalter vom 8. vorchristlichen bis zum 15. nachchristlichen Jahrhundert, insbesondere im 4. nachchristlichen Jahrhundert, ausgesprochen ihren Ätherleib verwendeten, wenn sie nachdachten [...] Man kann geradezu sagen: Die Menschen dachten in diesem Zeitalter mit dem Ätherleib. - Und das ist das Charakteristische, daß im 15. Jahrhundert angefangen wird, mit dem physischen Leib zu denken. Wir denken mit den Kräften, die der Ätherleib in den physischen Leib hineinsendet, wenn wir denken. Das ist also der große Unterschied, der sich ergibt, wenn man das Denken vor dem 15. Jahrhundert und nach dem 15. Jahrhundert betrachtet [...] Das war im wesentlichen die Entwickelung vom 15. bis ins 19., 20. Jahrhundert herein, daß der Mensch immer mehr und mehr sein Denken herausgeholt hat aus dem Ätherleib und daß er sich hält an dieses Schattenbild, das er im physischen Leib erhält von dem eigentlichen Gedankenursprung im Ätherleib. Es ist also wirklich das vorhanden, daß in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum eigentlich gedacht wird mit dem physischen Leib, daß aber im Grunde genommen das nur ein Schattenbild ist desjenigen, was das Weltendenken einstmals war, daß also seit jener Zeit in der Menschheit nur ein Schattenbild des Weltendenkens lebt [...]

Die Menschheit macht sich heute eigentlich keinen Begriff davon, ein wieviel lebendigeres Element das Denken vorher war. Der Mensch fühlte sich im Denken zu gleicher Zeit erfrischt in jener älteren Zeit, er war froh, wenn er denken konnte, denn das Denken war ein Labetrunk der Seele für ihn. Daß das Denken etwa auch ermüden könne, das war keine Ansicht jener Zeiten. Es konnte der Mensch gewissermaßen durch etwas anderes ermüden; aber wenn er wirklich denken konnte, so fühlte er dies als eine Erfrischung, als einen Labetrunk der Seele, er fühlte auch immer etwas von Begnadung, die ihm wurde, wenn er in Gedanken leben konnte [...]

Der Mensch muß sich bewußt werden, daß er in seinem modernen Denken ein Schattenbild hat, und daß dieses Schattenbild nicht Schattenbild bleiben darf, daß dieses Schattenbild, das das moderne Denken ist, belebt werden muß, damit es Imagination werden kann. Es ist immer ein Versuch, das moderne Denken zur Imagination zu machen, was zum Beispiel zutage tritt in einem solchen Buch wie in meiner «Theosophie» oder wie in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß», wo eben überall in das Denken hinein die Bilder getrieben werden, damit das Denken zur Imagination, also wiederum zum Leben aufgerufen werde. Es würde sonst die Menschheit vollständig veröden. Wir könnten vertrocknete Gelehrsamkeit weit verbreiten, aber diese vertrocknete Gelehrsamkeit würde nicht zum Wollen sich aufraffen und nicht entflammen können, wenn in dieses schattenhafte Denken, in dieses Denkgespenst, das in der neueren Zeit eben in die Menschheit hereingekommen ist, nicht wiederum das imaginative Leben einziehen würde.“ (Lit.:GA 204, S. 167ff)

Der Verstand als Produkt abbauender, zentripetaler Kräfte

„Was sind es für Kräfte, die vorzugsweise im menschlichen Haupte wirken und die ja verwandt sind den zentripetalen, den zusammenpressenden Kräften des Kosmos, was sind es für Kräfte? Es sind diejenigen Kräfte, die die ältesten Kräfte unseres Weltenalls sind. Erinnern Sie sich an meine Darstellungen in der «Geheimwissenschaft im Umriß», wie ich die alte Saturnentwickelung beschrieben habe, wie ich da hinweisen mußte darauf, daß sich herausgerungen hat aus dieser Saturnentwickelung das menschliche Sinnesleben. Was da zurückgeblieben ist aus dieser Saturnentwickelung, es liegt hinter unserem Sinnesteppich als die kalte, fröstelnde Welt, die sich eben aus dem Wärmezustand des Anfanges heraus entwickelt hat, in die wir heute Wärme hineinzutragen haben. Das, was da hinter dem Sinnesteppich liegt, ist gewissermaßen die älteste der Welten. Wir betreten sie unbewußt in der Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Wir wandeln aber eigentlich immerfort in ihr herum. Sie gibt uns alles dasjenige, was mit unseren Sinnen zusammenhängt. Die zentripetalen Kräfte wirken, gleichsam die Sinne von außen bildend, in unsere Sinne hinein, in unsere Augen, in unsere Ohren, und von da aus in unseren physischen Verstand, in dasjenige, was wir denken. Und indem wir durch die Welt denkend gehen, gehen wir eigentlich mit demjenigen menschlichen Besitz durch die Welt, der uns aus dieser Umgebung heraus gebildet wird, das heißt, mit den ältesten Kräften, die nun schon angekommen sind beim Zerfall. Das dürfen wir nie vergessen, daß dies die Kräfte sind, die eigentlich schon beim Zerfall angekommen sind.

Zeichnung aus GA 199, S. 183
Zeichnung aus GA 199, S. 183

Man möchte sagen, die Sache ist so: Wenn man schematisch darstellt das Weltenall, auseinander, ins Weite strebend, aber an dieser Grenze zentripetal zusammengehalten werdend, es sind die ältesten Kräfte des Weltenalls (siehe Zeichnung). Sie zerbröckeln in einer gewissen Weise. Und aus diesen zerbröckelnden Kräften, aus diesen in den Tod schon übergehenden Kräften, aus diesen zum Chaos gewordenen Kräften steigt dasjenige auf, was unser Verstand ist, was unser menschlicher Intellekt ist.“ (Lit.:GA 199, S. 182ff)

Die Verstandesseele und die damit verbundene „Kopfkultur“ erwachte so recht erst in der griechisch-lateinischen Kultur, die im Zeichen des Widders stand.

„Dann kam die griechisch-lateinische Zeit, das vierte nachatlantische Zeitalter. Die Sonne trat mit ihrem Frühlingspunkte ein in den Widder. Das entspricht der Kopfgegend des Menschen, der Stirngegend, der Oberkopf-, der eigentlichen Kopfgegend des Menschen. Es begann diejenige Zeit, in der der Mensch vorzugsweise sich so in ein erkennendes Verhältnis zur Welt setzte, daß dieses erkennende Verhältnis zur Welt ihm Gedanken brachte. Das Kopferkennen ist ganz verschieden von den früheren Arten des Erkennens. Das Kopferkennen trat ja in diesem Zeitalter besonders ein. Aber der Kopf des Menschen ist, trotzdem er fast eine getreue Nachbildung des Makrokosmos ist, gerade weil er in physischem Sinne eine getreue Nachbildung des Makrokosmos ist, im spirituellen Sinne eigentlich nicht gar viel wert. Verzeihen Sie den Ausdruck: als physischer Kopf ist der Kopf des Menschen nicht gar viel wert. Und wenn der Mensch auf seinen Kopf angewiesen ist, so kann er zu nichts anderem kommen als eigentlich zu einer Gedankenkultur.

Nach und nach hat auch die griechisch-lateinische Zeit, die ja, wie wir von andern Gesichtspunkten aus gesehen haben, die Kopfkultur bis zu ihrer Höhe brachte und dadurch gewissermaßen den Menschen in einer besonderen Weise heranbrachte an die Welt, in einer nach und nach sich entwickelnden Weise es zu der eigentlichen Kopf kultur gebracht, zu der Gedankenkultur, die dann abgelaufen ist. So daß man, wie ich gestern aufmerksam gemacht habe, vom 15. Jahrhundert ab nicht mehr wußte, wie man mit dem Denken noch mit der Wirklichkeit zusammenhing. Diese Kopfkultur, diese Widderkultur, sie war aber noch immer so, daß man gewissermaßen in den Menschen hereinnahm die Anschauung des Weltenalls. Und mit Bezug auf die physische Welt war diese Kopf kultur, diese Widderkultur, die allervollkommenste. Materialistisch ist erst dasjenige geworden, was sich dann als Entartung daraus entwickelt hat. Der Mensch trat durch seinen Kopf eben doch gerade in dieser Widderkultur in ein besonderes Verhältnis zur Umwelt. Und man versteht heute insbesondere die griechische Kultur schwer - die römische hat es ja dann ins mehr Philiströse verzerrt - , wenn man das nicht berücksichtigt, daß der Grieche eben zum Beispiel Begriffe und Ideen anders wahrnahm. Ich habe das in meinen «Rätseln der Philosophie» besonders ausgeführt.“ (Lit.:GA 180, S. 198f)

Das Verstandesorgan

Laterale Aufsicht auf den präfrontaler Cortex der linken Großhirnhemisphäre mit Nummerierung der Brodmann-Areale.

Als zentrales Verstandesorgan gilt gemeinhin der Frontallappen des Gehirns, der mit rund 40% den größten Teil der Großhirnrinde ausmacht und namentlich auch für die Bewegungskontrolle wichtig ist. Sein vorderer Teil, der präfrontale Cortex, ist wesentlich an der bewussten Planung komplexer Handlungen, am Treffen von Entscheidungen, der Aufmerksamkeit, der Bildung des Kurzzeitgedächtnisses und des Bewusstseins, sowie an der Kontrolle von Emotionen und insgesamt am Ausdruck der Persönlichkeit beteiligt.

Allerdings ist es laut Rudolf Steiner nicht das Gehirn, das denkt, sondern dieses macht nur bewusst, was sonst unbewusst als weisheitsvolle Tätigkeit im restlichen Organismus waltet. Das geometrische, mechanistische und kausale Denken gründet sich namentlich darauf, dass die Gesetzmäßigkeiten der Knochenmechanik des Gliedmaßen-Systems ins Bewusstsein gehoben werden. Das Begreifen als Erkenntnisakt gründet sich auf das Ergreifen und Begreifen der äußeren Dinge mit der Hand. Das Gehirn dient in diesem Sinn nicht als Denkorgan, sondern nur als Spiegelungsorgan.

„Es ist ein Vorurteil, daß wir mit dem Kopf denken. Das ist gar nicht wahr. Wir denken mit den Beinen und mit den Armen; und dasjenige, was in den Armen und Beinen vor sich geht, bei dem schaut der Kopf zu und nimmt es in den Bildern der Gedanken auf. Er würde niemals, ich habe Ihnen das schon gesagt bei dem Weihnachtskursus, das Gesetz des Winkels kennenlernen, wenn er nicht schreiten würde. Er würde niemals mechanische Gleichgewichtsgesetze kennenlernen, wenn er sie nicht durch seinen eigenen Schwerpunkt, den er im Unterbewußtsein herumführt, kennenlernen würde. Sobald man zu dem Astralleib hinunterkommt, der das alles im Unterbewußtsein verarbeitet, erscheint einem der Mensch, wenn er [auch] manchmal auf der physischen Welt ganz töricht ist, ungemein weise, weil das alles, was da zum Beispiel an Geometrie entwickelt wird im Gehen, im Sich-Fühlen, weil das alles, wenn ich mich des Paradoxons bedienen darf, durchaus gewußt wird im Unterbewußtsein und dann durch das Gehirn angeschaut wird.“ (Lit.:GA 316, S. 208f)

Alles, was das flüssige Element und insbesondere die Muskeltätigkeit betrifft, kann durch diese Art des Denkens nicht mehr erfasst werden, sondern bedarf bereits der imaginativen Erkenntnis. Der Luftmensch und die damit zusammenhängende Tätigkeit der inneren Organe erschließt sich erst der Inspiration und in den Wärmemenschen kann man bewusst nur durch Intuition eintauchen.

Nach Rudolf Steiner ist das Verstandesorgan eine Metamorphose des bei den Tieren viel stärker ausgebildeten Geruchsorgans und auch des Geschmacksorgans.

„Hund hat in der Nase sehr feine Geruchsnerven. Das ist sehr interessant, diese feine Geruchsempfindung des Hundes zu studieren. Aber es ist auch sehr interessant, zu studieren, wie die Geruchsnerven des Hundes mit dem übrigen zusammenhängen. Hinter der Nase, im Gehirn, hat der Hund ein sehr interessantes Riechorgan. Die Nase ist nur ein Teil des Riechorganes. Hinter der Nase, im Gehirn, hat der Hund die Hauptmasse seines Riechorganes. Nun können wir vergleichen die Riechorgane des Hundes mit denen des Menschen.

Beim Hunde ist ein deutliches Riechorgan vorhanden, ein Gehirn, das im Grunde zum Riechorgan werden kann. Beim Menschen ist der größte Teil dieses Riechgehirns umgewandelt zum Verstandesgehirn. Was wir hinter der Nase haben, ist ein umgewandeltes Riechorgan. Wir verstehen die Dinge; der Hund versteht sie nicht, er riecht sie. Wir verstehen sie, weil an der Stelle, wo der Hund noch ein richtiges Riechorgan hat, wir ein umgewandeltes Riechorgan haben. Unser Verstandesorgan ist ein umgewandeltes Riechorgan. Wir haben nur einen kleinen Rest als riechendes Gehirn; daher riechen wir schlechter als der Hund.“ (Lit.:GA 354, S. 150f)

„Ebenso aber, meine Herren, ist es auch mit dem Geschmacksorgan des Menschen. Es gibt Tiere - die meisten Tiere sogar haben ein mächtig entwickeltes Geschmacksgehirn, können furchtbar gut ein Nahrungsmittel von dem anderen unterscheiden. Wissen Sie, so wie die Tiere genießen, davon haben wir gar keinen Begriff. Wir würden turmhoch springen, wenn uns all die Dinge, die wir essen, so geschmackvoll wären, wie den Tieren die Sachen geschmackvoll sind. Von der Art und Weise, wie der Hund vom Zucker beglückt ist, hat unser bißchen Zukkergeschmack gar keine Ahnung. Es kommt dies daher, daß bei den meisten Tieren ein mächtiges Geschmacksgehirn vorhanden ist. Beim Menschen ist auch davon nur ein kleiner Rest vorhanden. Dafür aber hat er wieder die Fähigkeit, Ideen zu bilden, mit dem umgewandelten Geschmacksgehirn Ideen zu bilden. Und auf diese Weise, sehen Sie, wird der Mensch das edelste Wesen auf der Erde, daß bei ihm von den Sinnesempfindungen im Gehirn immer nur ein Stückchen vorhanden ist; das andere ist umgewandelt zum Denken, zum Fühlen. Dadurch wird der Mensch das höchste Wesen. So können wir sagen: Da ist im menschlichen Gehirn mächtig umgewandelt Schmecken und Riechen, und nur Stückchen sind vorhanden vom Geschmacksgehirn und Geruchsgehirn. Beim Tier ist das nicht vorhanden, dagegen ist das mächtig ausgebildet (es wird auf die Zeichnung verwiesen). Das kann man schon an den äußeren Formen erkennen. Wenn der Mensch ein so mächtig ausgebildetes Geruchsgehirn hätte wie der Hund, dann hätte er keine Stirn. Die Stirn ginge zurück, weil das Geruchsgehirn nach hinten sich ausbilden würde. Aber indem es sich umwandelt, stülpt sich die Stirn auf. Weil der Hund die Nase nach vorne streckt, geht das Gehirn nach hinten. Wer darauf sich einschult, kann schon sagen, welche Tierformen besonders gute Geruchsempfindungen haben. Er braucht nur darauf zu sehen, daß das Gehirn nach hinten geht und die Nase mächtig ausgebildet ist, dann weiß er, das Tier hat eine gute Geruchsempfindung [...]

Das Tier kann alles. Warum? Weil seine äußeren Gehirnorgane noch nicht zu Denkorganen umgewandelt sind. Beim Menschen müssen erst, wenn er geboren ist, vom Gehirn aus diese stumpfen Reste von den Sinnesorganen erobert werden. Und deshalb muß das Kind lernen, während das Tier nicht zu lernen braucht, sondern alles von vorneherein kann. So ist es beim Menschen. Wir können alles ganz genau sehen: Menschen, die ganz einseitig nur ihr Gehirn ausgebildet haben, die können furchtbar fein denken, sind aber furchtbar ungeschickte Kerle. Beim Menschen kommt es darauf an, daß er nicht gar zu viel Gehirnmasse umgewandelt hat. Wenn er gar zu viel umgewandelt hat, kann er ein guter Dichter werden, aber er wird kein guter Mechaniker werden.“ (Lit.:GA 354, S. 156f)

Der Darm als Parallelorgan des Gehirns

Das Verdauungssystem des Menschen

Einem Organ im oberen Menschen entspricht stets ein Organ im unteren Menschen. Das Parallelorgan des Gehirns ist der Darm. Rudolf Steiner hat gezeigt,

„... daß sich tatsächlich der Mensch als eine Dualität offenbart und daß, was entsteht, auf der einen Seite im Unteren immer das Parallelorgan ist für etwas, was entsteht im Oberen, daß im Oberen gewisse Organe nicht entstehen könnten, wenn sich nicht die Parallelorgane, gewissermaßen die entgegengesetzten Pole im Unteren entwickeln könnten. Und je mehr das Vorderhirn in der Tierreihe die Gestalt annimmt, welche es beim Menschen dann entwickelt, desto mehr gestaltet sich der Darm gerade nach der Seite hin aus, die zur Ablagerung der Nahrungsüberreste führt. Es ist ein inniger Zusammenhang zwischen der Darmbildung und der Gehirnbildung, und würde nicht im Laufe der Tierreihe Dickdarm, Blinddarm auftreten, so könnten auch nicht zuletzt denkende Menschen entstehen physischer Natur, weil der Mensch sein Gehirn, sein Denkorgan auf Kosten, durchaus auf Kosten seiner Darmorgane hat. Und die Darmorgane sind die getreue Reversseite der Gehirnorgane. Damit Sie auf der einen Seite entlastet werden von physischer Tätigkeit für das Denken, müssen Sie auf der anderen Seite Ihren Organismus belasten mit demjenigen, wozu Veranlassung ist zur Belastung durch den ausgebildeten Dickdarm und die ausgebildete Blase. So daß gerade die in der menschlichen physischen Welt vorkommende höchste geistigseelische Tätigkeit, insoferne sie gebunden ist an eine vollkommene Ausbildung des Gehirnes, zugleich gebunden ist an die dazu gehörige Ausbildung des Darmes. Das ist ein außerordentlich bedeutsamer Zusammenhang, ein Zusammenhang, der auf das ganze Schaffen der Natur ungeheuer viel Licht wirft. Denn Sie können sich, wenn es auch etwas paradox klingt, nun sagen: Warum haben denn die Menschen einen Blinddarm? — Damit sie in entsprechender Weise menschlich denken können, können Sie sich zur Antwort geben. Denn dasjenige, was sich da im Blinddarm ausbildet, das hat sein Entgegengesetztes im menschlichen Gehirn. Alles auf der einen Seite entspricht dem anderen.“ (Lit.:GA 312, S. 94f)

„Wenn Sie zusammennehmen die Prozesse, die sich unten abspielen, so ist im wesentlichen ein Ergebnis da, das im gewöhnlichen Leben meistens mißachtet wird: es sind die Ausscheidungsprozesse, Ausscheidungen durch den Darm, Ausscheidungen durch die Nieren und so weiter, alle Ausscheidungsprozesse, die sich nach unten ergießen. Diese Ausscheidungsprozesse betrachtet man meistens eben nur als Ausscheidungsprozesse. Aber das ist ein Unsinn. Es wird nicht bloß ausgeschieden, damit ausgeschieden werden soll, sondern in demselben Maße, in dem Ausscheidungsprodukte erscheinen, erscheint im unteren Menschen geistig etwas Ähnliches, wie oben physisch das Gehirn ist. Das, was im unteren Menschen geschieht, ist ein Vorgang, der auf halbem Wege stehenbleibt in bezug auf seine physische Entwickelung. Es wird ausgeschieden, weil die Sache ins Geistige übergeht. Oben wird der Prozeß vollendet. Da bildet sich physisch das herein, was da unten nur geistig ist. Oben haben wir physisches Gehirn, unten ein geistiges Gehirn. Und wenn man das, was unten ausgeschieden wird, einem weiteren Prozeß unterwerfen würde, wenn man fortfahren würde, es umzubilden, dann würde die letzte Metamorphose vorläufig sein das menschliche Gehirn.

Die menschliche Gehirnmasse ist weitergebildetes Ausscheideprodukt. Das ist etwas, was ungeheuer wichtig zum Beispiel auch in medizinischer Beziehung ist, und was im 16., 17. Jahrhundert die damaligen Ärzte noch durchaus gewußt haben. Gewiß, man redet heute in einer sehr abfälligen Weise, und in bezug auf manches auch mit Recht, von der alten «Dreckapotheke». Aber weil man nicht weiß, daß in dem Drecke eben noch vorhanden waren die sogenannten Mumien des Geistes. Natürlich soll das nicht eine Apotheose sein auf das, was in den allerletzten Jahrhunderten als Dreckapotheke figuriert hat, sondern ich weise hin auf viele Wahrheiten, die einen so tiefen Zusammenhang haben wie den, den ich eben ausgeführt habe.

Das Gehirn ist durchaus höhere Metamorphose der Ausscheidungsprodukte. Daher der Zusammenhang der Gehirnkrankheiten mit den Darmkrankheiten; daher auch der Zusammenhang der Heilung der Gehirnkrankheiten und der Darmkrankheiten.“ (Lit.:GA 230, S. 137f)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks