Wahrnehmung

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Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig,
Und wandle, sicher wie geschmeidig,
Durch Auen reichbegabter Welt.

Als Wahrnehmungen (griech. αἴσθησις aísthēsis; eng. perception, von lat. percipere „wahrnehmen, erfassen, ergreifen, vernehmen“) bezeichnet Rudolf Steiner in seiner Philosophie der Freiheit die Empfindungsobjekte, wie sie dem Menschen durch unmittelbare Beobachtung gegeben sind. Nach allgemeinem Sprachgebrauch wird aber auch die Wahrnehmungstätigkeit selbst als Wahrnehmung bezeichnet. Gemeinsam werden beide, also die Wahrnehmungstätigkeit und der dadurch phänomenal erlebte Bewusstseinsinhalt, das sog. Perzept, auch als Perzeption (lat. perceptio) bezeichnet. Die Wahrnehmung der Außenwelt, etwa durch den Sehsinn oder den Hörsinn, nennt man auch Exterozeption (von lat. exter „außen befindlich“ und recipere „aufnehmen“) und unterscheidet sie von der auf das Körperinnere gerichteten Interozeption (von lat. inter „inmitten, zwischen“), zu der die Propriozeption, d.h. die Wahrnehmung der eigenen Körperlage und -bewegung und die Viszerozeption, die Wahrnehmung der inneren Organtätigkeit, zählt.

Wahrnehmungen beschränken sich nicht alleine auf die sinnliche Welt, sondern man kann in gleichem Sinn auch von seelischen und geistigen Wahrnehmungen sprechen, z.B. wenn wir unsere eigenen Gefühle oder Gedanken wahrnehmen. Die Sinneswahrnehmung ist nur ein spezieller Fall der Wahrnehmung überhaupt.

Sinneswahrnehmung

Hauptartikel: Sinneswahrnehmung

Die sinnliche Wahrnehmung löscht alle nichtsinnlichen, ideellen Inhalte aus. Diese können nur durch das Denken - und im erweiterten Sinn durch die Geistesschau - erfasst werden und geben erst zusammen mit der Wahrnehmung die ganze Wirklichkeit.

Es ist fraglich, ob die Natur überhaupt «aussieht».
Es ist fraglich, ob die Welt einen feststehenden
Aspekt bietet. Es könnte sein, daß die Augen ein
Netzwerk ins Dunkel auswerfen, das eine dem
Menschen faßbare Welt durch den Menschen
selbst entstehen läßt.

Willi Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst, S. 16

„Die Sinne sind physische Apparate. Ihre Mitteilungen über die Dinge können somit nur das Physische an den Dingen betreffen. Und dieses Physische in den Dingen teilt sich mir so mit, daß in mir selbst ein physischer Vorgang erregt wird. Die Farbe als physischer Vorgang der Außenwelt erregt einen physischen Vorgang in meinem Auge und in meinem Gehirn. Dadurch nehme ich die Farbe wahr. Ich kann auf diesem Wege aber nur das von der Farbe wahrnehmen, was an ihr physisch, sinnlich ist. Die sinnliche Wahrnehmung schaltet alles Nichtsinnliche von den Dingen aus. Die Dinge werden durch sie alles dessen entkleidet, was an ihnen nichtsinnlich ist. Schreite ich dann zu dem geistigen, dem ideellen Inhalt fort, so stelle ich nur dasjenige wieder her, was die sinnliche Wahrnehmung an den Dingen ausgelöscht hat. Somit zeigt mir die sinnliche Wahrnehmung nicht das tiefste Wesen der Dinge; sie trennt mich vielmehr von diesem Wesen. Die geistige, ideelle Erfassung verbindet mich aber wieder mit diesem Wesen. Sie zeigt mir, daß die Dinge in ihrem Innern genau von demselben geistigen Wesen sind, wie ich selbst. Die Grenze zwischen mir und der Außenwelt fällt durch die geistige Erfassung der Welt dahin. Ich bin von der Außenwelt getrennt, insofern ich ein sinnliches Ding unter sinnlichen Dingen bin. Mein Auge und die Farbe sind zwei verschiedene Wesenheiten. Mein Gehirn und die Pflanze sind zweierlei. Aber der ideelle Inhalt der Pflanze und der Farbe gehören mit dem ideellen Inhalt meines Gehirns und des Auges einer einheitlichen ideellen Wesenheit an.“ (Lit.:GA 7, S. 42f)

Die menschliche Sinnesorganisation

Hauptartikel: Sinne

Rudolf Steiner unterscheidet zwölf Sinne des Menschen, die ihm als Sinnesorganisation die Sinneswahrnehmung ermöglichen.

In seinen anthroposophischen Leitsätzen spricht Rudolf Steiner deutlich aus, dass sich der Mensch durch die Wahrnehmung mit seinem geistig-seelischen Wesen an dem beteiligt, was die Welt durch seine Sinne in ihm erlebt. Die menschliche Wahrnehmung ist damit zugleich und primär ein Weltprozess in Form einer Selbstwahrnehmung der Welt, an der Mensch durch sein Bewusstsein mit beteiligt ist. Er wächst dadurch mit seinem seelisch-geistigen Wesen in diese Welt, die ihn umgibt, hinein.

„171. Die menschliche Sinnesorganisation gehört nicht der Menschen-Wesenheit an, sondern ist von der Umwelt während des Erdenlebens in diese hineingebaut. Das wahrnehmende Auge ist räumlich im Menschen, wesenhaft ist es in der Welt. Und der Mensch streckt sein geistig-seelisches Wesen in dasjenige hinein, was die Welt durch seine Sinne in ihm erlebt. Der Mensch nimmt die physische Umgebung während seines Erdenlebens nicht in sich auf, sondern er wächst mit seinem geistig-seelischen Wesen in diese Umgebung hinein.“ (Lit.:GA 26, S. 236)

Wahrnehmung und Sinnesempfindung

"Bei dem Schwanken des Sprachgebrauches erscheint es mir geboten, dass ich mich mit meinem Leser über den Gebrauch eines Wortes verständige, das ich im folgenden anwenden muss. Ich werde die unmittelbaren Empfindungsobjekte, die ich oben genannt habe, insofern das bewusste Subjekt von ihnen durch Beobachtung Kenntnis nimmt, Wahrnehmungen nennen. Also nicht den Vorgang der Beobachtung, sondern das Objekt dieser Beobachtung bezeichne ich mit diesem Namen.

Ich wähle den Ausdruck Empfindung nicht, weil dieser in der Physiologie eine bestimmte Bedeutung hat, die enger ist als die meines Begriffes von Wahrnehmung. Ein Gefühl in mir selbst kann ich wohl als Wahrnehmung, nicht aber als Empfindung im physiologischen Sinne bezeichnen. Auch von meinem Gefühle erhalte ich dadurch Kenntnis, dass es Wahrnehmung für mich wird. Und die Art, wie wir durch Beobachtung Kenntnis von unserem Denken erhalten, ist eine solche, dass wir auch das Denken in seinem ersten Auftreten für unser Bewusstsein Wahrnehmung nennen können." (Lit.: GA 4, S. 63)

Im Sinne Steiners muss man also deutlich zwischen Wahrnehmung und Empfindung (Sinnesempfindung) unterscheiden, wobei weiters zu beachten ist, dass die Wahrnehmung als Ganzes dem Bewusstsein zuerst gegeben ist; sie muss erst zergliedert werden, um zu den Empfindungen zu kommen. Primär haben wir es nämlich nicht mit einzelnen isolierten Empfindungen zu tun, sondern mit einer ganzen Gruppe miteinander verbundener Empfindungen.

"Wenn wir einem Gegenstand gegenübertreten, so ist das, was sich zuerst abspielt, die Empfindung. Wir bemerken eine Farbe, einen Geschmack oder Geruch, und diesen Tatbestand, der sich da zwischen Mensch und Gegenstand abspielt, müssen wir zunächst als durch die Empfindung charakterisiert betrachten. Was in der Aussage liegt: Etwas ist warm, kalt und so weiter, ist eine Empfindung. Diese reine Empfindung haben wir aber eigentlich im gewöhnlichen Leben gar nicht. Wir empfinden an einer roten Rose nicht nur die rote Farbe, sondern wenn wir in Wechselwirkung treten mit den Gegenständen, so haben wir immer gleich eine Gruppe von Empfindungen. Die Verbindung der Empfindungen «Rot, Duft, Ausdehnung, Form» nennen wir «Rose». Einzelne Empfindungen haben wir eigentlich nicht, sondern nur Gruppen von Empfindungen. Eine solche Gruppe kann man eine «Wahrnehmung» nennen.

In der formalen Logik muß man scharf unterscheiden zwischen Wahrnehmung und Empfindung. Wahrnehmung und Empfindung sind etwas durchaus Verschiedenes. Die Wahrnehmung ist das erste, was uns entgegentritt, sie muß erst zergliedert werden, um eine Empfindung zu haben." (Lit.: GA 108, S. 198f)

Die äußere Wahrnehmung als Spiegelung am physischen Leib

In der äußeren Wahrnehmung verbindet sich das Ich mit dem draußen in der Welt Wahrgenommenen. Der Leib bringt nicht die wahrgenommene Farbe, den Ton usw. hervor, sondern spiegelt diese nur in das Bewusstsein:

„Wenn ich eine Farbe sehe, wenn ich einen Ton höre, so erlebe ich die Farbe, den Ton nicht als ein Ergebnis des Leibes, sondern ich bin als selbstbewußtes Ich mit der Farbe, mit dem Ton außerhalb des Leibes verbunden. Der Leib hat die Aufgabe, so zu wirken, daß man ihn mit einem Spiegel vergleichen kann. Wenn ich mit einer Farbe im gewöhnlichen Bewußtsein nur seelisch verbunden bin, so kann ich wegen der Einrichtung dieses Bewußtseins nichts von der Farbe wahrnehmen. Wie ich auch mein Gesicht nicht sehen kann, wenn ich vor mich hinblicke. Steht aber ein Spiegel vor mir, so nehme ich dies Gesicht als Körper wahr. Ohne vor dem Spiegel zu stehen, bin ich der Körper, ich erlebe mich als solchen. Vor dem Spiegel stehend nehme ich den Körper als Spiegelbild wahr. So ist es - das selbstverständlich Ungenügende eines Vergleichs muß beachtet werden - mit der Sinneswahrnehmung. Ich lebe mit der Farbe außer meinem Leibe; durch die Tätigkeit des Leibes (des Auges, des Nervensystems) wird mir die Farbe zur bewußten Wahrnehmung gemacht. Nicht ein Hervorbringer der Wahrnehmungen, des Seelischen überhaupt, ist der Menschenleib, sondern ein Spiegelungsapparat dessen, was außerhalb des Leibes seelisch-geistig sich abspielt.“ (Lit.:GA 18, S. 606f)

„Wie kommt eigentlich die äußere Wahrnehmung zustande? Nun, nicht wahr, da denken die Menschen gewöhnlich - besonders Menschen, die sich sehr gescheit dünken - , daß die äußere Wahrnehmung dadurch zustande kommt, daß die Dinge draußen sind, der Mensch in seiner Haut steckt, daß die äußeren Dinge einen Eindruck auf ihn machen, und daß dadurch sein Gehirn ein Bild der äußeren Objekte und Formen in seinem Innern erzeugt. Nun, es ist ganz und gar nicht so, sondern es verhält sich ganz anders. In Wahrheit ist der Mensch gar nicht drinnen innerhalb seiner Haut [mit seinem Geistig-Seelischen]; das ist er gar nicht. Wenn der Mensch zum Beispiel dieses Rosen-Bukettchen sieht, so ist er mit seinem Ich und Astralleib in der Tat da drinnen in dem Bukettchen, und sein Organismus ist ein Spiegelungsapparat und spiegelt ihm die Dinge zurück. Sie sind in Wahrheit immer ausgebreitet über den Horizont, den Sie überschauen. Und im Wachbewußtsein stecken Sie eben mit einem wesentlichen Teil Ihres Ich und Astralleibes auch im physischen und ätherischen Leibe drinnen. Der Vorgang ist nun wirklich so - ich habe das oft in Vorträgen erwähnt - : Denken Sie sich, sie gingen in einem Zimmer herum, in dem eine Anzahl von Spiegeln an den Wänden angebracht wären. Sie können durch den Raum gehen. Wo Sie keinen Spiegel haben, sehen Sie sich selber nicht. Sobald Sie aber an einen Spiegel kommen, sehen Sie sich. Kommt eine Stelle ohne Spiegel, sehen Sie sich nicht, und wenn wieder ein Spiegel da ist, sehen Sie sich wieder. So ist es auch mit dem menschlichen Organismus. Er ist nicht der Erzeuger der Dinge, die wir in der Seele erleben, er ist nur der Spiegelungsapparat. Die Seele ist beisammen mit den Dingen da draußen, zum Beispiel hier mit diesem Rosen-Bukettchen. Daß die Seele das Bukettchen bewußt sieht, hängt davon ab, daß das Auge in Verbindung mit dem Gehirnapparat der Seele das zurückspiegelt, womit die Seele zusammenlebt. Und in der Nacht nimmt der Mensch nicht wahr, weil er, wenn er schläft, Ich und Astralleib aus seinem physischen und ätherischen Leib herauszieht, und diese dadurch aufhören, ein Spiegelungsapparat zu sein. Das Einschlafen ist so, als ob Sie einen Spiegel, den Sie vor sich hatten, wegnehmen. Solange Sie in den Spiegel hineinsehen können, haben Sie Ihr eigenes Antlitz vor sich; nehmen Sie den Spiegel weg, flugs ist nichts mehr da von Ihrem Antlitz.

So ist der Mensch in der Tat mit dem seelisch-geistigen Wesen in dem Teil der Welt, den er überschaut, und er sieht ihn dadurch bewußt, daß ihn sein Organismus spiegelt. Und in der Nacht wird dieser Spiegelungsapparat weggezogen, da sieht er nichts mehr. Der Teil der Welt, den wir sehen, der sind wir selbst.

Das ist eines der schlimmsten Stücke der Maja, daß der Mensch glaubt, er stecke mit seinem Geistig-Seelischen in seiner Haut. Das tut er nicht. In Wirklichkeit steckt er in den Dingen, die er sieht. Wenn ich einem Menschen gegenüberstehe, so stecke ich in ihm drinnen mit meinem Ich und Astralleib. Würde ich nicht meinen Organismus ihm entgegenhalten, so würde ich ihn nicht sehen. Daß ich ihn sehe, daran ist mein Organismus schuld, aber mit meinem Ich und Astralleib stecke ich in ihm drinnen. Daß man das nicht so ansieht, das gehört eben zu den, ich möchte sagen, verhängnisvollsten Dingen der Maja.

So verschaffen wir uns eine Art Begriff, wie das Wahrnehmen und das Erleben auf dem physischen Plan ist.“ (Lit.:GA 156, S. 22f)

Fälschlich wird zumeist angenommen, dass sich das, was wir als unser Ich bezeichnen, in unserem Körper befinde. Diesem Irrtum unterlag schon Descartes, als er von der res cogitans sprach. Im Körper ist das Ich aber nicht zu finden, sondern nur dessen irreales Spiegelbild - gerade darauf gründet sich die Freiheit des Menschen - denn ein Spiegelbild kann ihn zu nichts zwingen, hat keine kausale Macht. Unser wirkliches Ich lebt in der Außenwelt und ist dort unmittelbar mit den Wahrnehmungen verbunden. Darauf hat Rudolf Steiner schon in seinem 1911 gehaltenen Bologna-Vortrag hingewisen.

„Nun glaubt eine vorurteilsvolle Psychologie, Seelenlehre, daß dieses Ich eigentlich im Menschen drinnensitzt; da, wo seine Muskeln sind, sein Fleisch ist, seine Knochen sind und so weiter, da sei auch das Ich drinnen. Wenn man das Leben nur ein wenig überschauen würde, so würde man sehr bald wahrnehmen, daß es nicht so ist. Aber es ist schwer, eine solche Überlegung heute vor die Menschen hinzubringen. Ich habe es im Jahre 1911 schon versucht in meinem Vortrage auf dem Philosophenkongreß in Bologna. Aber diesen Vortrag hat ja bis heute keiner noch verstanden. Ich habe da versucht zu zeigen, wie es eigentlich mit dem Ich ist. Dieses Ich liegt eigentlich in jeder Wahrnehmung, das liegt eigentlich in alldem, was Eindruck auf uns macht. Nicht dadrinnen in meinem Fleische und in meinen Knochen liegt das Ich, sondern in demjenigen, was ich durch meine Augen wahrnehmen kann. Wenn Sie irgendwo eine rote Blume sehen: in Ihrem Ich, in Ihrem ganzen Erleben, das Sie ja haben, indem Sie an das Rot hingegeben sind, können Sie ja das Rot von der Blume nicht trennen. Mit alldem haben Sie ja zugleich das Ich gegeben, das Ich ist ja verbunden mit Ihrem Seeleninhalt. Aber Ihr Seeleninhalt, der ist doch nicht in Ihren Knochen! Ihren Seeleninhalt, den breiten Sie doch aus im ganzen Raume. Also dieses Ich, das ist noch weniger als die Luft in Ihnen, die Sie eben einatmen, noch weniger als die Luft, die vorher in Ihnen war. Dieses Ich ist ja verbunden mit jeder Wahrnehmung und mit alldem, was eigentlich im Grunde genommen außer Ihnen ist. Es betätigt sich nur im Inneren, weil es aus dem Wahrnehmen die Kräfte hineinschickt. Und ferner ist das Ich noch verbunden mit etwas anderem: Sie brauchen nur zu gehen, das heißt, Ihren Willen zu entwickeln. Da allerdings geht Ihr Ich mit, beziehungsweise das Ich nimmt an der Bewegung teil, und ob Sie langsam schleichen, ob Sie laufen, ob Sie im Kiebitzschritt sich bewegen oder irgendwie sich drehen und dergleichen, ob Sie tanzen oder springen, das Ich macht alles das mit. Alles was an Betätigung von Ihnen ausgeht, macht das Ich mit. Aber das ist ja auch nicht in Ihnen. Denken Sie, es nimmt Sie doch mit. Wenn Sie einen Reigen tanzen - glauben Sie, der Reigen ist in Ihnen? Der hätte ja gar nicht Platz in Ihnen! Wie hätte der Platz? Aber das Ich ist dabei, das Ich macht den Reigen mit. Also in Ihren Wahrnehmungen und in Ihrer Betätigung, da sitzt das Ich. Aber das ist eigentlich gar nie in Ihnen im vollen Sinne des Wortes, etwa so, wie Ihr Magen in Ihnen ist, sondern das ist eigentlich immer etwas, dieses Ich, was im Grunde außerhalb Ihrer ist. Es ist ebenso außerhalb des Kopfes, wie es außerhalb der Beine ist, nur daß es im Gehen sich sehr stark beteiligt an den Bewegungen, welche die Beine machen. Das Ich ist wirklich sehr stark beteiligt an der Bewegung, welche die Beine machen. Der Kopf aber, der ist an dem Ich weniger beteiligt.“ (Lit.:GA 205, S. 219f)

Über die vermeintliche Subjektivität der Wahrnehmung

Nach einer bis heute verbreiteten Ansicht wird den als Wahrnehmung gegebenen Sinnesqualitäten, den Qualia, namentlich den von John Locke so genannten sekundären Sinnesqualitäten, zu denen etwa Farben, Töne, Wärme-, Geschmacks- und Gerucheindrücke zählen (also die Sinnesmodalitäten der klassischen fünf Sinne), jeglicher objektive Charakter abgesprochen. Sie seien nur subjektive, durch die Sinnesorgane und das Gehirn bedingte Reaktionen auf äußere Reize, die als solche keine Ähnlichkeit mit den im Bewusstsein erlebten Sinnesqualitäten hätten. Untermauert wurde diese Ansicht wesentlich durch das von dem Biologen Johannes Müller 1826 aufgrund empirischer Untersuchungen formulierte Gesetz der spezifischen Sinnesenergien, wonach jedes Sinnesorgan, egal durch welche Art von Reiz es erregt wird (etwa mechanisch, durch Licht, Elektrizität usw.), stets mit der ihm eigentümlichen Sinnesmodalität antwortet. So liefert etwa das Auge, egal wie es gereizt wird, stets nur Hell/Dunkel- und Farbeindrücke, das Ohr nur Töne bzw. Geräusche usw.

Diese Ansicht beruht nach Rudolf Steiner auf einem grundlegenden Irrtum. Im Wesen der Sinnesorgane liege es gerade, dass sie sich in ihrem Eigenwesen so weit zurücknehmen, dass sie gleichsam völlig durchsichtig für die objektiv gegebenen Wahrnehmungen sind. Und das gilt nicht nur für das Auge, sondern für alle Sinne. Es sei eben überhaupt völlig verkehrt, davon auszugehen, dass die im Bewusstsein erlebte Wahrnehmung eine bloß subjektive Reaktion auf den objektiv gegebenen Reiz sei. Vielmehr reicht die Außenwelt durch die äußeren Sinnensorgane wie durch eine Anzahl von Golfen in unseren Organismus herein. Und da die menschlichen Sinnesorgane im Prinzip wie physikalische Apparate funktionieren, wird ihre Tätigkeit auch nicht durch das innere Leibesleben gestört, wie das bei den Tieren noch vielfach der Fall ist:

„In den Organen, die wir für die Sinne haben, ist etwas in den Menschenleib hineingebaut, das von dem allgemeinen inneren Leben dieses Menschenleibes bis zu einem gewissen Grade ausgeschlossen ist. Symbolisch dafür können Sie das Beispiel des Auges betrachten. Das Auge ist fast wie ein ganz selbständiges Wesen in unseren Schädelorganismus hineingebaut, hängt nur durch gewisse Organe mit dem Innern des gesamten Organismus zusammen. Das Ganze könnte im einzelnen geschildert werden, das ist aber für unsere heutige Betrachtung nicht notwendig. Aber eine gewisse Selbständigkeit liegt vor. Und solche Selbständigkeit liegt in Wahrheit für alle Sinnesorgane vor. So daß, was eben niemals berücksichtigt wird, bei der sinnlichen Wahrnehmung, bei der sinnlichen Empfindung etwas ganz Besonderes geschieht. Die sinnliche Außenwelt setzt sich durch unsere Sinnesorgane in unsere eigenen Organe hinein fort. Was da draußen durch Licht und Farbe geschieht, oder besser gesagt, in Licht und Farbe vorgeht, das setzt sich durch unser Auge so in unseren Organismus hinein fort, daß das Leben unseres Organismus zunächst nicht daran teilnimmt. Also Licht und Farbe kommen so in unser Auge, daß das Leben des Organismus, ich möchte sagen, das Hereindringen dessen, was draußen geschieht, nicht hindert. Dadurch dringt wie in einer Anzahl von Golfen der Fluß des äußeren Geschehens durch unsere Sinne bis zu einem gewissen Teile in unseren Organismus ein. Nun nimmt an dem, was da eindringt, zunächst teil die Seele, indem sie das, was von außen unlebendig eindringt, selbst erst belebt. Dies ist eine außerordentlich wichtige Wahrheit, die durch die Geisteswissenschaft zutage tritt. Indem wir sinnlich wahrnehmen, üben wir fortwährend Belebung desjenigen, was aus dem Fluß der äußeren Ereignisse in unseren Leib hinein sich fortsetzt. Die Sinnesempfindung ist ein wirkliches lebendiges Durchdringen, ja sogar Beleben desjenigen, was als Totes sich in unsere Organisation herein fortsetzt. Dadurch aber habenfwir in der Sinnesempfindung wirklich die objektive Welt unmittelbar in uns, und indem wir seelisch sie verarbeiten, erleben wir sie. Dies ist der wirkliche Vorgang, und das ist außerordentlich wichtig. Denn mit Bezug auf die Sinnesempfindung läßt sich nicht sagen, daß sie nur ein Eindruck ist, daß sie nur eine Wirkung von außen ist; dasjenige, was äußerlich vorgeht, geht wirklich bis in unser Inneres herein, leiblich, wird in die Seele aufgenommen und mit Leben durchdrungen. In den Sinnesorganen haben wir etwas, worinnen die Seele lebt, ohne daß im Grunde unser eigener Leib darinnen unmittelbar lebt. Man wird einmal auch naturwissenschaftlich den Vorstellungen, die ich jetzt entwickelt habe, näher kommen, wenn man vergleichend sich richtige Anschauungen bilden wird über die Tatsache, daß bei gewissen Tierarten in den Augen - und das wird man auf alle Sinne ausdehnen können - gewisse Organe sind, die beim Menschen nicht mehr sind. Das menschliche Auge ist einfacher als die Augen niederer Tiere, ja sogar ihm sehr nahestehender Tiere. Wenn man einmal sich fragen wird: Warum haben zum Beispiel gewisse Tiere noch den sogenannten Fächer im Auge, ein besonderes Organ aus Blutgefäßen, warum haben andere den sogenannten Schwertfortsatz, wiederum ein Organ aus Blutgefäßen? dann wird man darauf kommen, daß im tierischen Organismus, indem diese Organe in die Sinne hereinragen, das unmittelbare Leibesleben noch teilnimmt an dem, was in den Sinnen sich abspielt als Fortsetzung der Außenwelt. Daher ist die Sinneswahrnehmung des Tieres durchaus nicht so, daß man sagen kann, das Seelische erlebt unmittelbar die hereinragende Außenwelt. Denn das Seelische in seinem Werkzeuge, dem Leib, durchdringt da noch das Sinnesorgan; das leibliche Leben durchsetzt das Sinnesorgan. Gerade dadurch aber, daß die menschlichen Sinne so gestaltet sind, daß sie seelisch belebt werden, ist für denjenigen, der die Sinnesempfindung wirklich in ihrer Wesenheit erfaßt, klar, daß wir in der Sinnesempfindung äußere Wirklichkeit haben. Dagegen kommt aller Kantianismus, Schopenhauerianismus, alle moderne Physiologie nicht auf, weil diese Wissenschaften noch gar nicht dazu geeignet sind, ihre Begriffe bis zu einer regelrechten Auffassung der Sinnesempfindung vordringen zu lassen. Erst indem das, was sich im Sinnesorgan abspielt, in das tiefere Nervensystem, das Gehirnsystem, aufgenommen wird, erst dadurch geht es über in dasjenige, wo das Leibesleben unmittelbar eindringt, und daher inneres Geschehen vor sich geht. So daß der Mensch den Sinnenbezirk äußerlich hat, und innerhalb dieses Sinnenbezirkes gleichsam die Zone gegenüber der Außenwelt, wo diese Außenwelt rein an ihn herantreten kann, insofern sie eben auf die Sinne wirken kann.“ (Lit.:GA 66, S. 125ff)

Die Unterscheidung zwischen subjektiv und objektiv ist nicht durch die Wahrnehmung, sondern erst durch das Denken gegeben - und dieses zeigt, dass die Eigenart der Sinnesorgane gerade darin besteht, dass sie sich in ihrem Eigenwesen soweit ausschalten, dass sie dem Bewusstsein den Zugang zu der objektiv gegebenen Wahrnehmung eröffnen.

„Einen roten Apfel zu sehen heißt nicht, irgendeine Empfindung zu haben noch einen Klang zu hören oder einen Geruch zu riechen. Man hat und fühlt Empfindungen in einem Teil seines Körpers, man empfindet normalerweise jedoch nichts in seinen Augen, wenn man etwas sieht, in seinen Ohren, wenn man etwas hört, in seiner Nase, wenn man etwas riecht. Empfindungen können in Wahrnehmungsorganen gehabt werden. Die eigenen Augen können jucken, die eigenen Ohren wehtun – diese Empfindungen gehen jedoch nicht auf die Ausübung des Wahrnehmungsvermögens zurück. Es kann sein, dass Empfindungen in Wahrnehmungsorganen gehabt werden und von deren Gebrauch herrühren. Wenn man in ein blendendes Licht schaut, hat man eine Blendungs-Empfindung und es tun einem manchmal die Augen weh; wenn man ein sehr lautes Geräusch hört, hat man eine Betäubungs-Empfindung. Weit entfernt davon, die Wahrnehmung hervorzurufen, handelt es sich bei diesen Empfindungen um Begleiterscheinungen der Wahrnehmung und um Hindernisse für sie.“ (Lit.: Bennett, Hacker 2010, S. 300f.)

In seinen «Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften» (GA 1) schreibt Rudolf Steiner:

„Was kann als «subjektiv» an der Wahrnehmung bezeichnet werden? Ohne eine genaue Analyse des Begriffes «subjektiv» zu haben, kann man überhaupt gar nicht vorwärts schreiten. Die Subjektivität kann natürlich durch nichts anderes als durch sich selbst bestimmt werden. Alles, was nicht durch das Subjekt bedingt nachgewiesen werden kann, darf nicht als «subjektiv» bezeichnet werden. Nun müssen wir uns fragen: Was können wir als dem menschlichen Subjekte eigen bezeichnen? Das, was es an sich selbst durch äußere oder innere Wahrnehmung erfahren kann. Durch äußere Wahrnehmung erfassen wir die körperliche Konstitution, durch innere Erfahrung unser eigenes Denken, Fühlen und Wollen. Was ist nun in ersterer Hinsicht als subjektiv zu bezeichnen? Die Konstitution des ganzen Organismus, also auch der Sinnesorgane und des Gehirnes, die wahrscheinlich bei jedem Menschen in etwas anderer Modifikation erscheinen werden. Alles aber, was hier auf diesem Wege nachgewiesen werden kann, ist nur eine bestimmte Gestaltung in der Anordnung und Funktion der Substanzen, wodurch die Empfindung vermittelt wird. Subjektiv ist also eigentlich nur der Weg, den die Empfindung durchzumachen hat, bevor sie meine Empfindung genannt werden kann. Unsere Organisation vermittelt die Empfindung und diese Vermittlungswege sind subjektiv; die Empfindung selbst aber ist es nicht.

Nun bliebe also der Weg der inneren Erfahrung. Was erfahre ich in meinem Innern, wenn ich eine Empfindung als die meinige bezeichne? Ich erfahre, dass ich die Beziehung auf meine Individualität in meinem Denken vollziehe, dass ich mein Wissensgebiet auf diese Empfindung erstrecke; aber ich bin mir dessen nicht bewusst, dass ich den Inhalt der Empfindung erzeuge. Nur den Bezug zu mir stelle ich fest, die Qualität der Empfindung ist eine in sich begründete Tatsache.

Wo wir auch anfangen, innen oder außen, wir kommen nicht bis zur Stelle, wo wir sagen könnten: Hier ist der subjektive Charakter der Empfindung gegeben. Auf den Inhalt der Empfindung ist der Begriff «subjektiv» nicht anwendbar.“ (Lit.:GA 1, S. 255)

Der Reiz als solcher hat mit der objektiv gegebenen Wahrnehmungsqualität unmittelbar gar nichts zu tun, sondern schafft nur die Gelegenheit, dass diese wahrgenommen werden kann. So hat etwa die auf das Auge eintreffende elektromagnetische Welle spezifischer Wellenlänge unmittelbar nichts mit der erlebten Farbqualität zu tun, aber sie bildet zusammen mit dem Auge als Sinnesorgan die notwendige Voraussetzung dafür, dass die Farbe sinnlich wahrgenommen werden kann. Diese ist nicht weniger objektiv gegeben als die elektromagnetische Welle, die dem Bewusstsein gleichsam nur den Weg bahnt, sich mit der Farbe wahrnehmend zu verbinden. Das Auge ist aber ein Wahrnehmungsorgan für die Farben und nicht für die elektromagnetische Welle, denn diese wird durch das Auge eben gerade nicht wahrgenommen, sondern vollständig ausgeblendet. Darin liegt auch die Schwierigkeit, die Physiker zumeist mit Goethes Farbenlehre haben, denn diese beschäftigt sich unmittelbar mit den Farben und nicht mit den elektromagnetischen Wellen, die in der Physik mittels geeigneter Messinstrumente untersucht werden. Es ist sogar sehr charakteristisch für den Menschen, dass er kein unmittelbares Wahrnehmungsorgan für elektromagnetische Vorgänge hat, sondern diese nur durch entsprechende Messgeräte indirekt registrieren kann.

„Die angeführte Beobachtung beweist nur, daß der sinn- und geistbegabte Organismus die verschiedenartigsten Eindrücke in die Sprache der Sinne übersetzen kann, auf die sie ausgeübt werden. Nicht aber, daß der Inhalt jeder Sinnesempfindung auch nur im Innern des Organismus vorhanden ist. Bei einer Zerrung des Sehnervs entsteht eine unbestimmte, ganz allgemeine Erregung, die nichts enthält, was veranlaßt, ihren Inhalt in den Raum hinaus zu versetzen. Eine Empfindung, die durch einen wirklichen Lichteindruck entsteht, ist inhaltlich unzertrennlich verbunden mit dem Räumlich-Zeitlichen, das ihr entspricht. Die Bewegung eines Körpers und seine Farbe sind auf ganz gleiche Weise Wahmehmungsinhalt. Wenn man die Bewegung für sich vorstellt, so abstrahiert man von dem, was man noch sonst an dem Körper wahrnimmt. Wie die Bewegung, so sind alle übrigen mechanischen und mathematischen Vorstellungen der Wahrnehmungswelt entnommen. Mathematik und Mechanik entstehen dadurch, daß von dem Inhalte der Wahrnehmungswelt ein Teil ausgesondert und für sich betrachtet wird. In der Wirklichkeit gibt es keine Gegenstände oder Vorgänge, deren Inhalt erschöpft ist, wenn man das an ihnen begriffen hat, was durch Mathematik und Mechanik auszudrücken ist. Alles Mathematische und Mechanische ist an Farbe, Wärme und andere Qualitäten gebunden. Wenn der Physik nötig ist, anzunehmen, daß der Wahrnehmung einer Farbe Schwingungen im Raume entsprechen, denen eine sehr kleine Ausdehnung und eine sehr große Geschwindigkeit eigen ist, so können diese Bewegungen nur analog den Bewegungen gedacht werden, die sichtbar im Raume vorgehen. Das heißt, wenn die Körperwelt bis in ihre kleinsten Elemente bewegt gedacht wird, so muß sie auch bis in ihre kleinsten Elemente hinein mit Farbe, Wärme und andern Eigenschaften ausgestattet vorgestellt werden. Wer Farben, Wärme, Töne usw. als Qualitäten auffaßt, die als Wirkungen äußerer Vorgänge durch den vorstellenden Organismus nur im Innern desselben existieren, der muß auch alles Mathematische und Mechanische, das mit diesen Qualitäten zusammenhängt, in dieses Innere verlegen. Dann aber bleibt ihm für seine Außenwelt nichts mehr übrig. Das Rot, das ich sehe, und die Lichtschwingungen die der Physiker als diesem Rot entsprechend nachweist, sind in Wirklichkeit eine Einheit, die nur der abstrahierende Verstand voneinander trennen kann. Die Schwingungen im Raume, die der Qualität «Rot» entsprechen, würde ich als Bewegung sehen, wenn mein Auge dazu organisiert wäre. Aber ich würde verbunden mit der Bewegung den Eindruck der roten Farbe haben.

Die moderne Naturwissenschaft versetzt ein unwirkliches Abstraktum, ein aller Empfindungsqualitäten entkleidetes, schwingendes Substrat in den Raum und wundert sich, daß nicht begriffen werden kann, was den vorstellenden mit Nervenapparaten und Gehirn ausgestatteten Organismus veranlassen kann, diese gleichgültigen Bewegungsvorgänge in die bunte, von Wärmegraden und Tönen durchsetzte Sinnenwelt zu übersetzen. Du Bois-Reymond nimmt deshalb an, daß der Mensch wegen einer unüberschreitbaren Grenze seines Erkennens nie verstehen werde, wie die Tatsache: «ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot», zusammenhängt mit bestimmten Bewegungen kleinster Körperteile im Gehirn, welche Bewegungen wieder veranlaßt werden durch die Schwingungen der geschmack-, geruch-, ton- und farbenlosen Elemente der äußeren Körperwelt. «Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden.» («Grenzen des Naturerkennens», Leipzig 1882, S.33f.) Es liegt aber hier durchaus keine Erkenntnisgrenze vor. Wo im Raume eine Anzahl von Atomen in einer bestimmten Bewegung ist, da ist notwendig auch eine bestimmte Qualität (z.B. Rot) vorhanden. Und umgekehrt, wo Rot auftritt, da muß die Bewegung vorhanden sein. Nur das abstrahierende Denken kann das eine von dem andern trennen. Wer die Bewegung von dem übrigen Inhalte des Vorganges, zu dem die Bewegung gehört, in der Wirklichkeit abgetrennt denkt, der kann den Übergang von dem einen zu dem andern nicht wieder finden.

Nur was an einem Vorgang Bewegung ist, kann wieder von Bewegung abgeleitet werden; was dem Qualitativen der Farben- und Lichtwelt angehört, kann auch nur auf ein ebensolches Qualitatives innerhalb desselben Gebietes zurückgeführt werden. Die Mechanik führt zusammengesetzte Bewegungen auf einfache zurück, die unmittelbar begreiflich sind. Die Farbentheorie muß komplizierte Farbenerscheinungen auf einfache zurückführen, die in gleicher Weise durchschaut werden können. Ein einfacher Bewegungsvorgang ist ebenso ein Urphänomen, wie das Entstehen des Gelben aus dem Zusammenwirken von Hell und Dunkel. Goethe weiß, was die mechanischen Urphänomene für die Erklärung der unorganischen Natur leisten können. Was innerhalb der Körperwelt nicht mechanisch ist, das führt er auf Urphänomene zurück, die nicht mechanischer Art sind.“ (Lit.:GA 6, S. 171ff)

„In Anbetracht solcher Fragen wie etwa der nach der «Subjektivität der Wahrnehmung», liegt in der jüngsten philosophischen Entwickelung ein vielfaches Konfundieren der Vorstellungen vor, ein Anhäufen von Begriffen, die eher die Probleme verdunkeln und verknäueln, als daß sie sie erhellen und zu einer gewissen Lösung führen würden.

Es handelt sich nämlich in dem Augenblick, wo man Fragen aufwerfen will, die das Verhältnis von Objekt und Subjekt im Wahrnehmen vorstellend und erkenntnisgemäß betreffen, immer darum, durch eine sorgfältigste Analyse desjenigen, was der Tatbestand ist, darauf zu kommen, wie die Fragen eigentlich gestellt werden müssen. Denn oft werden schon die Fragen aus irrtümlich gerichteten Vorstellungen falsch formuliert. Und so ist es vielfach mit den Fragen nach der «Subjektivität der Wahrnehmung». Da wurde auf die Schwierigkeit mit dem partiell Farbenblinden hingedeutet, von dem vorausgesetzt ist, daß er eine, sagen wir, grüne Landschaft anders sehe als der sogenannte normal Sehende. In dieser Vorstellung des partiell Farbenblinden liegt die Schwierigkeit vor: inwieweit muß man dem, was nun auch der sogenannte normal Sehende, ich sage ganz ausdrücklich: der sogenannte normal Sehende, sieht, Subjektivität beimessen?

Nun, da handelt es sich darum, daß man sich zunächst das ganze Problem so vor Augen führen kann, daß es richtig erscheint. «Richtig» bedeutet, daß die Art, wie man die Elemente, die zur Problemstellung zusammengeführt werden müssen, daß man dieses Wie des Zusammenführens in der rechten Weise bewirkt. Nehmen Sie nur einmal an, wenn irgend jemand sagt: Ja, die Außenwelt, die mir also, sagen wir, in einer grünen Landschaft mit einer grünen Tingierung erscheint, gibt mir Veranlassung dazu, nachzudenken, ob nun die Qualität «grün» objektiv ist, ob ich sie der Welt der Objektivität zuschreiben dürfe, oder ob sie als subjektiv angesprochen werden müsse. — Dann muß man sich, um überhaupt zur Problemstellung zu kommen, solche Dinge überlegen, wie zum Beispiel dieses: Ja, wie verhält sich nun die Sache, wenn ich irgend etwas, was meinetwillen weiß oder gelb ist, durch eine grüne Brille ansehe? Da sehen wir es grün tingiert. Ist das nun der Sphäre der Objektivität zuzuschreiben, oder hat man da von Subjektivität zu sprechen? Man wird sehr bald bemerken, daß man ganz gewiß nicht dem, was da draußen ist, dieses Grün, das ich durch eine grüne Brille sehe, wird zuschreiben dürfen. Man wird nicht von Objektivität in bezug auf die äußere Umwelt sprechen können. Aber man wird doch auch ganz gewiß nicht davon sprechen können, daß diese grüne Tingierung, die ich da herausbekommen habe durch eine grüne Brille, auf irgend etwas Subjektivem beruht. Sie ist durchaus gesetzmäßig objektiv bedingt, ohne daß dasjenige, was ich hier als grün bezeichne, wirklich grün ist.

Sie sehen, ich stelle damit, daß ich mir eine Vorstellung bilde, ich möchte sagen, das Problem in ein besonderes Licht hin, wo ich dasjenige, was ganz gewiß nicht der Außenwelt angehört, doch objektiv, als auf objektive Art entstanden nehmen muß; denn die Brille gehört nicht zu mir, kann also ganz gewiß nicht in die Sphäre der Subjektivität einbezogen werden. Solche Dinge könnten sogar sophistisch erscheinen. Und dennoch sind solche Sophismen sogar sehr häufig das, was einen darauf bringt, die Elemente, die einen darauf führen sollen, die Fragen in entsprechender Weise zu stellen, auch zusammenzubringen.

Man wird nämlich, wenn man solche scheinbaren Sophismen in der richtigen Weise durchschaut, die ganze Fadenscheinigkeit der Alltagsbegriffe «Subjekt» und «Objekt», die allmählich in die moderne philosophische Betrachtung hineingebracht worden sind, durchschauen. Und man wird, wenn man in eine richtige Fragestellung hineinkommt, wohl immer mehr und mehr zu dem Weg, wie ich glaube, geführt werden, den ich in meinen Schriften «Wahrheit und Wissenschaft» und «Philosophie der Freiheit» eingeschlagen habe, wo man überhaupt zunächst nicht den Ausgangspunkt nimmt von den Begriffen «Subjekt» und «Objekt», sondern wo man unabhängig von diesen Begriffen etwas sucht, was über die Sphäre der Subjektivität und Objektivität hinaus gelegen sein muß: das ist die Funktion des Denkens.

Die Funktion des Denkens! Wenn man die Sache unabhängig durchschaut, erscheint einem das Denken eigentlich über das Subjektive und Objektive durchaus hinausliegend. Und damit hat man einen Ausgangspunkt gewonnen, von dem aus man dann auch in entsprechender Weise da geführt werden kann, wo es sich um das solche Schwierigkeiten bietende Problem der «Subjektivität» und «Objektivität» handelt. Denn man wird dann dazu geführt - und Sie werden diesen Weg in diesen meinen beiden Büchern durchaus eingehalten finden -, nicht zu fragen: Wie wirkt eine äußere «objektive» Welt auf irgendeine «subjektive» Welt, für die etwa der Vermittler, sagen wir, das Auge ist? - sondern man wird zu etwas ganz anderem geführt. Man wird nämlich dazu geführt, sich zu fragen: Wie ist denn die Tatsache der Sinne selber? Welche Wesenhaftigkeit zeigt einem der Sinn? Also zum Beispiel die Konstitution des Auges?

Man wird dann finden, daß in dem Problem, das man sich so stellt, etwas zutage tritt, das ich jetzt, weil ich kurz sein muß - es könnte natürlich in einer stundenlangen Erläuterung auch mit dem adäquaten Begriff umfaßt werden -, durch einen Vergleich klarmachen will: Ich kann auch durch eine Brille schauen und dennoch die Umwelt so sehen, wie das naive Bewußtsein sie als wirklich empfindet, mit ihren Farbentingierungen, mit allen ihren Sinnesqualitäten. Ich muß nur durch eine farblos-durchsichtige Brille schauen; ich darf nicht durch eine Brille schauen, die mir die Außenwelt selber verändert. Und ich muß mich jetzt hineinfinden in den Unterschied zwischen einer die äußere Tingierung verändernden Brille und einer farblos durchsichtigen Brille, die jede äußere Tingierung vermeidet. Von diesem Vergleich aus - wie gesagt, es könnten langatmige Überlegungen anstelle des Vergleichs gesetzt werden - werde ich finden: wenn ich die Einrichtung des sogenannten normalen Auges nehme, habe ich in ihm eine Einrichtung gegeben, die sich gerade als durchsichtig erweist, die sich vergleichen läßt mit dem durchsichtig-farblosen Glase. Ich finde nichts im normalen Auge, was darauf hinweist, daß die Außenwelt qualitativ in irgendeiner Weise verändert wird. Aber ich muß diese Untersuchung anstellen nicht mit den gewöhnlichen Begriffen, die ich im alltäglichen Bewußtsein habe, sondern mit dem imaginativen Bewußtsein, das wirklich in die Einrichtungen des Auges eindringen kann.

Für das imaginative Bewußtsein ist ein sogenanntes normales Auge ein durchsichtiges Organ. Ein Auge, das partiell farbenblind ist, das erweist sich für das imaginative Bewußtsein als in einer gewissen Weise vergleichbar mit einer farbigen Brille, als etwas, das allerdings eine Veränderung vornimmt in dem «Subjekt».

So kommt man — indem man die Subjektivität aber in einer höheren Auffassung auffaßt - gerade darauf, die Sinnesapparate im weitesten Umfange als dasjenige anzusehen, was sich vergleichen läßt mit dem Durchsichtigen, was gerade so eingerichtet ist, daß es die eigene Produktion der Sinnesqualitäten in sich aufhebt. Man lernt als eine reine Phantasterei die Vorstellung erkennen, als ob in diesem ideell Durchsichtigen - das gerade so eingerichtet ist, daß es irgendeine Produktion der Sinnesqualitäten in sich aufhebt —, in diesem ideell durchsichtigen Sinnesapparat irgend etwas auftreten könnte, was Sinnesqualitäten erst hervorriefe, was zu etwas anderem da wäre als den Sinnesqualitäten den Durchgang zu lassen.“ (Lit.:GA 76, S. 44ff)

In seinem 1911 gehaltenen, richtungsweisenden Bologna-Vortrag ergänzte Rudolf Steiner:

„Für die Erkenntnistheorie unserer Zeit ist es immer mehr zu einer Art Axiom geworden, daß in dem Bewußtseinsinhalte zunächst nur Bilder, oder gar nur «Zeichen» (Helmholtz) des Transzendent-Wirklichen gegeben seien. Es braucht hier nicht auseinandergesetzt zu werden, wie die kritische Philosophie und die Physiologie («spezifische Sinnesenergien», Ansichten von Johannes Müller und seiner Nachfolger) zusammengewirkt haben, um eine solche Vorstellung zu einer scheinbar unabweislichen zu machen. Der «naive Realismus», welcher in den Erscheinungen des Bewußtseinshorizontes etwas anderes sieht als Repräsentanten subjektiver Art für ein Objektives, galt in der philosophischen Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts als eine für alle Zeit überwundene Sache. Aus dem aber, was dieser Vorstellung zu Grunde liegt, ergibt sich fast mit Selbstverständlichkeit die Ablehnung des theosophischen Gesichtspunktes. Dieser kann ja für den kritischen Standpunkt nur als ein unmögliches Überspringen der im Wesen des Bewußtseins liegenden Grenzen angesehen werden. Wenn man eine unermeßlich große, scharfsinnige Ausprägung von kritischer Erkenntnistheorie auf eine einfache Formel bringen will, so kann man etwa sagen: Der kritische Philosoph sieht in den Tatsachen des Bewußtseinshorizontes zunächst Vorstellungen, Bilder oder Zeichen, und eine mögliche Beziehung zu einem Transzendent-Äußeren könne nur innerhalb des denkenden Bewußtseins gefunden werden. Das Bewußtsein könne sich eben nicht selber überspringen, könne nicht aus sich heraus, um in ein Transzendentes unterzutauchen. Solch eine Vorstellung hat in der Tat etwas an sich, was wie eine Selbstverständlichkeit erscheint. Und dennoch - sie beruht auf einer Voraussetzung, die man nur zu durchschauen braucht, um sie abzuweisen. Es klingt ja fast paradox, wenn man dem subjektiven Idealismus, der sich in der gekennzeichneten Vorstellung ausspricht, einen versteckten Materialismus vorwirft. Und doch kann man nicht anders. Es möge, was hier gesagt werden kann, durch einen Vergleich veranschaulicht werden. Man nehme Siegellack und drücke darin mit einem Petschaft einen Namen ab. Der Name ist mit allem, worauf es bei ihm ankommt, von dem Petschaft in den Siegellack übergegangen. Was nicht aus dem Petschaft in das Siegellack hinüberwandern kann, ist das Metall des Petschafts. Man setze statt Siegellack das Seelenleben des Menschen und statt Petschaft das Transzendente. Es wird dann sofort ersichtlich, daß man von einer Unmöglichkeit des Herüberwanderns des Transzendenten in die Vorstellung nur sprechen kann, wenn man sich den objektiven Inhalt des Transzendenten nicht spirituell denkt, was dann in Analogie mit dem vollkommen in das Siegellack herübergenommenen Namen zu denken wäre. Man muß vielmehr die Voraussetzung zum Behufe des kritischen Idealismus machen, daß der Inhalt des Transzendenten in Analogie zu denken sei zum Metall des Petschaftes. Das aber kann gar nicht anders geschehen, als wenn man die versteckte materialistische Voraussetzung macht, das Transzendente müsse durch ein materiell gedachtes Herüberfließen in die Vorstellung von dieser aufgenommen werden. In dem Falle, daß das Transzendente ein spirituelles ist, ist der Gedanke eines Aufnehmens desselben von der Vorstellung absolut möglich.“ (Lit.:GA 35, S. 136f)

Helmholtz sagt: Was der Mensch vor sich hat, ist aus seiner Organisation herausgesponnen. Was wir von dem Ding wahrnehmen, ist nicht einmal ein Bild, sondern nur ein Zeichen. Das Auge macht nur Wahrnehmungen an der Oberfläche. Der Mensch ist ganz in seine Subjektivität eingesponnen. Das Ding an sich bleibt unbekannt. - So mußte es werden. Der Nominalismus hat das Geistige hinter der Oberfläche verloren. Das menschliche Innere ist entkräftet worden. Das innere Arbeiten wird rein formal. Wenn der Mensch hinter die Wirklichkeit dringen will, so gibt ihm sein Inneres keine Antwort. Das ganze philosophische Denken des 19. Jahrhunderts findet sich da nicht heraus. Hartmann zum Beispiel kommt über die Vorstellung nicht hinaus. Ein einfacher Vergleich kann darüber aufklären. Ein Petschaft enthält den Namen Müller. Es kann nichts, auch nicht das kleinste Stoffliche vom Messing des Petschafts in den Siegellack kommen. Folglich kann nichts Objektives aus dem Petschaft hinüberkommen; der Name Müller muß sich aus dem Siegellack bilden. Der Denker ist der Siegellack. Nichts geht über vom Objekt auf den Denker. Und doch ist der Name Müller im Siegellack. So nehmen wir den Inhalt aus der objektiven Welt heraus, dennoch ist es der wahre Inhalt, den wir herausnehmen. Wenn man bloß das Materielle nimmt, ist es richtig: es kommt nichts vom Siegellack ins Petschaft und umgekehrt. Sobald man aber den Geist sieht, das höhere Prinzip, der das Objektive und Subjektive umfassen kann, da geht der Geist ein und aus ins Subjektive und Objektive. Der Geist trägt herüber alles aus der Objektivität in die Subjektivität. Das Ich ist objektiv und subjektiv in sich selbst. Das hat Fichte gezeigt.“ (Lit.:GA 108, S. 194f)

Reine Wahrnehmung

«Das unmittelbar gegebene Weltbild»

Die reine Wahrnehmung ist nur solange gegeben, als sich der Mensch des Denkens enthält. Die Welt erscheint dann als zusammenhangloses Aggregat von Empfindungsobjekten. Alles, die sinnliche Welt und ebenso seelische und geistige Erlebnisse, ja alle Träume, Visionen und Halluzinationen, sind uns zunächst als Wahrnehmung gegeben. Das nennt Steiner das unmittelbar gegebene Weltbild. In welchem Verhältnis sie zur Wirklichkeit stehen, ob wir es mit einem realen Sein oder bloßem Schein zu tun haben, darüber kann uns erst das Denken aufklären. Erst indem wir die Wahrnehmung denkend mit dem zugehörigen Begriff durchdringen, stoßen wir zur Wirklichkeit vor.

„Ein solcher Anfang kann aber nur mit dem unmittelbar gegebenen Weltbilde gemacht werden, d.i. jenem Weltbilde, das dem Menschen vorliegt, bevor er es in irgendeiner Weise dem Erkenntnisprozesse unterworfen hat, also bevor er auch nur die allergeringste Aussage über dasselbe gemacht, die allergeringste gedankliche Bestimmung mit demselben vorgenommen hat. Was da an uns vorüberzieht, und woran wir vorüberziehen, dieses zusammenhanglose und doch auch nicht in individuelle Einzelheiten gesonderte (1) Weltbild, in dem nichts voneinander unterschieden, nichts aufeinander bezogen ist, nichts durch ein anderes bestimmt erscheint: das ist das unmittelbar Gegebene. Auf dieser Stufe des Daseins - wenn wir diesen Ausdruck gebrauchen dürfen - ist kein Gegenstand, kein Geschehnis wichtiger, bedeutungsvoller als ein anderer bzw. ein anderes. Das rudimentäre Organ des Tieres, das vielleicht für eine spätere, schon durch das Erkennen erhellte Stufe des Daseins ohne alle Bedeutung für die Entwicklung und das Leben desselben ist, steht gerade mit demselben Anspruch auf Beachtung da, wie der edelste, notwendigste Teil des Organismus. Vor aller erkennenden Tätigkeit stellt sich im Weltbilde nichts als Substanz, nichts als Akzidenz, nichts als Ursache oder Wirkung dar; die Gegensätze von Materie und Geist, von Leib und Seele sind noch nicht geschaffen. Aber auch jedes andere Prädikat müssen wir von dem auf dieser Stufe festgehaltenen Weltbilde fernhalten. Es kann weder als Wirklichkeit noch als Schein, weder als subjektiv noch als objektiv, weder als zufällig noch als notwendig aufgefasst werden; ob es «Ding an sich» oder bloße Vorstellung ist, darüber ist auf dieser Stufe nicht zu entscheiden. Denn dass die Erkenntnisse der Physik und Physiologie, die zur Subsummierung des Gegebenen unter eine der obigen Kategorien verleiten, nicht an die Spitze der Erkenntnistheorie gestellt werden dürfen, haben wir bereits gesehen.

Wenn ein Wesen mit vollentwickelter, menschlicher Intelligenz plötzlich aus dem Nichts geschaffen würde und der Welt gegenüberträte, so wäre der erste Eindruck, den letztere auf seine Sinne und sein Denken machte, etwa das, was wir mit dem unmittelbar gegebenen Weltbilde bezeichnen. Dem Menschen liegt dasselbe allerdings in keinem Augenblicke seines Lebens in dieser Gestalt wirklich vor; es ist in seiner Entwicklung nirgends eine Grenze zwischen reinem, passiven Hinauswenden zum unmittelbar Gegebenen und dem denkenden Erkennen desselben vorhanden. Dieser Umstand könnte Bedenken gegen unsere Aufstellung eines Anfangs der Erkenntnistheorie erregen.“ (Lit.:GA 3, S. 49ff)

Zu dem unmittelbar Gegebenen rechnet Rudolf Steiner auch Vorstellungen, Begriffe und Ideen. Sie existieren zwar grundsätzlich nur als Ergebnis eines Erkenntnisprozesses, erscheinen aber als gegeben, insofern sie nicht bewusst durch das eigene Denken aktuell hervorgebracht, sondern fertig dem Gedächtnis entnommen werden. Tatsächlich ist praktisch alles, was uns alltägliches als Gegebenes erscheint, ohne dass uns das bewusst wird, bereits reichlich mit Begriffen und Ideen durchsetzt, die wir uns im Lauf unseres Lebens erworben haben.

Auch alle Illusionen und Halluzinationen sind zunächst unmittbar gegeben; ihr wahrer Charakter enthüllt sich erst durch das Denken.

„In diesem unmittelbar gegebenen Weltinhalt ist nun alles eingeschlossen, was überhaupt innerhalb des Horizontes unserer Erlebnisse im weitesten Sinne auftauchen kann: Empfindungen, Wahrnehmungen, Anschauungen, Gefühle, Willensakte, Traum- und Phantasiegebilde, Vorstellungen, Begriffe und Ideen.

Auch die Illusionen und Halluzinationen stehen auf dieser Stufe ganz gleichberechtigt da mit anderen Teilen des Weltinhalts. Denn welches Verhältnis dieselben zu anderen Wahrnehmungen haben, das kann erst die erkennende Betrachtung lehren.“ (Lit.:GA 3, S. 55)

Die Grenze zwischen dem Gegebenen und dem Erkannten ist nach dem eben Gesagten nicht von vornherein fertig gegeben, sondern muss künstlich immer wieder neu gezogen werden. Wenn wir etwa einen Stein, ein Rose, einen Hund usw. als Stein, Rose bzw. Hund wahrnehmen, so ist diese Wahrnehmung bereits mit den entspreche Begriffen durchsetzt. Diese Begriffe müssen wir erst aussondern, um zu dem der sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar Gegebenen zu kommen.

„Die Grenze zwischen Gegebenem und Erkanntem wird überhaupt mit keinem Augenblicke der menschlichen Entwicklung zusammenfallen, sondern sie muß künstlich gezogen werden. Dies aber kann auf jeder Entwicklungsstufe geschehen, wenn wir nur den Schnitt zwischen dem, was ohne gedankliche Bestimmung vor dem Erkennen an uns herantritt, und dem, was durch letzteres erst daraus gemacht wird, richtig führen.“ (Lit.:GA 3, S. 48f)

„Wir müssen uns vorstellen, dass ein Wesen mit vollkommen entwickelter menschlicher Intelligenz aus dem Nichts entstehe und der Welt gegenübertrete. Was es da gewahr würde, bevor es das Denken in Tätigkeit bringt, das ist der reine Beobachtungsinhalt. Die Welt zeigte dann diesem Wesen nur das bloße zusammenhanglose Aggregat von Empfindungsobjekten: Farben, Töne, Druck-, Wärme-, Geschmacks- und Geruchsempfindungen; dann Lust- und Unlustgefühle. Dieses Aggregat ist der Inhalt der reinen, gedankenlosen Beobachtung. Ihm gegenüber steht das Denken, das bereit ist, seine Tätigkeit zu entfalten, wenn sich ein Angriffspunkt dazu findet.“ (Lit.:GA 4, S. 62)

Wilfried Gabriel erläutert dazu weiter:

„Der Schnitt zwischen dem, was als Gegebenes bzw. Selbst-Hervorgebrachtes erscheint, ist also relativ und hängt von dem Grad des methodischen Bewusstseins und dem Definitionsbereich des jeweiligen Kontextes ab. Was hier als gegebene Einzelheit erscheint, kann anderswo als komplexes, theoriebeladenes Gebilde aus Wahrnehmungen und Begriffen analysiert werden.

Steiners zweiter Schritt, die radikale Analyse des Wahrnehmungsfeldes, zeigt weiterhin, dass jede Gestalt in unserem Bewusstseinshorizont künstlich in zahllose Einzelheiten dekonstruiert werden kann, wenn man die begrifflichen Bestimmungen zurückhält... Eine vollständige Dekonstruktion der Wirklichkeit würde sich ohne begriffliche Anteile und Zusammenhänge als »zusammenhangloses Aggregat« bzw. chaotische Mannigfaltigkeit zeigen...“ (Lit.: W. Gabriel, in: P. Heusser, J. Weinzirl, 2013, S. 233)

Jaap Sijmons weist auf die Problematik dieses Begriffs des „unmittelbar Gegebenen“ hin:

„Indem Steiner den Anfang machen will mit der realen Voraussetzung der Erkenntnis im Bewusstsein (Erfahrung vor der Erkenntnis), verfehlt er gerade den Punkt, dass dies nicht ohne theoretische Voraussetzung möglich ist. Sieht man die Beispiele und Bestimmungen an, die Steiner gebraucht, angeblich nicht, um zu charakterisieren, sondern nur, um den Blick zu jener Grenze zu lenken, „wo sich das Erkennen an seinen Anfang gestellt sieht“ (GA 3\48), aber in Wirklichkeit doch den bestimmten Grenzbegriff des Unmittelbaren aufstellend, so ist klar, dass mit dem Unmittelbaren nicht der einmalige Anfang alles Erkennens gemeint ist, sondern die durchgehende, sich immer wieder zur weiteren Bestimmung aufdrängende Erfahrungsgrundlage, die im Erkennen schon bearbeitet wird, jedoch deshalb darin nicht etwa verschwindet. Die Empfindung von etwas ,Rotem‘ macht nicht einfach dem Begriff ,rot‘ Platz, als ob die Erkenntnis der Farben uns zwar wissend, aber dennoch gleichsam farbenblind machen würde. Die farbigen Eindrücke erhalten durch die Erkenntnis einen Zusammenhang. Uns werden die Verhältnisse und gesetzmäßigen Modifikationen an ihnen klar usw. Innerhalb des Erkennens kann man unterscheiden zwischen dem begrifflichen Teil und dem nicht-begrifflichen, sobald man sich über die Begriffe im Klaren ist. Aus den immer weiter vollziehbaren Erkenntnisakten, wobei jedes mal ein Etwas in Subjektstellung, wenn auch schon von Begriffen durchsetzt, dem Denken entgegengesetzt und zum Gegen-Stand weiterer Bestimmung gemacht wird, können wir ableiten, wie das relative Verhältnis vom unmittelbar Gegebenen und der vermittelten Bestimmung beschaffen ist. Dieses relative Verhältnis kann man extrapolieren. Aber man kann nicht umgekehrt außerhalb seiner Erkenntnis einen Standort einnehmen. So ist der Realitätsgehalt des Steiner'schen Begriffs des ,unmittelbar Gegebenen‘ zu erhärten durch eine methodische Umkehrung, die schon im „künstlichen“ Gewinnen des Begriffs des Unmittelbaren angelegt worden ist. Dadurch versetzen wir uns nicht an einen Ort außerhalb des Erkennens, wohl aber an ,den voraussetzungslosesten Standpunkt‘ (Rickert). Denn dort hebt das Erkennen immer aufs Neue an, und dort wird es — wie zu zeigen sein wird — geprüft.“ (Lit.: Sijmons, S. 293f.)

Wie Hartmut Traub[1] kritisch anmerkt, lässt Steiner die Frage offen, ob nicht bereits die Wahrnehmung selbst ein mehr oder weniger unbewusstes vorbegriffliches Erkenntnisvermögen darstellt. Für Steiner stellt sich allerdings diese Frage im Sinne seiner bewusstseins-phänomenologischen Methode nicht - und das zu Recht. Vorbewusste oder vorbegriffliche Prozesse als solche fallen für Steiner eben gerade nicht in den Bereich der eigentlichen Erkenntnis - hier liegt eine wesentliche Differenz Steiners zu Kant. Eine Erkenntnis derartiger Prozesse ist, wie Steiner klar gezeigt hat, ebenfalls nur durch die gedankliche Durchdringung entsprechender sinnlicher und seelischer Beobachtungen (z.B. der neurophysiologischen und psychologischen Grundlagen der Sinneswahrnehmung) möglich, aber keinesfalls durch rein philosophische Erwägungen.

„Ich habe Ihnen gesprochen von der Konzeption meiner «Philosophie der Freiheit». Diese «Philosophie der Freiheit» ist wirklich ein Versuch, in bescheidener Weise es bis zum reinen Denken zu treiben, bis zu jenem reinen Denken, in dem das Ich leben kann, in dem das Ich sich halten kann. Dann kann man, wenn man dieses reine Denken auf diese Weise erfaßt hat, ein anderes anstreben. Man kann dann dieses Denken, das man jetzt dem Ich läßt, dem sich frei und unabhängig in freier Geistigkeit fühlenden Ich überläßt, man kann dann dieses reine Denken von dem Wahrnehmungsprozesse ausschalten, und man kann gewissermaßen, während man sonst im gewöhnlichen Leben, sagen wir, die Farbe sieht, indem man sie zugleich mit dem Vorstellen durchdringt, man kann die Vorstellungen herausheben aus dem ganzen Verarbeitungsprozeß der Wahrnehmungen und kann die Wahrnehmungen selber direkt in unsere Leiblichkeit hineinziehen.

Goethe war schon auf dem Wege. Er hat schon die ersten Schritte gemacht. Man lese im letzten Kapitel seiner Farbenlehre: «Die sinnlich- sittliche Wirkung der Farbe», wie er bei jeder Wirkung etwas empfindet, das zugleich tief sich vereinigt nicht bloß mit dem Wahrnehmungsvermögen, sondern mit dem ganzen Menschen, wie er das Gelbe, das Rote als attackierende Farbe empfindet, die gewissermaßen ganz durch ihn durchdringt, ihn mit Wärme erfüllt, wie er ansieht das Blaue und das Violette als diejenigen Farben, die einen gewissermaßen aus sich selber herausreißen, als die kalten Farben. Der ganze Mensch erlebt etwas bei der Sinneswahrnehmung. Die Sinneswahrnehmung mit ihrem Inhalte geht unter in die Leiblichkeit und es bleibt gewissermaßen darüber schweben das Ich mit dem reinen Gedankeninhalt. Wir schalten das Denken aus, indem wir also intensiver als sonst, wo wir den Wahrnehmungsinhalt durch die Vorstellungen abschwächen, nun den ganzen Wahrnehmungsinhalt hereinnehmen und uns mit ihm erfüllen. Wir erziehen uns in besonderer Weise zu einem solchen Erfüllen unserer selbst mit dem Wahrnehmungsinhalte, wenn wir dasjenige, wozu als zu einer Entartung der Orientale gekommen ist, das symbolische Vorstellen, das bildliche Vorstellen, wenn wir das systematisch treiben, wenn wir, statt daß wir im reinen Gedanken, im gesetzmäßig logischen Gedanken den Wahrnehmungsinhalt auffassen, nunmehr diesen Wahrnehmungsinhalt in Symbolen, in Bildern auffassen und dadurch ihn gewissermaßen mit Umgehung der Gedanken in uns hineinströmen lassen, wenn wir uns durchdringen mit all der Sattheit der Farben, der Sattheit des Tones dadurch, daß wir nicht begrifflich, daß wir symbolisch, bildlich zu unserer Schulung die Vorstellungen innerlich erleben. Dadurch, daß wir nicht mit dem Gedankeninhalt, wie es die Assoziations-Psychologie machen will, unser Inneres durchstrahlen, sondern daß wir es durchstrahlen mit diesem durch Symbole und Bilder angedeuteten Wahrnehmungsinhalt, dadurch strömt uns von innen entgegen dasjenige, was in uns als ätherischer Leib, astralischer Leib lebendig ist, dadurch lernen wir die Tiefe unseres Bewußtseins und unserer Seele kennen. Man lernt wirklich das Innere des Menschen auf diese Weise kennen, nicht durch jene schwafelnde Mystik, die oftmals von nebulosen Geistern als ein Weg zum inneren Gotte angegeben wird, die aber zu nichts anderem führt als zu einer äußerlichen Abstraktion, bei der man doch, wenn man ein ganzer, voller Mensch sein will, nicht stehenbleiben kann.

Will man den Menschen wirklich physiologisch erforschen, dann muß man mit Ausschaltung des Denkens auf diese Weise das bildhafte Vorstellen nach innen treiben, so daß die Leiblichkeit des Menschen in Imaginationen darauf reagiert. Dies ist allerdings ein Weg, der in der abendländischen Entwickelung erst im Beginne ist, aber es ist der Weg, der eingeschlagen werden muß, wenn demjenigen, was vom Oriente herüberströmt und was in die Dekadenz führen würde, wenn es allein Geltung hätte, wenn dem etwas, das ihm gewachsen ist, entgegengestellt werden soll, so daß wir zu einem Aufstieg und nicht zu einem Niederstieg unserer Zivilisation kommen sollen.“ (Lit.:GA 322, S. 104f)

Wahrnehmung und Vorstellung

Von der objektiven Wahrnehmung streng zu unterscheiden ist die subjektiv gebildete Vorstellung:

"Was ist also die Wahrnehmung? Diese Frage ist, im allgemeinen gestellt, absurd. Die Wahrnehmung tritt immer als eine ganz bestimmte, als konkreter Inhalt auf. Dieser Inhalt ist unmittelbar gegeben, und erschöpft sich in dem Gegebenen. Man kann in bezug auf dieses Gegebene nur fragen, was es außerhalb der Wahrnehmung, das ist: für das Denken ist. Die Frage nach dem «Was» einer Wahrnehmung kann also nur auf die begriffliche Intuition gehen, die ihr entspricht. Unter diesem Gesichtspunkte kann die Frage nach der Subjektivität der Wahrnehmung im Sinne des kritischen Idealismus gar nicht aufgeworfen werden. Als subjektiv darf nur bezeichnet werden, was als zum Subjekte gehörig wahrgenommen wird. Das Band zu bilden zwischen Subjektivem und Objektivem kommt keinem im naiven Sinn realen Prozess, das heißt einem wahrnehmbaren Geschehen zu, sondern allein dem Denken. Es ist also für uns objektiv, was sich für die Wahrnehmung als außerhalb des Wahrnehmungssubjektes gelegen darstellt. Mein Wahrnehmungssubjekt bleibt für mich wahrnehmbar, wenn der Tisch, der soeben vor mir steht, aus dem Kreise meiner Beobachtung verschwunden sein wird. Die Beobachtung des Tisches hat eine, ebenfalls bleibende, Veränderung in mir hervorgerufen. Ich behalte die Fähigkeit zurück, ein Bild des Tisches später wieder zu erzeugen. Diese Fähigkeit der Hervorbringung eines Bildes bleibt mit mir verbunden. Die Psychologie bezeichnet dieses Bild als Erinnerungsvorstellung. Es ist aber dasjenige, was allein mit Recht Vorstellung des Tisches genannt werden kann. Es entspricht dies nämlich der wahrnehmbaren Veränderung meines eigenen Zustandes durch die Anwesenheit des Tisches in meinem Gesichtsfelde. Und zwar bedeutet sie nicht die Veränderung irgendeines hinter dem Wahrnehmungssubjekte stehenden «Ich an sich», sondern die Veränderung des wahrnehmbaren Subjektes selbst. Die Vorstellung ist also eine subjektive Wahrnehmung im Gegensatz zur objektiven Wahrnehmung bei Anwesenheit des Gegenstandes im Wahrnehmungshorizonte. Das Zusammenwerfen jener subjektiven mit dieser objektiven Wahrnehmung führt zu dem Missverständnisse des Idealismus: die Welt ist meine Vorstellung." (Lit.: GA 4, S. 98ff)

Zitate

"Die Wahrnehmung ist immer gepixelt..." (Joachim Stiller)
"Die Wahrnehmug ist immer unscharf... Und so erscheint uns die Welt immer in einer gewissen Unschärfe... Und da helfen auch keine Brille und kein Hörgerät... (Joachim Stiller)

Siehe auch

Literatur

Kritik
  • Bernhard Kallert: Die Erkenntnistheorie Rudolf Steiners. Der Erkenntnisbegriff des objektiven Idealismus, Verlag freies Geistesleben, Stuttgart 1960, ISBN 978-3-7725-0612-3
  • Gerhard Hahn: Die Freiheit der Philosophie. Eine Fundamentalkritik der Anthroposophie, Licet Verlag Göttingen 1995, ISBN 978-3980422505
  • Hartmut Traub: Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners - Grundlegung und Kritik, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2011, ISBN 9783170220195
  • Jaap Gerhard Sijmons: Phänomenologie und Idealismus: Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners, Schwabe Verlag, Basel 2008, ISBN 978-3796522635
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. "Steiner ist es offenbar gänzlich entgangen, dass die Wahrnehmung ein vorbegriffliches Erkenntnisvermögen ist, das nach eigenen Gesetzen, den Wahrnehmungsgesetzen, Gestalten und Beziehungen in Raum und Zeit organisiert. Für Kant ist die Wahrnehmung deshalb eben auch ein Vermögen der Synthesis. Ihr vorgelagert liegen die noch elementareren „Synopsen" der Sinne. Nur stehen diese Syntheseleistungen, insbesondere die der Wahrnehmung, nicht unmittelbar unter der Einheit des Verstandes, das heißt der transzendentalen Apperzeption, sondern unter der Einheit der Formen sinnlicher Anschauung. In ihnen durchläuft die Einbildungskraft das „Mannigfaltige der Anschauung“ und fasst es in „Apprehensionssynthesen“ zu sinnlichen Gestalten und Vorstelllungen zusammen (AA IV, 76). Es ist Steiners bleibendes und für seine Erkenntnistheorie verhängnisvolles Missverständnis, zu glauben, dass sich jenseits der Welt tätigen Denkens und Erkennens unmittelbar der gähnende Abgrund des unvermittelten und jede Unterscheidung verschlingenden Chaos auftue. Verhängnisvoll ist dieses Missverständnis deshalb, weil durch die Unkenntnis dieser in sich differenzierten und komplexen Theorie der Wahrnehmung den begrifflichen Synthese- und Konstitutionsleistungen einerseits eine Erklärungslast im Hinblick auf Erkenntnisse aufgetragen wird, die ihre Möglichkeiten bei weitem überschreitet, und die lichtvolle und durchaus geordnete Welt sinnlicher Wahrnehmung in Raum und Zeit andererseits in der differenzlosen Nacht eines undurchdringlichen Tohuwabohus versinkt." (Lit.: Traub [2011], S 75f)