Nebenübungen

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Die Nebenübungen, auch die sechs Eigenschaften oder die sechs Tugenden genannt, dienen der Stärkung des Seelenlebens und sind eine wesentliche Vorbedingung[1] und ständige Begleitübung für jeden, der eine geistige Schulung anstrebt. Konsequent ausgeübt führen sie bis an die imaginative Erkenntnis heran und weiter zur Inspiration und Intuition. Diese Nebenübungen, die keinesfalls nebensächlich, sondern essentiell für jede zeitgemäße Geistesschulung sind, müssen stets die meditativen Hauptübungen begleiten. Indem man sich in diesen sechs Eigenschaften übt, wird die 12-blättrige Lotosblume, das Herzchakra, regelmäßig ausgebildet, wird aktiv und beginnt sich im Uhrzeigersinn zu drehen, womit die Basis für ein bewusstes, intuitives, in die Wesen eintauchendes Herzdenken geschaffen wird.

Die sechs Eigenschaften

Die Nebenübungen wurden von Rudolf Steiner in verschiedenen Varianten gegeben. Im Kern geht es immer um die Entwicklung folgender sechs Eigenschaften:

"Gedankenkontrolle. Sie besteht darin, daß man wenigstens für kurze Zeiten des Tages nicht alles mögliche durch die Seele irrlichtelieren läßt, sondern einmal Ruhe in seinem Gedankenlaufe eintreten läßt. Man denkt an einen bestimmten Begriff, stellt diesen Begriff in den Mittelpunkt seines Gedankenlebens und reiht hierauf selbst alle Gedanken logisch so aneinander, daß sie sich an diesen Begriff anlehnen. Und wenn das auch nur eine Minute geschieht, so ist es schon von großer Bedeutung für den Rhythmus des physischen und Ätherleibes.

Initiative des Handelns, das heißt, man muß sich zwingen zu wenn auch unbedeutenden, aber aus eigener Initiative entsprungenen Handlungen, zu selbst auferlegten Pflichten. Die meisten Ursachen des Handelns liegen in Familienverhältnissen, in der Erziehung, im Berufe und so weiter. Bedenken Sie nur, wie wenig eigentlich aus der eigenen Initiative hervorgeht! Nun muß man also kurze Zeit darauf verwenden, Handlungen aus der eigenen Initiative hervorgehen zu lassen. Das brauchen durchaus nicht wichtige Dinge zu sein; ganz unbedeutende Handlungen erfüllen denselben Zweck.

Gelassenheit. Das dritte, um was es sich handelt, kann man nennen Gelassenheit. Da lernt man den Zustand des Hin- und Herschwankens zwischen «himmelhoch jauchzend» und «zum Tode betrübt» regulieren. Wer das nicht will, weil er glaubt, daß dadurch seine Ursprünglichkeit im Handeln oder sein künstlerisches Empfinden verlorengehe, der kann eben keine okkulte Entwickelung durchmachen. Gelassenheit heißt, Herr sein in der höchsten Lust und im tiefsten Schmerz. Ja, man wird für die Freuden und Leiden in der Welt erst dann richtig empfänglich, wenn man sich nicht mehr verliert im Schmerz und in der Lust, wenn man nicht mehr egoistisch darin aufgeht. Die größten Künstler haben gerade durch diese Gelassenheit am meisten erreicht, weil sie sich dadurch die Seele aufgeschlossen haben für subtile und innere wichtige Dinge.

Unbefangenheit (Positivität). Das vierte ist, was man als Unbefangenheit bezeichnen kann. Das ist diejenige Eigenschaft, die in allen Dingen das Gute sieht. Sie geht überall auf das Positive in den Dingen los. Als Beispiel können wir am besten eine persische Legende anführen, die sich an den Christus Jesus knüpft: Der Christus Jesus sah einmal einen krepierten Hund am Wege liegen. Jesus blieb stehen und betrachtete das Tier, die Umstehenden aber wandten sich voll Abscheu weg ob solchen Anblicks. Da sagte der Christus Jesus: Oh, welch wunderschöne Zähne hat das Tier! - Er sah nicht das Schlechte, das Häßliche, sondern fand selbst an diesem eklen Kadaver noch etwas Schönes, die weißen Zähne. Sind wir in dieser Stimmung, dann suchen wir in allen Dingen die positiven Eigenschaften, das Gute, und wir können es überall finden. Das wirkt in ganz mächtiger Weise auf den physischen und Ätherleib ein.

Glaube (Unvoreingenommenheit). Das nächste ist der Glaube. Glauben drückt im okkulten Sinne etwas anderes aus, als was man in der gewöhnlichen Sprache darunter versteht. Man soll sich niemals, wenn man in okkulter Entwickelung ist, in seinem Urteil durch seine Vergangenheit die Zukunft bestimmen lassen. Bei der okkulten Entwickelung muß man unter Umständen alles außer acht lassen, was man bisher erlebt hat, um jedem neuen Erleben mit neuem Glauben gegenüberstehen zu können. Das muß der Okkultist bewußt durchführen. Wenn einer zum Beispiel kommt und sagt: Der Turm der Kirche steht schief, er hat sich um 45 Grad geneigt - so würde jeder sagen: Das kann nicht sein. - Der Okkultist muß sich aber noch ein Hintertürchen offen lassen. Ja, er muß so weit gehen, daß er jedes in der Welt Erfolgende, was ihm entgegentritt, glauben kann, sonst verlegt er sich den Weg zu neuen Erfahrungen. Man muß sich frei machen für neue Erfahrungen; dadurch werden der physische und der Ätherleib in eine Stimmung versetzt, die sich vergleichen läßt mit der wollüstigen Stimmung eines Tierwesens, das ein anderes ausbrüten will.

Inneres Gleichgewicht. Und dann folgt als nächste Eigenschaft inneres Gleichgewicht. Es bildet sich durch die fünf anderen Eigenschaften nach und nach ganz von selbst heraus.[2] Auf diese sechs Eigenschaften muß der Mensch bedacht sein. Er muß sein Leben in die Hand nehmen und langsam fortschreiten im Sinne des Wortes: Steter Tropfen höhlt den Stein." (Lit.: GA 95, S. 117ff)

Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten

In Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten werden die sechs Eigenschaften in anderer Reihenfolge und mit anderen Bezeichnungen bzw. inhaltlichen Gewichtungen erläutert: Gedankenkontrolle, Kontrolle der Handlungen, Erziehung zur Ausdauer, Duldsamkeit (Toleranz), Unbefangenheit (Glaube), und Gleichmut:

"Das erste, was in dieser Beziehung der Geheimschüler beobachtet, ist die Regelung seines Gedankenlaufes (die sogenannte Gedankenkontrolle). So wie die sechzehnblätterige Lotusblume durch wahre, bedeutungsvolle Gedanken zur Entwickelung kommt, so die zwölfblätterige durch innere Beherrschung des Gedankenverlaufes. Irrlichtelierende Gedanken, die nicht in sinngemäßer, logischer Weise, sondern rein zufällig aneinandergefügt sind, verderben die Form dieser Lotusblume. Je mehr ein Gedanke aus dem anderen folgt, je mehr allem Unlogischen aus dem Wege gegangen wird, desto mehr erhält dieses Sinnesorgan die ihm entsprechende Form. Hört der Geheimschüler unlogische Gedanken, so läßt er sich sogleich das Richtige durch den Kopf gehen. Er soll nicht lieblos sich einer vielleicht unlogischen Umgebung entziehen, um seine Entwickelung zu fördern. Er soll auch nicht den Drang in sich fühlen, alles Unlogische in seiner Umgebung sofort zu korrigieren. Er wird vielmehr ganz still in seinem Innern die von außen auf ihn einstürmenden Gedanken in eine logische, sinngemäße Richtung bringen. Und er bestrebt sich, in seinen eigenen Gedanken überall diese Richtung einzuhalten. -

Ein zweites ist, eine ebensolche Folgerichtigkeit in sein Handeln zu bringen (Kontrolle der Handlungen). Alle Unbeständigkeit, Disharmome im Handeln gereichen der in Rede stehenden Lotusblume zum Verderben. Wenn der Geheimschüler etwas getan hat, so richtet er sein folgendes Handeln danach ein, daß es in logischer Art aus dem ersten folgt. Wer heute im anderen Sinn handelt als gestern, wird nie den charakterisierten Sinn entwickeln. -

Das dritte ist die Erziehung zur Ausdauer. Der Geheimschüler läßt sich nicht durch diese oder jene Einflüsse von einem Ziel abbringen, das er sich gesteckt hat, solange er dieses Ziel als ein richtiges ansehen kann. Hindernisse sind für ihn eine Aufforderung, sie zu überwinden, aber keine Abhaltungsgründe. -

Das vierte ist die Duldsamkeit (Toleranz) gegenüber Menschen, anderen Wesen und auch Tatsachen. Der Geheimschüler unterdrückt alle überflüssige Kritik gegenüber dem Unvollkommenen, Bösen und Schlechten und sucht vielmehr alles zu begreifen, was an ihn herantritt. Wie die Sonne ihr Licht nicht dem Schlechten und Bösen entzieht, so er nicht seine verständnisvolle Anteilnahme. Begegnet dem Geheimschüler irgendein Ungemach, so ergeht er sich nicht in abfälligen Urteilen, sondern er nimmt das Notwendige hin und sucht, soweit seine Kraft reicht, die Sache zum Guten zu wenden. Andere Meinungen betrachtet er nicht nur von seinem Standpunkte aus, sondern er sucht sich in die Lage des anderen zu versetzen. -

Das fünfte ist die Unbefangenheit gegenüber den Erscheinungen des Lebens. Man spricht in dieser Beziehung auch von dem «Glauben» oder «Vertrauen». Der Geheimschüler tritt jedem Menschen, jedem Wesen mit diesem Vertrauen entgegen. Und er erfüllt sich bei seinen Handlungen mit solchem Vertrauen. Er sagt sich nie, wenn ihm etwas mitgeteilt wird: das glaube ich nicht, weil es meiner bisherigen Meinung widerspricht. Er ist vielmehr in jedem Augenblicke bereit, seine Meinung und Ansicht an einer neuen zu prüfen und zu berichtigen. Er bleibt immer empfänglich für alles, was an ihn herantritt. Und er vertraut auf die Wirksamkeit dessen, was er unternimmt. Zaghaftigkeit und Zweifelsucht verbannt er aus seinem Wesen. Hat er eine Absicht, so hat er auch den Glauben an die Kraft dieser Absicht. Hundert Mißerfolge können ihm diesen Glauben nicht nehmen. Es ist dies jener «Glaube, der Berge zu versetzen vermag». -

Das sechste ist die Erwerbung eines gewissen Lebensgleichgewichtes (Gleichmutes). Der Geheimschüler strebt an, seine gleichmäßige Stimmung zu erhalten, ob ihn Leid, ob ihn Erfreuliches trifft. Das Schwanken zwischen «himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt» gewöhnt er sich ab. Das Unglück, die Gefahr finden ihn ebenso gewappnet wie das Glück, die Förderung. Die Leser von geisteswissenschaftlichen Schriften finden das Geschilderte als die sogenannten «sechs Eigenschaften » aufgezählt, welche der bei sich entwickeln muß, der die Einweihung anstrebt. Hier sollte ihr Zusammenhang mit dem seelischen Sinne dargelegt werden, welcher die zwölfblätterige Lotusblume genannt wird." (Lit.: GA 10, S. 127ff)

Wenn man Duldsamkeit (Toleranz) vielleicht der Positivtät zuordnen kann, fällt doch auf, daß die 3. Eigenschaft Ausdauer in den anderen Ausführungen zu den 6 Eigenschaften nicht vorkommt, und andererseits, was dort als 6. Eigenschaft des Lebensgleichgewichtes angegeben ist (die Harmonie der 5 Eigenschaften als die 6.), in den Ausführungen GA 10 mit der Eigenschaft Gelassenheit/Gleichmut zusammengenommen zu sein scheint. Statt des Lebensgleichgewichtes ist als erforderliche Eigenschaft die Erziehung zur Ausdauer hervorgehoben.

Die alternative Fassung wird auch in GA 53, 12. Vortrag gegeben, wo die Bezeichnung statt "Erziehung zur Ausdauer" Standhaftigkeit ist:

"Diese sechs Tugenden, die Sie in jedem theosophischen Handbuche, wo von der Entwickelung des Menschen die Rede ist, angeführt finden, sind: Kontrolle der Gedanken, Kontrolle der Handlungen, Duldsamkeit, Standhaftigkeit, Unbefangenheit und Gleichgewicht oder das, was Angelus Silesius Gelassenheit nennt." (Lit.: GA 53, S. 264)

Die Stufen der höheren Erkenntnis

Eine weitere Variante der Nebenübungen, zusammen mit anderen Vorübungen für die Geistesschulung, gibt Rudolf Steiner in «Die Stufen der höheren Erkenntnis»:

Zuerst soll der Geistesschüler sein Bewusstsein auf das Bleibende, Unvergängliche in allen Dingen richten und von dem Vergänglichen absondern.

Zuerst muß der Mensch in ganz bewußter Weise bei allen Dingen fortwährend darauf bedacht sein, das Bleibende, Unvergängliche von dem Vergänglichen abzusondern, und auf das erstere seine Aufmerksamkeit richten. In jedem Dinge und Wesen kann der Mensch ein Etwas vermuten oder erkennen, das bleibt, wenn die vergängliche Erscheinung entschwindet. Sehe ich eine Pflanze, dann kann ich sie zunächst betrachten, wie sie sich den Sinnen darbietet. Das soll man gewiß nicht versäumen. Und niemand wird das Ewige in den Dingen entdecken, der sich nicht zuerst mit dem Vergänglichen gründlich bekannt gemacht hat. Diejenigen, welche sich immer besorgt zeigen, daß dem Menschen, der den Blick auf das Geistig-Unvergängliche richtet, die «Frische und Natürlichkeit des Lebens» verlorengehe: sie wissen eben noch nicht, um was es sich dabei eigentlich handelt. Aber, wenn ich so die Pflanze anschaue, kann mir klarwerden, daß in ihr ein bleibender Lebenstrieb ist, der in einer neuen zum Vorschein kommen werde, wenn die gegenwärtige Pflanze längst zerstoben sein wird. Solche Art, sich zu den Dingen zu stellen, muß man in die ganze Verfassung seines Gemütes aufnehmen." (Lit.: GA 12, S. 29f)

Dann soll der Schüler sein Herz auf das Wertvolle, Gediegene heften und dieses höher schätzen lernen als das Vorübergehnde, Bedeutungslose.

Dann muß man sein Herz auf das Wertvolle, Gediegene heften und dieses höher schätzen lernen als das Vorübergehende, Bedeutungslose. Man soll sich bei allen seinen Empfindungen und Handlungen den Wert vor Augen halten, den etwas im Zusammenhange eines Ganzen hat." (Lit.: GA 12, S. 30)

Als dritte Stufe folgen nun, wieder mit etwas anderen Bezeichnungen, die sechs Eigenschaften:

"Zum dritten soll man sechs Eigenschaften in sich ausbilden: Kontrolle der Gedankenwelt, Kontrolle der Handlungen, Ertragsamkeit, Unbefangenheit, Vertrauen in die Umwelt und inneres Gleichgewicht. Kontrolle der Gedankenwelt erreicht man, wenn man sich bemüht, dem Irrlichtelieren der Gedanken und Emp- findungen, die beim gewöhnlichen Menschen immer auf- und abwogen, entgegenzuarbeiten. Im alltäglichen Leben ist der Mensch nicht der Führer seiner Gedanken; sondern er wird von ihnen getrieben. Das kann natürlich auch gar nicht anders sein. Denn das Leben treibt den Menschen. Und er muß als ein Wirkender sich diesem Treiben des Lebens überlassen. Während des gewöhnlichen Lebens wird das gar nicht anders sein können. Will man aber in eine höhere Welt aufsteigen, so muß man sich wenigstens ganz kurze Zeiten aussondern, in denen man sich zum Herrn seiner Gedanken- und Empfindungswelt macht. Man stellt da einen Gedanken aus völliger innerer Freiheit in den Mittelpunkt seiner Seele, während sich sonst die Vorstellungen von außen aufdrängen. Dann versucht man alle aufsteigenden Gedanken und Gefühle fernzuhalten und nur das mit dem ersten Gedanken zu verbinden, von dem man selbst will, daß es dazu gehöre. Eine solche Übung wirkt wohltätig auf die Seele und dadurch auch auf den Leib. Sie bringt den letzteren in eine solche harmonische Verfassung, daß er sich schädlichen Einflüssen entzieht, wenn die Seele auch nicht unmittelbar auf ihn wirkt. - Kontrolle der Handlungen besteht in einer ähnlichen Regelung derselben durch innere Freiheit. Man beginnt gut damit, daß man sich anschickt, irgend etwas regelmäßig zu tun, wozu man durch das gewöhnliche Leben nicht gekommen wäre. In dem letzteren wird ja der Mensch von außen zu seinen Handlungen getrieben. Die kleinste Tat aber, die man aus der ureigensten Initiative heraus unternimmt, wirkt in der angegebenen Richtung mehr als alles, wozu man vom äußeren Leben gedrängt wird. - Ertragsamkeit ist das Entfernthalten von jener Stimmung, die man bezeichnen kann mit dem Wechsel zwischen «Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt». Der Mensch wird hin- und hergetrieben zwischen allen möglichen Stimmungen. Die Lust macht ihn froh, der Schmerz drückt ihn herab. Das hat seine Berechtigung. Wer aber den Weg sucht zu höherer Erkenntnis, der muß sich in der Lust und auch im Schmerze mäßigen können. Er muß «ertragsam» werden. Maßvoll muß er sich den lusterregenden Eindrücken hingeben können und auch den schmerzlichen Erlebnissen: immer durch beides mit Würde hindurchschreiten. Von nichts sich übermannen, außer Fassung bringen lassen. Das begründet nicht Gefühllosigkeit, sondern macht den Menschen zum festen Mittelpunkt innerhalb der Lebenswellen, die rings um ihn auf- und niedersteigen. Er hat sich stets in der Hand.

Eine ganz besonders wichtige Eigenschaft ist der «Sinn für die Bejahung». Es kann ihn derjenige bei sich entwickeln, welcher das Augenmerk in allen Dingen auf die guten, schönen und zweckvollen Eigenheiten richtet und nicht in erster Linie auf das Tadelnswerte, Häßliche und Widerspruchsvolle. Es gibt eine schöne, in der persischen Dichtung vorhandene Legende von Christus, die zur Anschauung bringt, was mit dieser Eigenschaft gemeint ist: Ein toter Hund liegt an einem Wege. Unter den an ihm Vorübergehenden ist auch Christus. Alle anderen wenden sich ab von dem häßlichen Anblick, den das Tier bietet; nur Christus spricht bewundernd von den schönen Zähnen des Tieres. So kann man den Dingen gegenüber empfinden; in allem, auch dem Widrigsten, mag sich für den, welcher ernstlich sucht, etwas Anerkennenswertes finden. Und das Fruchtbare an den Dingen ist ja nicht, was ihnen fehlt, sondern dasjenige, was sie haben. - Weiter ist bedeutsam, die Eigenschaft der «Unbefangenheit» zu entwickeln. Ein jeder Mensch hat ja seine Erfahrungen gemacht und sich dadurch eine bestimmte Menge von Meinungen gebildet, die ihm dann im Leben zur Richtschnur werden. So selbstverständlich es auf der einen Seite ist, sich nach seinen Erfahrungen zu richten, so wichtig ist es für den, welcher eine geistige Entwickelung zur höheren Erkenntnis hin durchmachen will, daß er sich stets den Blick frei erhält für alles Neue, ihm noch Unbekannte, das ihm entgegentritt. Er wird so vorsichtig wie irgend möglich sein mit dem Urteil: «das ist unmöglich», «das kann ja gar nicht sein». Mag ihm seine Meinung nach den bisherigen Erfahrungen was immer sagen: er ist in jedem Augenblick bereit, sich von etwas Neuem, das ihm entgegenkommt, zu einer anderen Meinung bringen zu lassen. Jede Eigenliebe der Meinung gegenüber muß schwinden. - Wenn die bisher genannten fünf Eigenschaften von der Seele erworben sind, dann stellt sich eine sechste ganz von selbst ein: das innere Gleichgewicht, die Harmonie der geistigen Kräfte. Der Mensch muß etwas in sich finden wie einen geistigen Schwerpunkt, der ihm Festigkeit und Sicherheit gibt gegenüber allem, was im Leben da- oder dorthin zieht. Man muß nicht etwa vermeiden, mit allem mitzuleben, alles auf sich wirken zu lassen. Nicht die Flucht vor den hin- und widerziehenden Tatsachen des Lebens ist das Richtige, sondern im Gegenteil: das volle Hingeben an das Leben und trotzdem die sichere, feste Bewahrung von innerem Gleichgewicht und Harmonie.(Lit.: GA 12, S. 30ff)

Zuletzt ist für den Schüler der unbedingte «Wille zur Freiheit» entscheidend. Er muss die Stütze voll und ganz in sich selber finden - ohne deswegen das Gute zurückzuweisen, das ihm von anderen Menschen zukommt und das ihm freie Anregung werden kann, die er aber eigenständig verarbeiten und seinem Wesen gemäß verwandeln muss.

Endlich kommt für den Suchenden der «Wille zur Freiheit» in Betracht. Es hat ihn jemand, der zu allem, was er vollbringt, die Stütze und Grundlage in sich selbst findet. Er ist deshalb so schwer zu erringen, weil taktvoll der Ausgleich notwendig ist zwischen dem Öffnen des Sinnes gegenüber allem Großen und Guten und der gleichzeitigen Ablehnung eines jeglichen Zwanges. Man sagt so leicht: Einwirkung von außen und Freiheit vertragen sich nicht. Daß sie sich in der Seele vertragen: darauf kommt es aber gerade an. Wenn mir jemand etwas mitteilt, und ich nehme es unter dem Zwange seiner Autorität an: dann bin ich unfrei. Aber ich bin nicht minder unfrei, wenn ich mich verschließe vor dem Guten, das ich auf diese Art empfangen kann. Denn dann übt in der eigenen Seele das Schlechtere, das ich habe, auf mich einen Zwang aus. Und bei der Freiheit kommt es nicht allein darauf an, daß ich nicht unter dem Zwange einer äußeren Autorität stehe, sondern vor allen Dingen auch nicht unter derjenigen eigener Vorurteile, Meinungen, Empfindungen und Gefühle. Nicht blinde Unterwerfung unter das Empfangene ist das Richtige, sondern sich von ihm anregen lassen, es ganz unbefangen aufnehmen, um sich «frei» dazu zu bekennen. Eine fremde Autorität soll nicht anders als so wirken, daß man sich sagt: Ich mache mich gerade dadurch frei, daß ich ihrem Guten folge, d.h. es zu dem meinigen mache. Und eine auf der Geheimwissenschaft fußende Autorität will auch gar nicht anders als in dieser Art wirken. Sie gibt, was sie zu geben hat, nicht um selbst Macht über den Beschenkten zu gewinnen, sondern allein darum, daß der Beschenkte durch die Gabe reicher und freier werde."(Lit.: GA 12, S. 34f)

Es folgt schließlich noch der Hinweis, dass durch diese Übungen das Herzchakra aktiviert und die imaginative Erkenntnis angebahnt wird.

"Es ist auf die Bedeutung der angeführten Eigenschaften schon früher bei Besprechung der «Lotusblumen» hingewiesen worden. Dort wurde gezeigt, welche Beziehung sie zu der Entwickelung der zwölf blätterigen Lotusblume in der Herzgegend und der daran sich schließenden Strömungen des Ätherkörpers haben. Aus dem jetzt Gesagten ist ersichtlich, daß sie im wesentlichen die Aufgabe haben, dem physischen Körper des Suchenden jene Kräfte entbehrlich zu machen, die ihm sonst während des Schlafzustandes zugute kommen und die ihm wegen der Ausbildung entzogen werden müssen. Unter solchen Einwirkungen entwickelt sich die imaginative Erkenntnis." (Lit.: GA 12, S. 29ff)

Die Geheimwissenschaft im Umriss

„Von einer sachgemäßen Schulung werden gewisse Eigenschaften genannt, welche sich durch Übung derjenige erwerben soll, welcher den Weg in die höheren Welten finden will. Es sind dies vor allem: Herrschaft der Seele über ihre Gedankenführung, über ihren Willen und ihre Gefühle. Die Art, wie diese Herrschaft durch Übung herbeigeführt werden soll, hat ein zweifaches Ziel. Einerseits soll der Seele dadurch Festigkeit, Sicherheit und Gleichgewicht so weit eingeprägt werden, daß sie sich diese Eigenschaften bewahrt, auch wenn ein zweites Ich aus ihr geboren wird. Andrerseits soll diesem zweiten Ich Stärke und innerer Halt mit auf den Weg gegeben werden.

Was dem Denken des Menschen für die Geistesschulung vor allem notwendig ist, das ist Sachlichkeit. In der physischsinnlichen Welt ist das Leben der große Lehrmeister für das menschliche Ich zur Sachlichkeit. Wollte die Seele in beliebiger Weise die Gedanken hin und her schweifen lassen: sie müßte alsbald sich von dem Leben korrigieren lassen, wenn sie mit ihm nicht in Konflikt kommen wollte. Die Seele muß entsprechend dem Verlauf der Tatsachen des Lebens denken. Wenn nun der Mensch die Aufmerksamkeit von der physisch-sinnlichen Welt ablenkt, so fehlt ihm die Zwangskorrektur der letzteren. Ist dann sein Denken nicht imstande, sein eigener Korrektor zu sein, so muß es ins Irrlichtelieren kommen. Deshalb muß das Denken des Geistesschülers sich so üben, daß es sich selber Richtung und Ziel geben kann. Innere Festigkeit und die Fähigkeit, streng bei einem Gegenstande zu bleiben, das ist, was das Denken in sich selbst heranziehen muß. Deshalb sollen entsprechende «Denkübungen» nicht an fernliegenden und komplizierten Gegenständen vorgenommen werden, sondern an einfachen und naheliegenden. Wer sich überwindet, durch Monate hindurch täglich wenigstens fünf Minuten seine Gedanken an einen alltäglichen Gegenstand (z.B. eine Stecknadel, einen Bleistift usw.) zu wenden und während dieser Zeit alle Gedanken auszuschließen, welche nicht mit diesem Gegenstande zusammenhängen, der hat nach dieser Richtung hin viel getan. (Man kann täglich einen neuen Gegenstand bedenken oder mehrere Tage einen festhalten.) Auch derjenige, welcher sich als «Denker» durch wissenschaftliche Schulung fühlt, sollte es nicht verschmähen, sich in solcher Art für die Geistesschulung «reif» zu machen. Denn wenn man eine Zeitlang die Gedanken heftet an etwas, was einem ganz bekannt ist, so kann man sicher sein, daß man sachgemäß denkt. Wer sich frägt: Welche Bestandteile setzen einen Bleistift zusammen? Wie werden die Materialien zu dem Bleistift vorgearbeitet? Wie werden sie nachher zusammengefügt? Wann wurden die Bleistifte erfunden? usw. usw.: ein solcher paßt seine Vorstellungen sicher mehr der Wirklichkeit an als derjenige, der darüber nachdenkt, wie die Abstammung des Menschen ist oder was das Leben ist Man lernt durch einfache Denkübungen für ein sachgemäßes Vorstellen gegenüber der Welt der Saturn-, Sonnen- und Mondenentwickelung mehr als durch komplizierte und gelehrte Ideen. Denn zunächst handelt es sich gar nicht darum, über dieses oder jenes zu denken, sondern sachgemäß durch innere Kraft zu denken. Hat man sich die Sachgemäßheit anerzogen an einem leicht überschaubaren sinnlichphysischen Vorgang, dann gewöhnt sich das Denken daran, auch sachgemäß sein zu wollen, wenn es sich nicht durch die physisch-sinnliche Welt und ihre Gesetze beherrscht fühlt Und man gewöhnt es sich ab, unsachgemäß die Gedanken schwärmen zu lassen.

Wie Herrscher in der Gedankenwelt, so soll ein solcher die Seele auch im Gebiete des Willens werden. In der physisch-sinnlichen Welt ist es auch hier das Leben, das als Beherrscher auftritt. Es macht diese oder jene Bedürfnisse für den Menschen geltend; und der Wille fühlt sich angeregt, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Für die höhere Schulung muß sich der Mensch daran gewöhnen, seinen eigenen Befehlen streng zu gehorchen. Wer sich an solches gewöhnt, dem wird es immer weniger und weniger beifallen, Wesenloses zu begehren. Das Unbefriedigende, Haltlose im Willensleben rührt aber von dem Begehren solcher Dinge her, von deren Verwirklichung man sich keinen deudichen Begriff macht Solche Unbefriedigung kann das ganze Gemütsleben in Unordnung bringen, wenn ein höheres Ich aus der Seele hervorgehen will. Eine gute Übung ist es, durch Monate hindurch sich zu einer bestimmten Tageszeit den Befehl zu geben: Heute «um diese bestimmte Zeit» wirst du «dieses» ausfuhren. Man gelangt dann allmählich dazu, sich die Zeit der Ausführung und die Art des auszuführenden Dinges so zu befehlen, daß die Ausführung ganz genau möglich ist So erhebt man sich über das verderbliche: «ich möchte dies; ich will jenes», wobei man gar nicht an die Ausführbarkeit denkt. Eine große Persönlichkeit läßt eine Seherin sagen: «Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt.» (Goethe, Faust II) Und diese Persönlichkeit (Goethe) selbst sagt: «In der Idee leben heißt, das Unmögliche behandeln, als wenn es möglich wäre.» (Goethe, Sprüche in Prosa.) Solche Aussprüche dürfen aber nicht als Einwände gegen das hier Dargestellte gebraucht werden. Denn die Forderung, die Goethe und seine Seherin (Manto) stellen, kann nur derjenige erfüllen, welcher sich an dem Begehren dessen, was möglich ist, erst herangebildet hat, um dann durch sein starkes Wollen eben das «Unmögliche» so behandeln zu können, daß es sich durch sein Wollen in ein Mögliches verwandelt.

In bezug auf die Gefühlswelt soll es die Seele für die Geistesschulung zu einer gewissen Gelassenheit bringen. Dazu ist nötig, daß diese Seele Beherrscherin werde über den Ausdruck von Lust und Leid, Freude und Schmerz. Gerade gegenüber der Erwerbung dieser Eigenschaft kann sich manches Vorurteil ergeben. Man könnte meinen, man werde stumpf und teilnahmslos gegenüber seiner Mitwelt, wenn man über das «Erfreuliche sich nicht erfreuen, über das Schmerzhafte nicht Schmerz empfinden soll». Doch darum handelt es sich nicht. Ein Erfreuliches soll die Seele erfreuen, ein Trauriges soll sie schmerzen. Sie soll nur dazu gelangen, den Ausdruck von Freude und Schmerz, von Lust und Unlust zu beherrschen. Strebt man dieses an, so wird man alsbald bemerken, daß man nicht stumpfer, sondern im Gegenteil empfänglicher wird für alles Erfreuliche und Schmerzhafte der Umgebung, als man früher war. Es erfordert allerdings ein genaues Achtgeben auf sich selbst durch längere Zeit, wenn man sich die Eigenschaft aneignen will, um die es sich hier handelt Man muß darauf sehen, daß man Lust und Leid voll miterleben kann, ohne sich dabei so zu verlieren, daß man dem, was man empfindet, einen unwillkürlichen Ausdruck gibt. Nicht den berechtigten Schmerz soll man unterdrücken, sondern das unwillkürliche Weinen; nicht den Abscheu vor einer schlechten Handlung, sondern das blinde Wüten des Zorns; nicht das Achten auf eine Gefahr, sondern das fruchtlose «Sich-Fürchten» usw. — Nur durch eine solche Übung gelangt der Geistesschüler dazu, jene Ruhe in seinem Gemüt zu haben, welche notwendig ist, damit nicht beim Geborenwerden und namentlich bei der Betätigung des höheren Ich die Seele wie eine Art Doppelgänger neben diesem höheren Ich ein zweites, ungesundes Leben führt. Gerade diesen Dingen gegenüber sollte man sich keiner Selbsttäuschung hingeben. Es kann manchem scheinen, daß er einen gewissen Gleichmut im gewöhnlichen Leben schon habe und daß er deshalb diese Übung nicht nötig habe. Gerade ein solcher hat sie zweifach nötig. Man kann nämlich ganz gut gelassen sein, wenn man den Dingen des gewöhnlichen Lebens gegenübersteht; und dann beim Aufsteigen in eine höhere Welt kann sich um so mehr die Gleichgewichtslosigkeit, die nur zurückgedrängt war, geltend machen. Es muß durchaus erkannt werden, daß zur Geistesschulung es weniger darauf ankommt, was man vorher zu haben scheint, als vielmehr darauf, daß man ganz gesetzmäßig übt, was man braucht. So widerspruchsvoll dieser Satz auch aussieht: er ist richtig. Hat einem auch das Leben dies oder jenes anerzogen: zur Geistesschulung dienen die Eigenschaften, welche man sich selbst anerzogen hat. Hat einem das Leben Erregtheit beigebracht, so sollte man sich die Erregtheit aberziehen; hat einem aber das Leben Gleichmut beigebracht, so sollte man sich durch Selbsterziehung so aufrütteln, daß der Ausdruck der Seele dem empfangenen Eindruck entspricht Wer über nichts lachen kann, beherrscht sein Leben ebensowenig wie derjenige, welcher, ohne sich zu beherrschen, fortwährend zum Lachen gereizt wird.

Für das Denken und Fühlen ist ein weiteres Bildungsmittel die Erwerbung der Eigenschaft, welche man Positivität nennen kann. Es gibt eine schöne Legende, die besagt von dem Christus Jesus, daß er mit einigen andern Personen an einem toten Hund vorübergeht. Die andern wenden sich ab von dem häßlichen Anblick. Der Christus Jesus spricht bewundernd von den schönen Zähnen des Tieres. Man kann sich darin üben, gegenüber der Welt eine solche Seelenverfassung zu erhalten, wie sie im Sinne dieser Legende ist. Das Irrtümliche, Schlechte, Häßliche soll die Seele nicht abhalten, das Wahre, Gute und Schöne überall zu finden, wo es vorhanden ist Nicht verwechseln soll man diese Positivität mit Kritiklosigkeit, mit dem willkürlichen Verschließen der Augen gegenüber dem Schlechten, Falschen und Minderwertigen. Wer die «schönen Zähne» eines toten Tieres bewundert, der sieht auch den verwesenden Leichnam. Aber dieser Leichnam hält ihn nicht davon ab, die schönen Zähne zu sehen. Man kann das Schlechte nicht gut, den Irrtum nicht wahr finden; aber man kann es dahin bringen, daß man durch das Schlechte nicht abgehalten werde, das Gute, durch den Irrtum nicht, das Wahre zu sehen.

Das Denken in Verbindung mit dem Willen erfährt eine gewisse Reifung, wenn man versucht, sich niemals durch etwas, was man erlebt oder erfahren hat, die unbefangene Empfänglichkeit für neue Erlebnisse rauben zu lassen. Für den Geistesschüler soll der Gedanke seine Bedeutung ganz verlieren: «Das habe ich noch nie gehört, das glaube ich nicht.» Er soll während einer gewissen Zeit geradezu überall darauf ausgehen, sich bei jeder Gelegenheit von einem jeglichen Dinge und Wesen Neues sagen zu lassen. Von jedem Luftzug, von jedem Baumblatt, von jeglichem Lallen eines Kindes kann man lernen, wenn man bereit ist, einen Gesichtspunkt in Anwendung zu bringen, den man bisher nicht in Anwendung gebracht hat. Es wird allerdings leicht möglich sein, in bezug auf eine solche Fähigkeit zu weit zu gehen. Man soll ja nicht etwa in einem gewissen Lebensalter die Erfahrungen, die man über die Dinge gemacht hat, außer acht lassen. Man soll, was man in der Gegenwart erlebt, nach den Erfahrungen der Vergangenheit beurteilen. Das kommt auf die eine Waagschale; auf die andere aber muß für den Geistesschüler die Geneigtheit kommen, immer Neues zu erfahren. Und vor allem der Glaube an die Möglichkeit, daß neue Erlebnisse den alten widersprechen können.

Damit sind fünf Eigenschaften der Seele genannt, welche sich in regelrechter Schulung der Geistesschüler anzueignen hat: die Herrschaft über die Gedankenführung, die Herrschaft über die Willensimpulse, die Gelassenheit gegenüber Lust und Leid, die Positivität im Beurteilen der Welt, die Unbefangenheit in der Auffassung des Lebens. Wer gewisse Zeiten aufeinanderfolgend dazu verwendet hat, um sich in der Erwerbung dieser Eigenschaften zu üben, der wird dann noch nötig haben, in der Seele diese Eigenschaften zum harmonischen Zusammenstimmen zu bringen. Er wird sie gewissermaßen je zwei und zwei, drei und eine usw. gleichzeitig üben müssen, um Harmonie zu bewirken.

Die charakterisierten Übungen sind durch die Methoden der Geistesschulung angegeben, weil sie bei gründlicher Ausführung in dem Geistesschüler nicht nur das bewirken, was oben als unmittelbares Ergebnis genannt worden ist, sondern mittelbar noch vieles andere im Gefolge haben, was auf dem Wege zu den geistigen Welten gebraucht wird. Wer diese Übungen in genügendem Maße macht, wird während derselben auf manche Mängel und Fehler seines Seelenlebens stoßen; und er wird die gerade ihm notwendigen Mittel finden zur Kräftigung und Sicherung seines intellektuellen, gefühlsmäßigen und Charakterlebens. Er wird gewiß noch manche andere Übungen nötig haben, je nach seinen Fähigkeiten, seinem Temperament und Charakter; solche ergeben sich aber, wenn die genannten ausgiebig durchgemacht werden. Ja, man wird bemerken, daß die dargestellten Übungen mittelbar auch dasjenige nach und nach geben, was zunächst nicht in ihnen zu liegen scheint. Wenn z.B. jemand zu wenig Selbstvertrauen hat, so wird er nach entsprechender Zeit bemerken können, daß sich durch die Übungen das notwendige Selbstvertrauen einstellt. Und so ist es in bezug auf andere Seeleneigenschaften. (Besondere, mehr ins einzelne gehende Übungen findet man in meinem Buche: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?»)“ (Lit.:GA 13, S. 330ff)

Private Lehrstunde Sommer 1903

Hier ist die Reihenfolge der dritten und vierten Übung vertauscht:

a) Gedankenkontrolle.
Der Chela darf sich nicht gestatten, die Dinge nur von einem Gesichtspunkt aus anzusehen. Wir fassen einen Gedanken, halten ihn für wahr, wahrend er doch nur von dem einen Aspekt oder Gesichtspunkt aus wahr ist; wir müssen ihn später auch von dem entgegengesetzten Gesichtspunkt aus betrachten und jedem Avers auch zugleich den Revers entgegenhalten. Nur so lernen wir einen Gedanken durch den anderen zu kontrollieren.

b) Kontrolle der Handlungen.
Der Mensch lebt und handelt im Materiellen und ist ins Zeitliche gestellt. Er kann bei der Fülle der Erscheinungswelt nur einen kleinen Teil umfassen und ist durch seine Tätigkeit an einen bestimmten Kreis des Vergänglichen gebunden. Die tägliche Meditation dient dem Chela zur Sammlung und Kontrolle seiner Handlungen. Er wird in ihnen nur das Dauernde betrachten und den Wert nur auf das Tun legen, mit dem er helfend der höheren Entwicklung seiner Mitmenschen dienen kann. Er wird die Fülle der Erscheinungswelt wieder auf die höchste Einheit zurückführen.

c) Toleranz.
Der Chela wird sich nicht von Gefühlen der Anziehung und des Abgestoßenwerdens beherrschen lassen. Er wird alle - Verbrecher und Heilige - zu verstehen suchen, und obgleich er emotionell erfährt, wird er intellektuell urteilen. Was von dem einen Gesichtspunkt richtig als böse erkannt wird, kann von einem höheren Aspekt als notwendig und folgerichtig beurteilt werden.

d) Duldsamkeit.
Glück oder Unglück mit Gleichmut hinnehmen, sie nicht zu bestimmenden Mächten werden lassen, die uns beeinflussen können. Uns nicht durch Freude und Schmerz aus unserer Richtung drängen lassen. Sich von allen äußeren Einflüssen und Einströmungen freihalten und die eigene Richtung behaupten.

e) Glaube.
Der Chela soll das freie, offene, unbefangene Herz für das höhere Geistige haben. Auch wo er eine höhere Wahrheit nicht gleich erkennt, soll er den Glauben haben, bis er diese sich durch Erkenntnis zu eigen machen kann. Wenn er nach dem Grundsatz «Alles prüfen und das Beste behalten» verfahren wollte, so würde er sein Urteil als Maßstab anlegen und sich über das höhere Geistige stellen und dem Eindringen desselben sich verschließen.

f) Gleichgewicht.
Die letzte seelische Fähigkeit würde als Resultat aller anderen sich als Gleichgewicht, als Richtungssicherheit, Seelenbilanz ergeben. Der Chela gibt sich selbst die Richtung.“ (Lit.:GA 88, S. 177f)

Innere Entwicklung

„Dann müssen wir eine Reihe von Eigenschaften entwickeln. Dazu gehört in erster Linie, daß wir Herr unserer Gedanken werden, namentlich der Gedankenfolge. Man nennt das Kontrolle der Gedanken. Überlegen Sie sich einmal, wie in der Seele des Menschen die Gedanken hin- und herschwirren, wie sie drinnen herumirrlichtelieren: da tritt ein Eindruck auf, dort ein anderer, und jeder einzelne verändert den Gedanken. Es ist nicht wahr, daß wir den Gedanken in der Hand haben, vielmehr beherrschen uns die Gedanken ganz und gar. Wir müssen aber so weit kommen, daß wir während einer gewissen Zeit des Tages uns in einen bestimmten Gedanken versenken und uns sagen: Kein anderer Gedanke darf in unsere Seele einziehen und uns beherrschen. - Damit führen wir selbst die Zügel des Gedankenlebens für einige Zeit.

Das zweite ist, daß wir uns in ähnlicher Weise zu unseren Handlungen verhalten, also Kontrolle der Handlungen üben. Dabei ist notwendig, daß wir wenigstens dazu gelangen, ab und zu solche Handlungen zu begehen, zu denen wir durch nichts, was von außen kommt, veranlaßt sind. Alles dasjenige, wozu wir durch unseren Stand, unseren Beruf, unsere Stellung veranlaßt sind, das führt uns nicht tiefer in das höhere Leben hinein. Das höhere Leben hängt von solchen Intimitäten ab, zum Beispiel daß wir den Entschluß fassen, ein Erstes zu tun, etwas, was unserer ureigensten Initiative entspringt, und wenn es auch nur eine ganz unbedeutende Tatsache wäre. Alle andern Handlungen tragen zum höheren Leben nichts bei.

Das Folgende, das dritte, was es zu erstreben gilt, ist die Ertragsamkeit. Die Menschen schwanken zwischen Freude und Schmerz hin und her, sind in diesem Zeitpunkte himmelhoch jauchzend, im andern zu Tode betrübt. So lassen sich die Menschen auf den Wellen des Lebens, der Freude und des Schmerzes schaukeln. Sie müssen aber den Gleichmut, die Gelassenheit erlangen. Das größte Leid, die größten Freuden dürfen sie nicht aus der Fassung bringen, sie müssen feststehen, ertragsam werden.

Das vierte ist das Verständnis für ein jegliches Wesen. Durch nichts wird schöner ausgedrückt, was es heißt, ein jegliches Wesen zu verstehen, als durch eine Legende, die uns über den Christus Jesus erhalten geblieben ist, nicht im Evangelium, sondern in einer persischen Erzählung. Jesus ging mit seinen Jüngern über Feld, und sie fanden auf dem Wege einen verwesenden Hund. Greulich war das Tier anzusehen. Jesus blieb stehen und warf bewundernde Blicke auf dasselbe, indem er sagte: «Wie schöne Zähne hat doch das Tier.» Jesus hat aus dem Scheußlichen das eine Schöne herausgefunden. Streben Sie, dem Herrlichen überall so beizukommen, an jedem Ding draußen in der Wirklichkeit, dann werden Sie sehen, daß jedes Ding etwas hat, zu dem man ja sagen kann. Machen Sie es wie Christus, der an dem toten Hunde die schönen Zähne bewunderte. Das ist die Richtung, die zur großen Toleranz und zum Verständnis für jegliches Ding und für jedes Wesen führt.

Die fünfte Eigenschaft ist die volle Unbefangenheit gegenüber allem Neuen, das uns entgegentritt. Die meisten Menschen beurteilen das Neue, das ihnen entgegentritt, nach dem Alten, was ihnen schon bekannt ist. Wenn jemand kommt, um ihnen etwas zu sagen, so erwidern sie gleich: Darüber bin ich anderer Meinung. - Wir dürfen aber einer Mitteilung, die uns zukommt, nicht gleich unsere Meinung gegenüberstellen, wir müssen vielmehr auf dem Ausguck stehen, um herauszufinden, wo wir etwas Neues lernen können. Und lernen können wir selbst von einem kleinen Kinde. Selbst wenn einer der weiseste Mensch wäre, so muß er geneigt sein, mit seinem Urteil zurückzuhalten und andern zuzuhören. Dieses Zuhörenkönnen müssen wir entwickeln, denn es befähigt uns, den Dingen die größtmöglichste Unbefangenheit entgegenzubringen. Im Okkultismus nennt man dies «Glaube», und das ist die Kraft, die Eindrücke, die das Neue auf uns macht, nicht durch das, was wir demselben entgegenhalten, abzuschwächen.

Die sechste Eigenschaft ist das, was jeder von selbst erhält, wenn er die angeführten Eigenschaften entwickelt hat. Das ist die innere Harmonie. Die innere Harmonie hat der Mensch, der die andern Eigenschaften hat. Dann ist es auch notwendig, daß der Mensch, der die okkulte Entwicklung sucht, das Freiheitsgefühl im höchsten Maße ausgebildet hat, das Freiheitsgefühl, durch das er in sich selbst das Zentrum seines Wesens suchen und auf eigenen Füßen stehen kann, daß er nicht jeden zu fragen braucht, was er zu tun hat, sondern daß er aufrecht steht und frei handelt. Das ist auch etwas, was man sich aneignen muß.

Hat der Mensch diese Eigenschaften in sich entwickelt, dann ist er über alle Gefahr erhaben, die die Spaltung seiner Natur in ihm bewirken könnte, dann können die Eigenschaften seiner niederen Natur nicht mehr auf ihn wirken, dann kann er vom Wege nicht mehr abirren. Daher müssen diese Eigenschaften mit großer Genauigkeit herausgebildet werden. Dann kommt das okkulte Leben, dessen Ausdruck eine gewisse Rhythmisierung des Lebens bedingt.“ (Lit.:GA 54, S. 213f)

Allgemeine Anforderungen

In den «Allgemeine Anforderungen, die ein jeder an sich selbst stellen muß, der eine okkulte Entwickelung durchmachen will» hat Rudolf Steiner eine sehr ausführliche und praxisnahe Darstellung der Nebenübungen gegeben (siehe auch GA 267, S. 55ff):

„In dem Folgenden werden die Bedingungen dargestellt, die einer okkulten Entwickelung zugrunde liegen müssen. Es sollte niemand denken, daß er durch irgendwelche Maßnahmen des äußeren oder inneren Lebens vorwärtskommen könne, wenn er diese Bedingungen nicht erfüllt. Alle Meditations- und Konzentrations- und sonstigen Übungen werden wertlos, ja, in einer gewissen Beziehung sogar schädlich sein, wenn das Leben nicht im Sinne dieser Bedingungen sich regelt. Man kann dem Menschen keine Kräfte geben; man kann nur die in ihm schon liegenden zur Entwickelung bringen. Sie entwickeln sich nicht von selbst, weil es äußere und innere Hindernisse für sie gibt. Die äußeren Hindernisse werden behoben durch die folgenden Lebensregeln. Die inneren durch die besonderen Anweisungen über Meditation und Konzentration usw.

Die erste Bedingung ist die Aneignung eines vollkommen klaren Denkens. Man muß zu diesem Zwecke sich, wenn auch nur eine ganz kurze Zeit des Tages, etwa fünf Minuten (je mehr, desto besser) freimachen von dem Irrlichtelieren der Gedanken. Man muß Herr in seiner Gedankenwelt werden. Man ist nicht Herr, wenn äußere Verhältnisse, Beruf, irgendwelche Tradition, gesellschaftliche Verhältnisse, ja, selbst die Zugehörigkeit zu einem gewissen Volkstum, wenn Tageszeit, bestimmte Verrichtungen usw., usw., bestimmen, daß man einen Gedanken hat, und wie man ihn ausspinnt. Man muß sich also in obiger Zeit ganz nach freiem Willen leer machen in der Seele von dem gewöhnlichen, alltäglichen Gedankenablauf und sich aus eigener Initiative einen Gedanken in den Mittelpunkt der Seele rücken. Man braucht nicht zu glauben, daß dies ein hervorragender oder interessanter Gedanke sein muß; was in okkulter Beziehung erreicht werden soll, wird sogar besser erreicht, wenn man anfangs sich bestrebt, einen möglichst uninteressanten und unbedeutenden Gedanken zu wählen. Dadurch wird die selbsttätige Kraft des Denkens, auf die es ankommt, mehr erregt, während bei einem Gedanken, der interessant ist, dieser selbst das Denken fortreißt. Es ist besser, wenn diese Bedingung der Gedankenkontrolle mit einer Stecknadel, als wenn sie mit Napoleon dem Großen vorgenommen wird. Man sagt sich: Ich gehe jetzt von diesem Gedanken aus und reihe an ihn durch eigenste innere Initiative alles, was sachgemäß mit ihm verbunden werden kann. Der Gedanke soll dabei am Ende des Zeitraumes noch ebenso farbenvoll und lebhaft vor der Seele stehen wie am Anfang. Man mache diese Übung Tag für Tag, mindestens einen Monat hindurch; man kann jeden Tag einen neuen Gedanken vornehmen; man kann aber auch einen Gedanken mehrere Tage festhalten. Am Ende einer solchen Übung versuche man, das innere Gefühl von Festigkeit und Sicherheit, das man bei subtiler Aufmerksamkeit auf die eigene Seele bald bemerken wird, sich voll zum Bewußtsein zu bringen, und dann beschließe man die Übungen dadurch, daß man an sein Haupt und an die Mitte des Rückens (Hirn und Rückenmark) denkt, so wie wenn man jenes Gefühl in diesen Körperteil hineingießen wollte.

Hat man sich etwa einen Monat also geübt, so lasse man eine zweite Forderung hinzutreten. Man versuche irgendeine Handlung zu erdenken, die man nach dem gewöhnlichen Verlaufe seines bisherigen Lebens ganz gewiß nicht vorgenommen hätte. Man mache sich nun diese Handlung für jeden Tag selbst zur Pflicht. Es wird daher gut sein, wenn man eine Handlung wählen kann, die jeden Tag durch einen möglichst langen Zeitraum vollzogen werden kann. Wieder ist es besser, wenn man mit einer unbedeutenden Handlung beginnt, zu der man sich sozusagen zwingen muß, zum Beispiel man nimmt sich vor, zu einer bestimmten Stunde des Tages eine Blume, die man sich gekauft hat, zu begießen. Nach einiger Zeit soll eine zweite dergleichen Handlungen zur ersten hinzutreten, später eine dritte und so fort, soviel man bei Aufrechterhaltung seiner sämtlichen anderen Pflichten ausführen kann. Diese Übung soll wieder einen Monat lang dauern. Aber man soll, soviel man kann, auch während dieses zweiten Monats der ersten Übung obliegen, wenn man sich diese letztere auch nicht mehr so zur ausschließlichen Pflicht macht wie im ersten Monat. Doch darf sie nicht außer acht gelassen werden, sonst würde man bald bemerken, wie die Früchte des ersten Monats bald verloren sind und der alte Schlendrian der unkontrollierten Gedanken wieder beginnt. Man muß überhaupt darauf bedacht sein, daß man diese Früchte, einmal gewonnen, nie wieder verliere. Hat man eine solche durch die zweite Übung vollzogene Initiativ-Handlung hinter sich, so werde man sich des Gefühles von innerem Tätigkeitsantrieb innerhalb der Seele in subtiler Aufmerksamkeit bewußt und gieße dieses Gefühl gleichsam so in seinen Leib, daß man es vom Kopfe bis über das Herz herabströmen lasse.

Im dritten Monat soll als neue Übung in den Mittelpunkt des Lebens gerückt werden die Ausbildung eines gewissen Gleichmutes gegenüber den Schwankungen von Lust und Leid, Freude und Schmerz, das «Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt» soll mit Bewußtsein durch eine gleichmäßige Stimmung ersetzt werden. Man gibt auf sich acht, daß keine Freude mit einem durchgehe, kein Schmerz einen zu Boden drücke, keine Erfahrung einen zu maßlosem Zorn oder Ärger hinreiße, keine Erwartung einen mit Ängstlichkeit oder Furcht erfülle, keine Situation einen fassungslos mache, usw., usw. Man befürchte nicht, daß eine solche Übung einen nüchtern und lebensarm mache; man wird vielmehr alsbald bemerken, daß an Stelle dessen, was durch diese Übung vorgeht, geläutertere Eigenschaften der Seele auftreten; vor allem wird man eines Tages eine innere Ruhe im Körper durch subtile Aufmerksamkeit spüren können; diese gieße man, ähnlich wie in den beiden oberen Fällen, in den Leib, indem man sie vom Herzen nach den Händen, den Füßen und zuletzt nach dem Kopfe strahlen läßt. Dies kann natürlich in diesem Falle nicht nach jeder einzelnen Übung vorgenommen werden, da man es im Grunde nicht mit einer einzelnen Übung zu tun hat, sondern mit einer fortwährenden Aufmerksamkeit auf sein inneres Seelenleben. Man muß sich jeden Tag wenigstens einmal diese innere Ruhe vor die Seele rufen und dann die Übung des Ausströmens vom Herzen vornehmen. Mit den Übungen des ersten und zweiten Monats verhalte man sich, wie mit der des ersten Monats im zweiten.

Im vierten Monat soll man als neue Übung die sogenannte Positivität aufnehmen. Sie besteht darin, allen Erfahrungen, Wesenheiten und Dingen gegenüber stets das in ihnen vorhandene Gute, Vortreffliche, Schöne usw. aufzusuchen. Am besten wird diese Eigenschaft der Seele charakterisiert durch eine persische Legende über den Christus Jesus. Als dieser mit seinen Jüngern einmal einen Weg machte, sahen sie am Wegrande einen schon sehr in Verwesung übergegangenen Hund liegen. Alle Jünger wandten sich von dem häßlichen Anblick ab, nur der Christus Jesus blieb stehen, betrachtete sinnig das Tier und sagte: Welch wunderschöne Zähne hat das Tier! Wo die ändern nur das Häßliche, Unsympathische gesehen hatten, suchte er das Schöne. So muß der esoterische Schüler trachten, in einer jeglichen Erscheinung und in einem jeglichen Wesen das Positive zu suchen. Er wird alsbald bemerken, daß unter der Hülle eines Häßlichen ein verborgenes Schönes, daß selbst unter der Hülle eines Verbrechers ein verborgenes Gutes, daß unter der Hülle eines Wahnsinnigen die göttliche Seele irgendwie verborgen ist. Diese Übung hängt in etwas zusammen mit dem, was man die Enthaltung von Kritik nennt. Man darf diese Sache nicht so auffassen, als ob man schwarz weiß und weiß schwarz nennen sollte. Es gibt aber einen Unterschied zwischen einer Beurteilung, die von der eigenen Persönlichkeit bloß ausgeht und Sympathie und Antipathie nach dieser eigenen Persönlichkeit beurteilt. Und es gibt einen Standpunkt, der sich liebevoll in die fremde Erscheinung oder das fremde Wesen versetzt und sich überall fragt: Wie kommt dieses Andere dazu, so zu sein oder so zu tun? Ein solcher Standpunkt kommt ganz von selbst dazu, sich mehr zu bestreben, dem Unvollkommenen zu helfen, als es bloß zu tadeln und zu kritisieren. Der Einwand, daß die Lebensverhältnisse von vielen Menschen verlangen, daß sie tadeln und richten, kann hier nicht gemacht werden. Denn dann sind diese Lebensverhältnisse eben solche, daß der Betreffende eine richtige okkulte Schulung nicht durchmachen kann. Es sind eben viele Lebensverhältnisse vorhanden, die eine solche okkulte Schulung in ausgiebigem Maße nicht möglich machen. Da sollte eben der Mensch nicht ungeduldig verlangen, trotz alledem Fortschritte zu machen, die eben nur unter gewissen Bedingungen gemacht werden können. Wer einen Monat hindurch sich bewußt auf das Positive in allen seinen Erfahrungen hinrichtet, der wird nach und nach bemerken, daß sich ein Gefühl in sein Inneres schleicht, wie wenn seine Haut von allen Seiten durchlässig würde und seine Seele sich weit öffnete gegenüber allerlei geheimen und subtilen Vorgängen in seiner Umgebung, die vorher seiner Aufmerksamkeit völlig entgangen waren. Gerade darum handelt es sich, die in jedem Menschen vorhandene Aufmerksamlosigkeit gegenüber solchen subtilen Dingen zu bekämpfen. Hat man einmal bemerkt, daß dies beschriebene Gefühl wie eine Art von Seligkeit sich in der Seele geltend macht, so versuche man dieses Gefühl im Gedanken nach dem Herzen hinzulenken und es von da in die Augen strömen zu lassen, von da hinaus in den Raum vor und um den Menschen herum. Man wird bemerken, daß man ein intimes Verhältnis zu diesem Raum dadurch erhält. Man wächst gleichsam über sich hinaus. Man lernt ein Stück seiner Umgebung noch wie etwas betrachten, das zu einem selber gehört. Es ist recht viel Konzentration zu dieser Übung notwendig und vor allen Dingen ein Anerkennen der Tatsache, daß alles Stürmische, Leidenschaftliche, Affektreiche völlig vernichtend auf die angedeutete Stimmung wirkt. Mit der Wiederholung der Übungen von den ersten Monaten hält man es wieder so, wie für frühere Monate schon angedeutet ist.

Im fünften Monat versuche man dann in sich das Gefühl auszubilden, völlig unbefangen einer jeden neuen Erfahrung gegenüberzutreten. Was uns entgegentritt, wenn die Menschen gegenüber einem eben Gehörten und Gesehenen sagen: «Das habe ich noch nie gehört, das habe ich noch nie gesehen, das glaube ich nicht, das ist eine Täuschung», mit dieser Gesinnung muß der esoterische Schüler vollständig brechen. Er muß bereit sein, jeden Augenblick eine völlig neue Erfahrung entgegenzunehmen. Was er bisher als gesetzmäßig erkannt hat, was ihm als möglich erschienen ist, darf keine Fessel sein für die Aufnahme einer neuen Wahrheit. Es ist zwar radikal ausgesprochen, aber durchaus richtig, daß wenn jemand zu dem esoterischen Schüler kommt und ihm sagt: «Du, der Kirchturm der X-Kirche steht seit dieser Nacht völlig schief», so soll der Esoteriker sich eine Hintertür offen lassen für den möglichen Glauben, daß seine bisherige Kenntnis der Naturgesetze doch noch eine Erweiterung erfahren könne durch eine solche scheinbar unerhörte Tatsache. Wer im fünften Monat seine Aufmerksamkeit darauf lenkt, so gesinnt zu sein, der wird bemerken, daß sich ein Gefühl in seine Seele schleicht, als ob in jenem Raum, von dem bei der Übung im vierten Monat gesprochen wurde, etwas lebendig würde, als ob sich darin etwas regte. Dieses Gefühl ist außerordentlich fein und subtil. Man muß versuchen, dieses subtile Vibrieren in der Umgebung aufmerksam zu erfassen und es gleichsam einströmen zu lassen durch alle fünf Sinne, namentlich durch Auge, Ohr und durch die Haut, insofern diese letztere den Wärmesinn enthält. Weniger Aufmerksamkeit verwende man auf dieser Stufe der esoterischen Entwickelung auf die Eindrücke jener Regungen in den niederen Sinnen, des Geschmacks, Geruchs und des Tastens. Es ist auf dieser Stufe noch nicht gut möglich, die zahlreichen schlechten Einflüsse, die sich unter die auch vorhandenen guten dieses Gebiets einmischen, von diesen zu unterscheiden; daher überläßt der Schüler diese Sache einer späteren Stufe.

Im sechsten Monat soll man dann versuchen, systematisch in einer regelmäßigen Abwechslung alle fünf Übungen immer wieder und wieder vorzunehmen. Es bildet sich dadurch allmählich ein schönes Gleichgewicht der Seele heraus. Man wird namentlich bemerken, daß etwa vorhandene Unzufriedenheiten mit Erscheinung und Wesen der Welt vollständig verschwinden. Eine allen Erlebnissen versöhnliche Stimmung bemächtigt sich der Seele, die keineswegs Gleichgültigkeit ist, sondern im Gegenteil erst befähigt, tatsächlich bessernd und fortschrittlich in der Welt zu arbeiten. Ein ruhiges Verständnis von Dingen eröffnet sich, die früher der Seele völlig verschlossen waren. Selbst Gang und Gebärde des Menschen ändern sich unter dem Einfluß solcher Übungen, und kann der Mensch gar eines Tages bemerken, daß seine Handschrift einen anderen Charakter angenommen hat, dann darf er sich sagen, daß er eine erste Sprosse auf dem Pfade aufwärts eben im Begriffe zu erreichen ist. Noch einmal muß zweierlei eingeschärft werden:

Erstens, daß die besprochenen sechs Übungen den schädlichen Einfluß, den andere okkulte Übungen haben können, paralysieren, so daß nur das Günstige vorhanden bleibt. Und zweitens, daß sie den positiven Erfolg der Meditations- und Konzentrationsarbeit eigentlich allein sichern. Selbst die bloße noch so gewissenhafte Erfüllung landläufiger Moral genügt für den Esoteriker noch nicht, denn diese Moral kann sehr egoistisch sein, wenn sich der Mensch sagt: Ich will gut sein, damit ich für gut befunden werde. - Der Esoteriker tut das Gute nicht, weil er für gut befunden werden soll, sondern weil er nach und nach erkennt, daß das Gute allein die Evolution vorwärts bringt, das Böse dagegen und das Unkluge und das Häßliche dieser Evolution Hindernisse in den Weg legen.“ (Lit.:GA 245, S. 15ff)

Weitere Regeln in Fortsetzung der «Allgemeinen Anforderungen»

„Die folgenden Regeln sollten so aufgefaßt werden, daß jeder esoterische Schüler sein Leben womöglich so einrichtet, daß er sich fortwährend beobachtet und lenkt, ob er namentlich in seinem Innern den entsprechenden Forderungen nachlebt. Alle esoterische Schulung, namentlich wenn sie in die höheren Regionen aufsteigt, kann nur zum Unheil und zur Verwirrung des Schülers führen, wenn solche Regeln nicht beobachtet werden. Dagegen braucht niemand vor einer solchen Schulung zurückzuschrecken, wenn er sich bestrebt, im Sinne dieser Regeln zu leben. Dabei braucht er auch nicht zu verzagen, wenn er sich etwa sagen müßte: «Ich erfülle die damit gestellte Forderung ja doch noch sehr schlecht.» Wenn er nur das innerliche ehrliche Bestreben hat, bei seinem ganzen Leben diese Regeln nicht aus dem Auge zu verlieren, so genügt das schon. Doch muß diese Ehrlichkeit vor allen Dingen eine Ehrlichkeit vor sich selbst sein. Gar mancher täuscht sich in dieser Hinsicht. Er sagt: Ich will in reinem Sinne streben. Würde er sich aber näher prüfen, so würde er doch bemerken, daß viel verborgener Egoismus, raffiniertes Persönlichkeitsgefühl im Hintergrunde lauern; solche Gefühle sind es namentlich, die sich sehr oft die Maske des selbstlosen Strebens aufsetzen und den Schüler irreführen. Es kann gar nicht oft genug durch innere Selbstschau ernstlich geprüft werden, ob man nicht dergleichen Gefühle doch im Innern seiner Seele verborgen hat. Man wird von solchen Gefühlen immer mehr durch energische Verfolgung eben der hier zu besprechenden Regeln frei werden. Diese Regeln sind:

Erstens:

Es soll in mein Bewußtsein keine ungeprüfte Vorstellung eingelassen werden.

Man beobachte einmal, wie viele Vorstellungen, Gefühle und Willensimpulse in der Seele eines Menschen leben, die er durch Lebenslage, Beruf, Familienzusammengehörigkeit, Volkszugehör, Zeitverhältnisse usw. aufnimmt. Solcher Inhalt der Seele soll nicht etwa so aufgefaßt werden, als wenn die Austilgung eine für alle Menschen moralische Tat sei. Der Mensch erhält ja seine Festigkeit und Sicherheit im Leben dadurch, daß ihn Volkstum, Zeitverhältnisse, Familie, Erziehung usw. tragen. Würde er leichtsinnig solche Dinge von sich werfen, so würde er bald stützlos im Leben dastehen. Es ist insbesondere für schwache Naturen nicht wünschenswert, daß sie nach dieser Richtung zu weit gehen. Namentlich soll sich ein jeder esoterische Schüler klar machen, daß mit Beobachtung dieser ersten Regel einhergehen muß die Erwerbung des Verständnisses für alle Taten, Gedanken und Gefühle auch andrer Wesen. Es darf niemals dazu kommen, daß die Befolgung dieser Regel zur Zügellosigkeit oder etwa dahin führe, daß jemand sich sagt, ich breche mit allen Dingen, in die ich hineingeboren und durch das Leben hineingestellt worden bin. Im Gegenteil, je mehr man prüft, desto mehr wird man die Berechtigung dessen einsehen, was in Eines Umgebung lebt. Nicht um das Bekämpfen und das hochmütige Ablehnen dieser Dinge handelt es sich, sondern um das innere Freiwerden durch sorgfältige Prüfung alles dessen, was in einem Verhältnis zu der eignen Seele steht. Man wird dann aus der Kraft dieser eignen Seele heraus ein Licht verbreiten über sein ganzes Denken und Verhalten, das Bewußtsein wird sich dementsprechend erweitern, und man wird sich überhaupt aneignen, immer mehr und mehr die geistigen Gesetze, die sich in der Seele offenbaren, sprechen zu lassen, und sich nicht mehr in die blinde Gefolgschaft der umgebenden Welt stellen. Es liegt nahe, daß gegenüber dieser Regel geltend gemacht werde: Wenn der Mensch alles prüfen soll, so wird er ja insbesondere die okkulten und esoterischen Lehren prüfen müssen, die ihm gerade von seinem esoterischen Lehrer gegeben werden. - Es handelt sich darum, das Prüfen im rechten Sinne zu verstehen. Man kann nicht immer eine Sache direkt prüfen, sondern man muß vielfach indirekt diese Prüfung anstellen. Es ist zum Beispiel auch heute niemand in der Lage, direkt zu prüfen, ob Friedrich der Große gelebt hat oder nicht. Er kann lediglich prüfen, ob der Weg, auf dem die Nachrichten über Friedrich den Großen auf ihn gekommen sind, ein vertrauenswürdiger ist. Hier muß die Prüfung am richtigen Ort einsetzen. So hat man es auch mit allem sogenannten Autoritätsglauben zu halten. Überliefert einem jemand etwas, was man nicht selbst unmittelbar einsehen kann, so hat man vor allen Dingen mit dem einem zur Verfügung stehenden Material zu prüfen, ob er eine glaubwürdige Autorität ist, ob er Dinge sagt, die eine Ahnung und Empfindung davon hervorrufen, daß sie wahr sind. An diesem Beispiele wird man ersehen, daß es sich darum handelt, die Prüfung beim richtigen Punkte einzusetzen.

Eine zweite Regel ist:

Es soll die lebendige Verpflichtung vor meiner Seele stehen, die Summe meiner Vorstellungen fortwährend zu vermehren.

Nichts ist schlimmer für den esoterischen Schüler, als wenn er bei einer gewissen Summe Begriffe, die er schon hat, stehen bleiben will, und mit ihrer Hilfe alles begreifen will. Unendlich wichtig ist es, sich immer neue und neue Vorstellungen anzueignen. Falls dies nicht geschieht, so würde der Schüler, falls er zu übersinnlichen Einsichten käme, diesen mit keinem wohl vorbereiteten Begriff entgegenkommen und von ihnen überwältigt werden, entweder zu seinem Nachteil oder wenigstens zu seiner Unbefriedigung; dieses letztere darum, weil er unter solchen Umständen schon höhere Erfahrungen haben könnte, ohne daß er es überhaupt merkte. Die Zahl der Schüler ist überhaupt nicht gering, welche schon ganz umgeben sein könnten von höheren Erfahrungen, aber nichts davon bemerken, weil sie wegen ihrer Vorstellungsarmut sich einer ganz anderen Erwartung hingeben bezüglich dieser Erfahrungen, als die richtige ist. Viele Menschen neigen im äußeren Leben gar nicht zur Bequemlichkeit, in ihrem Vorstellungsleben aber sind sie direkt abgeneigt, sich zu bereichern, neue Begriffe zu bilden.

Eine dritte Regel ist:

Mir wird nur Erkenntnis über diejenigen Dinge, deren Ja und Nein gegenüber ich weder Sympathie noch Antipathie habe.

Ein alter Eingeweihter schärfte es immer wieder und wieder seinen Schülern ein: Ihr werdet von der Unsterblichkeit der Seele erst wissen, wenn ihr ebenso gern hinnehmt, diese Seele werde nach dem Tode vernichtet, wie sie werde ewig leben. Solange ihr wünscht, ewig zu leben, werdet ihr keine Vorstellung von dem Zustande nach dem Tode gewinnen. - Wie in diesem wichtigen Fall ist es mit allen Wahrheiten. Solange der Mensch noch den leisesten Wunsch in sich hat, die Sache möge so oder so sein, kann ihm das reine helle Licht der Wahrheit nicht leuchten. Wer zum Beispiel bei seiner Selbstschau den wenn auch noch so verborgenen Wunsch hat, es mögen die guten Eigenschaften bei ihm überwiegen, dem wird dieser Wunsch ein Gaukelspiel vormachen und keine wirkliche Selbsterkenntnis erlauben.

Eine vierte Regel ist die:

Es obliegt mir, die Scheu vor dem sogenannten Abstrakten zu überwinden.

Solange ein esoterischer Schüler an Begriffen hängt, die ihr Material aus der Sinneswelt nehmen, kann er keine Wahrheit über die höheren Welten erlangen. Er muß sich bemühen, sinnlichkeitsfreie Vorstellungen sich anzueignen. Von allen vier Regeln ist diese die schwerste, insbesondere in den Lebensverhältnissen unseres Zeitalters. Das materialistische Denken hat den Menschen in hohem Grade die Fähigkeit genommen, in sinnlichkeitsfreien Begriffen zu denken. Man muß sich bemühen, entweder solche Begriffe recht oft zu denken, welche in der äußeren sinnlichen Wirklichkeit niemals vollkommen, sondern nur annähernd vorhanden sind, zum Beispiel den Begriff des Kreises. Ein vollkommener Kreis ist nirgends vorhanden, er kann nur gedacht werden, aber allen kreisförmigen Gebilden liegt dieser gedachte Kreis als ihr Gesetz zugrunde. Oder man kann ein hohes sittliches Ideal denken; auch dieses kann in seiner Vollkommenheit von keinem Menschen ganz verwirklicht werden, aber es liegt vielen Taten der Menschen zugrunde als ihr Gesetz. Niemand kommt in einer esoterischen Entwickelung vorwärts, der nicht die ganze Bedeutung dieses sogenannten Abstrakten für das Leben einsieht und seine Seele mit den entsprechenden Vorstellungen bereichert.“ (Lit.:GA 267, S. 63ff)

Die Nebenübungen als Vorbereitung für die Medidation

„Es handelt sich für den Okkultisten, den wirklichen Eingeweihten, darum, die Richtung seines Lebenslaufes zu ändern. Der Mensch der Gegenwart wird in seinen Handlungen durch die Sinneseindrücke, das heißt durch die äußere Welt, bestimmt und getrieben. Aber alles, was an Raum und Zeit gebunden ist, ist ohne Bedeutung. Man kann es übergehen.

Welches sind nun die Mittel zu diesem Zweck?

Erstens: Seine Gedankenkraft auf ein einziges Objekt richten und sie darauf ruhen lassen. Das nennt man: die Gedankenkontrolle erwerben.

Zweitens: Ebenso handeln in Hinsicht auf alle Tätigkeiten, seien sie groß oder klein, sie beherrschen, sie regeln, sie unter die Kontrolle des Willens bringen. Alle müssen hinfort von einer inneren Initiative ausgehen. Das ist die Kontrolle der Handlungen.

Drittens: Das seelische Gleichgewicht. Man muß im Schmerz und in der Freude Mäßigung walten lassen. Goethe hat gesagt, daß die Seele, die liebt, bald «himmelhoch jauchzend», bald «zum Tode betrübt» sei. Der Okkultist muß mit demselben seelischen Gleichmut die größte Freude und den größten Schmerz ertragen.

Viertens: Die Positivität. Der seelische Zustand, der darin besteht, daß man das Gute in allem sucht. Eine persische Legende erzählt: Als Christus einst mit seinen Jüngern an einem übelriechenden Hundekadaver vorbeiging, wandten sich seine Jünger mit Abscheu weg. Er aber sagte, nachdem er das widerliche Schauspiel betrachtet hatte, einfach: Welche schönen Zähne hat das Tier!

Fünftens: Die Unbefangenheit. Die geistige Offenheit für jede neue Erscheinung; die Fähigkeit, sich niemals durch das Vergangene in seinem Urteil bestimmen zu lassen.

Sechstens: Das innere Gleichgewicht, das aus allen diesen vorbereitenden Übungen entspringt. Man findet sich nunmehr reif zur inneren Schulung der Seele. Man ist bereit, sich auf den Weg zu machen.

Siebentens: Die Meditation. Man muß sich blind und taub machen in bezug auf die äußere Welt und die Erinnerungen an sie, bis zu dem Grad, daß ein Kanonenschuß uns nicht aus der Fassung bringen würde. Das ist die Vorbereitung zur Meditation. Hat man sich innerlich leer gemacht, so ist man fähig, das in sich zu empfangen, was von außen kommt. Es gilt alsdann, die tieferen Seelenschichten zu erwecken durch bestimmte Ideen, die geeignet sind, die Seele zur Quelle aufsteigen zu lassen.

In «Licht auf den Weg» finden sich vier Lehren, die geeignet sind, als Gegenstände der Meditation, der inneren Konzentration verwendet zu werden. Es sind sehr alte Grundsätze, die von den Eingeweihten seit Jahrhunderten angewendet werden und deren Sinn tief und mannigfach ist.

Erste Lehre:
Bevor das Auge sehen kann,
Muß es der Tränen sich entwöhnen.

Zweite Lehre:
Bevor das Ohr vermag zu hören,
Muß die Empfindlichkeit ihm schwinden.

Dritte Lehre:
Eh' vor den Meistern kann die Stimme sprechen,
Muß das Verwunden sie verlernen.

Vierte Lehre:
Und eh' vor ihnen stehen kann die Seele,
Muß ihres Herzens Blut die Füße netzen.

“ (Lit.:GA 94, S. 43ff)

Nebenübungen und Rosenkreuzerspruch

„Wenn man bei der Konzentration, der ersten Nebenübung, sich ganz nur mit dem einen Gegenstand, den man dazu gewählt hat - je alltäglicher, desto besser -, beschäftigt, Gedanke nach Gedanke an ihn reiht und dann, wenn diese Übung zu Ende ist und man sich nicht sofort wieder in geschäftiges Treiben stürzt, wenigstens eine Viertelstunde verstreichen läßt, dann wird man — auch nicht gleich, nicht nach einer Woche, einem Monat, aber nach einiger Zeit fortgesetzter ernster Übung - fühlen, wie wenn wellenförmig etwas in den Kopf, in das Gehirn hineinkäme, wie wenn wie in Wellenlinien der Atherleib in das Gehirn zurückkäme.

Bei der zweiten Nebenübung, der Initiativübung, bei der man zu gewissen, bestimmten Zeiten den Willen anspannt zu irgendeiner Tätigkeit, da wird man mit der Zeit fühlen, nach der Übung, wie wenn man in seinem Atherleib tätig gewesen wäre; man hat das Gefühl: ich habe mich in meinem Ätherleib erfühlt. - Ein Gefühl tiefer Ehrfurcht und Frömmigkeit zieht in die Seele des Meditanten dann.

Bei der dritten Nebenübung, dem Ausgleich zwischen Freud und Leid, sollen wir uns ganz hineinfinden und hineinfügen in alles Geschehen. Dann wird sich allmählich unser Atherleib ausdehnen bis in die Himmelsweiten hinein. Wir werden uns dann nicht mehr in unserem Körper drinnen fühlen und die ganze Welt um uns herum, sondern wir fühlen unseren Körper in den ganzen Umkreis ausgebreitet; ausgeweitet und hineinergossen fühlen wir uns in die geistigen Welten. Man erfühlt, man «erweiß» sich in der geistigen Welt.

Wir erleben in diesen drei Nebenübungen die zwei ersten Sätze unseres Rosenkreuzerspruches: wie wir ganz eingebettet waren in die göttlich-geistigen Kräfte und daraus herniedergekommen sind und wie wir uns in der dritten Übung in die geistige Welt, in den Christus ergießen. Denn der Christus ist jetzt in der Erdenaura, in der Erdenatmosphäre darinnen; wir müssen ihn in uns, sozusagen neben uns, in uns walten lassen.

Bei der vierten Nebenübung Positivität ... [Textlücke] Per Spiritum Sanctum reviviscimus.

Wir werden dahin gelangen, daß wir ebenso, wie wenn wir über eine Wiese gehen, wo wir blaue und rote Blumen sehen und wissen, daß diese Blumen blau und rot sind, daß wir ebenso real erleben werden die Wahrheit unseres Rosenkreuzerspruches:

Ex Deo nascimur
In Christo morimur
Per Spiritum Sanctum reviviscimus.
Im Geiste lag der Keim meines Leibes ...“ (Lit.:GA 266c, S. 259f)

Die Nebenübungen als Vorbereitung für den Yoga-Schulungsweg

In seinen Vorträgen über «Das christliche Mysterium» bespricht Rudolf Steiner die Nebenübungen als Vorbereitung für den Yoga-Schulungsweg:

„Solche Vorbereitungen für den Pfad sind: Erstens: Abgewöhnung eines irrlichtelierenden Denkens. Dies scheint eine leichte Bedingung zu sein, ist aber in Wirklichkeit schwer. Wir werden von äußeren Eindrücken gejagt und getrieben. Zum wenigsten fünf Minuten des Tages sollte der Mensch völlig Herr über seine Gedankenfolge sein. Als Übung kann man zum Beispiel versuchen, eine einzige Vorstellung in den Mittelpunkt des Bewußtseins zu stellen. Dann darf durchaus nichts anderes mit dieser Vorstellung verbunden werden, so viel sich unwillkürlich daran reihen möge, als was ich durch freien Entschluß selber damit verbinde. Derlei Übungen sollten mit verschiedensten Gegenständen angestellt werden. Nach einiger Zeit stellt sich dann ein kontrollierteres Denken ein, das sich äußerlich schon in der präziseren Sprache ausdrückt.

Zweitens: Initiative des Handelns. Diese fehlt manchem Menschen fast ganz, denn von früh auf wird er gewöhnlich in einen Beruf gedrängt, der nun den größten Teil seines Handelns absorbiert. Unsere meisten Handlungen sind von außen bestimmt. Daher soll der, welcher die Einweihung sucht, es sich eindringlich angelegen sein lassen, zu einer bestimmten Tageszeit regelmäßig eine Handlung zu verrichten, die aus inneren, eigenen Antrieben heraus kommt, mag dies im Grunde auch etwas Unbedeutendes sein.

Drittens soll der Schüler über das «himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt» hinauskommen, das heißt, der Mensch soll sich nicht jedem Schmerz und jeder Lust willenlos überlassen, sondern er soll sein inneres Gleichgewicht beibehalten auch bei den herbsten Schmerzen und den größten Lüsten. Dies braucht ganz gewiß keine Stumpfheit und Empfindungslosigkeit zu erzeugen, im Gegenteil, es bildet sich daraus ein um so feineres und intensiveres Empfinden.

Viertens: Eine persische Legende von Christus Jesus soll im Schüler lebendig werden, nämlich: Mit den Jüngern ging Jesus über Land. Am Wege lag ein halb verwester Hund, greulich anzusehen. Die Jünger wandten sich mit Entsetzen ab, Christus Jesus hingegen schaute mit liebevollen Augen den Kadaver an und bemerkte dazu: Schaut doch die wunderschönen Zähne dieses toten Tieres! - Die Quintessenz hiervon ist, aus dem Häßlichen auch noch das verborgene Schöne herauszufinden und überhaupt immer das Positive zu suchen, das, wozu man ja sagen kann. Selbst im Leben des ärgsten Bösewichts gibt es lichte Momente, denen man verständnisvoll begegnen soll.

Fünftens ist völlige Freiheit von Vorurteilen anzustreben. Niemals soll die Vergangenheit einem das Urteil über die Gegenwart bestimmen. Etwas Neues soll man nicht einfach von sich weisen, weil es einem noch nie begegnet ist. Neuen Erkenntnissen soll man unbefangen entgegentreten, wenn man ein Eingeweihter werden will.

Sechstens: Entwickelung zur Seelenharmonie. Diese wird eigentlich aus allen andern wie von selbst entstehen.

Die angeführten Eigenschaften sind für jeden auf dem Jogaweg Einzuweihenden unerläßliche Vorbedingungen.“ (Lit.:GA 97, S. 183ff)

Die Nebenübungen mit ihren Zuordnungen zu den Seelenqualitäten Denken, Fühlen und Wollen

Gemäß den Ausführungen in der "Geheimwissenschaft" wird die erste Nebenübung dem Denken zugeordnet, die zweite dem Wollen, und die dritte dem Fühlen. Die vierte Übung "Positivität" wird dem Denken und Fühlen und die fünfte dem Denken und Wollen zugeordnet:

„Für das Denken und Fühlen ist ein weiteres Bildungsmittel die Erwerbung der Eigenschaft, welche man Positivität nennen kann.“ (Lit.:GA 13, S. 334)

Die fünfte Nebenübung dient der Entwicklung von Denken und Willen:

„Das Denken in Verbindung mit dem Willen erfährt eine gewisse Reifung, wenn man versucht, sich niemals durch etwas, was man erlebt oder erfahren hat, die unbefangene Empfänglichkeit für neue Erlebnisse rauben zulassen."“ (Lit.:GA 13, S. 335)

Die sechste Nebenübung besteht dann darin, die fünf Übungen jeweils in Kombination zu üben:

„Wer gewisse Zeiten aufeinander folgend dazu verwendet hat, um sich in der Erwerbung dieser Eigenschaften zu üben, der wird dann noch nötig haben, in der Seele diese Eigenschaften zum harmonischen Zusammenstimmen zu bringen. Er wird sie gewissermaßen je zwei und zwei, drei und eine usw. gleichzeitig üben müssen, um Harmonie zu bewirken.“ (Lit.:GA 13, S. 336)

Es ergeben sich entsprechend folgende Zuordnungen:

Denken: Erste Nebenübung Gedankenkontrolle

Wollen: Zweite Nebenübung Kontrolle der Handlungen

Fühlen: Dritte Nebenübung Gelassenheit

Denken und Fühlen: Vierte Nebenübung Positivität

Denken und Wollen: Fünfte Nebenübung Unbefangenheit

Bei der sechsten Übung, durch die in der übenden Kombination eine Harmonie erreicht werden soll, geht es dann wohl entsprechend um die gleichzeitige Übung des Denkens und Wollens und Fühlens, zunächst in je zwei und zwei der Übungen usw., und dann schließlich harmonisch alle zusammen.

Die in "Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten" und andernorts angegebene Nebenübung "Ausdauer", bzw. Beharrlichkeit oder Standhaftigkeit, könnte dann, will man der Logik der Darstellung in der Geheimwissenschaft folgen, möglicherweise der Kombination "Fühlen und Wollen" zugeordnet werden? (Standhaftigkeit erfordert Mut, der dem Fühlen zuzuordnen ist). Wie auch immer, das Gemeinsame der scheinbar widersprüchlichen Angaben bzw. Bezeichnungen ist, daß es um die Schulung der Seelenqualitäten Denken, Fühlen und Wollen geht, und daß diese Schulung in ihrer Vollendung in eine Harmonie dieser Seelenregungen mündet.

Einen anderen Aspekt offenbart die in GA 266c angeführte Zuordnung zu den Wesensgliedern. Erste Nebenübung: Physischer Leib, zweite Nebenübung: Ähterleib, usw. (s.u. Abschnitt [#Bewusstes Erleben der Wesensglieder|Bewusstes Erleben der Wesensglieder]]).

Wirkungen der Nebenübungen

Veränderungen des Schlaflebens

"Der Schlaf ist der Ausgangspunkt für die Betrachtung der Entwickelung geistiger Sinne. Vom schlafenden Menschen sind physischer und Ätherleib im Bett, Astralleib und Ich sind außerhalb derselben. Wenn nun der Mensch anfängt, im Schlafe schauend zu werden, dann werden dem Körper für eine gewisse Zeit Kräfte entzogen, die bisher die Wiederherstellung an physischem und Ätherleib besorgt haben. Sie müssen auf andere Weise ersetzt werden, soll nicht eine große Gefahr für den physischen und den Ätherleib entstehen. Geschieht dies nämlich nicht, dann kommen diese mit ihren Kräften sehr herunter, und amoralische Wesenheiten bemächtigen sich ihrer. Daher kann es vorkommen, daß Menschen zwar das astrale Hellsehen entwickeln, aber unmoralische Menschen werden. Wie lange die Vorübungen dauern, das ist ganz individuell. Es kommt eben ganz darauf an, auf welcher Entwickelungsstufe der Mensch bei Beginn seiner Schülerschaft schon steht. Darum muß der Lehrer zuerst den inneren Seelenzustand des Schülers durchschauen. Die Vorbereitungszeit ist deshalb oft sehr verschieden. Wichtig ist folgender Satz: Man kann eine Wesenheit und eine Sache um so mehr sich selbst überlassen, je mehr Rhythmus man hineingebracht hat. So muß der Geheimschüler auch in seine Gedankenwelt eine gewisse Regelmäßigkeit, einen Rhythmus hineinbilden. Dazu ist notwendig:

Erstens: Gedankenkontrolle, das heißt, der Schüler darf nur die Gedanken in sich hineinkommen lassen, die er selbst haben will. Diese Übungen erfordern viel Geduld und Ausdauer. Aber wenn man sie nur fünf Minuten lang täglich treibt, sind sie schon von Bedeutung für das innere Leben.

Zweitens: Initiative in den Handlungen. Diese sollen etwas sein, was ursprünglich aus der eigenen Seele selbst herauskommt.

Drittens: Innere Gelassenheit. Man entwickelt dadurch ein viel feineres Mitgefühl.

Viertens: In allen Dingen und Vorgängen die positive Seite suchen und finden. Ich erinnere dabei an die schöne Legende von Christus und dem toten Hund.

Fünftens: Unbefangenheit und Vorurteilslosigkeit. Man soll sich stets die Möglichkeit offen lassen, neue Tatsachen anzuerkennen.

Sechstens: Inneres Gleichgewicht und innere Harmonie.

Wenn der Mensch diese Eigenschaften alle in sich ausbildet, dann kommt ein solcher Rhythmus in sein inneres Leben, daß der Astralleib die Regeneration im Schlafe nicht mehr zu verrichten braucht. Denn es kommt durch diese Übungen in den Ätherleib ein solches Gleichgewicht, daß er sich selbst beschützen und wiederherstellen kann. Wer die okkulte Schulung ohne die Ausbildung dieser sechs Eigenschaften beginnt, der läuft Gefahr und ist nachts den schlimmsten Wesenheiten ausgesetzt. Wer aber die sechs Eigenschaften eine Zeitlang geübt hat, der darf damit beginnen, seine astralischen Sinne zu entwickeln, und er fängt dann an, mit Bewußtsein zu schlafen. Seine Träume sind nicht mehr willkürlich, sondern sie gewinnen Regelmäßigkeit; die Astralwelt steigt vor ihm auf. Nun hat er die Fähigkeit, alles Seelische seiner Umgebung in Bildern wahrzunehmen. Er bekommt ein Verhältnis zu der seelischen Wirklichkeit. Dieses Bilderbewußtsein nennt man die Imagination. Zuerst gewinnt der Schüler die Imagination im Schlaf, später aber muß er imstande sein, zu jeder beliebigen Tageszeit diesen Zustand hervorzurufen. Er lernt die Erfahrungen des Schlafes ins Wachbewußtsein herüberzunehmen. Aber erst dann ist diese Fähigkeit für den Okkultisten wertvoll, wenn er die Auren der Lebewesen vollbewußt schauen kann.

Die erste Stufe ist also die Imagination. Mit ihr hängt die Ausbildung der sogenannten Lotusblumen zusammen, der heiligen Räder oder - indisch - Chakrams, die an ganz bestimmten Stellen des Körpers liegen. Man unterscheidet sieben solcher astralen Organe. Die erste, die zweiblättrige Lotusblume, ist in der Gegend der Nasenwurzel; die zweite, die sechzehnblättrige, liegt in der Höhe des Kehlkopfes; die dritte, die zwölfblättrige, in der Höhe des Herzens; die vierte, die acht- bis zehnblättrige, in der Nähe des Nabels; die fünfte, die sechsblättrige, etwas tiefer unten; die sechste, die vierblättrige, die mit allem, was Befruchtung ist, zusammenhängt, ist noch weiter unten; von der siebenten kann nicht ohne weiteres gesprochen werden. Diese sechs Organe haben für die seelische Welt dieselbe Bedeutung wie die physischen Sinne für die Wahrnehmung der Sinnenwelt. Ein Bild dafür ist die sogenannte Swastika. Durch die genannten Übungen werden sie zuerst heller, dann beginnen sie sich zu bewegen. Beim heutigen Menschen sind sie unbeweglich, beim Atlantier waren sie noch beweglich, beim Lemurier noch sehr lebhaft bewegt. Aber sie drehten sich damals in entgegengesetzter Richtung als heute beim okkult Entwickelten, wo sie sich in der Richtung des Uhrzeigers drehen. Eine Analogie zu dem traumhaft hellseherischen Zustand der Lemurier ist die Tatsache, daß sich auch bei den heutigen Medien mit atavistischem Hellsehen noch immer die Lotusblumen in der Richtung drehen, wie einst in der atlantischen und lemurischen Zeit, nämlich gegen den Uhrzeiger. Das Hellsehen der Medien ist ein unbewußtes, ohne Gedankenkontrolle, das des echten Hellsehers aber bewußt und von den Gedanken genau überwacht. Die Mediumschaft ist sehr gefährlich, die gesunde Geheimschulung aber gänzlich ungefährlich." (Lit.: GA 94, S. 171ff)

Bewusstes Erleben der Wesensglieder

Eine Folge der Nebenübungen ist, dass man seine Wesensglieder vom physischen Leib bis hinauf zum Geistselbst immer bewusster zu erleben beginnt:

"Woher kommt es denn, daß man seinen physischen Körper so wenig kennt? Weil man in ihm lebt und ihn nur empfindungsgemäß wahrnimmt. Man sieht mit dem Auge, daher kann man es nicht beobachten. Der Esoteriker muß dazu gelangen, sich mit seinem Geistig-Seelischen zurückzuziehen, frei zu machen vom Physischen. Dann wird es ihm gelingen, seinen physischen Körper zu beobachten. Es verhilft uns dazu, wenn wir unsere Gedanken möglichst auf einen Punkt zusammenziehen, konzentrieren und in diesen Punkt dann untertauchen, für eine Zeitlang darin leben. Durch solche Konzentration tritt eine Verstärkung der Denkkraft ein und durch sie kann man allmählich dahin gelangen, seinen physischen Körper zu beobachten. Ferner müssen wir dahin gelangen, unseren Ätherkörper kennenzulernen. Das ist noch schwieriger, denn der ätherische Körper ist nicht von der Haut eingeschlossen wie der physische Leib, sondern er ist ein feines Gewebe, das seine Strömungen überall hinaussendet in die Außenwelt und auch von allem, was in der Außenwelt vorgeht, beeindruckt wird, oft dem Menschen ganz unbewußt.

Den Ätherleib lernt man erfühlen durch richtiges Betreiben der zweiten Nebenübung, der Übung des Willens. Gewöhnlich wird ja der Mensch durch äußere Eindrücke zu seinen Handlungen getrieben. Er sieht die Blume auf der Wiese, und da sie ihm gefällt, streckt er die Hand nach ihr aus, um sie zu pflücken. Nun, als Esoteriker, müssen wir dahin gelangen, ohne Anregung von außen, nur aus dem inneren Impulse heraus, den wir uns bewußt geben, dies oder jenes zu tun. Dann kommt man dazu [zu erkennen], es ist der Ätherleib, der die Hand zu der Bewegung veranlaßt. So fühlt man seinen Ätherleib erwachen. Durch diesen erwachenden Ätherleib lernt man nach und nach, sich zu erleben in einer ätherischen Welt. In Wirklichkeit geschieht bei jeder Bewegung, die wir machen, z. Β. wenn ich einen Gegenstand angreife, mich daran stoße, ein Angriff auf die Außenwelt. Der Nicht-Esoteriker ahnt nichts davon, er ist behütet durch den Hüter der Schwelle vor diesem Wissen, aber der Esoteriker verselbständigt nach und nach seinen Ätherleib, der in der ätherischen Welt sich erlebt. Seine Organe werden feiner, er eignet sich immer mehr eine Empfindung an dafür, daß ein jeder Raum erfüllt ist nicht nur von physischen Gegenständen, sondern von einer zahllosen Menge von Elementarwesen, die sich durch Stechen, Stoßen, Brennen bemerkbar machen. Man muß sich in dieser elementarischen Ätherwelt überall Raum schaffen durch Willensimpulse wie Ausstrecken, Zurückziehen, Stoßen, Vorwärtsschreiten etc., und solche Bewegungen müssen mit dem vollen Bewußtsein, daß man es aus seinem eigensten Wesen heraus will, geschehen. Das ist das zweite: Initiative der Handlungen. Wer sich in der Ätherwelt ohne seinen Initiativ- Willen keinen Raum schaffen kann, der kann in dieser Welt ebensowenig etwas ausrichten, wie jemand, der in der physischen Welt tanzen wollte auf einem Podium, das voller Stühle steht. Erst müssen die Stühle fortgeschafft werden. Das lernt man im Geistigen durch die zweite Übung.

Um unseres Astralleibes bewußt zu werden, müssen wir genau das Umgekehrte tun. Wir müssen da die im Astralleib wogenden Begierden zurückhalten, da müssen wir diesen gegenüber Gelassenheit und Gleichmut entwickeln. Wir müssen absolute Windstille, absolute Ruhe in uns herstellen. Dann erst fühlen wir die äußere astrale Welt an unsere innere astrale Welt stoßen. Wie wir an die ätherische Welt stoßen dadurch, daß wir von uns aus in sie eingreifen in unserem Wollen, so fühlen wir die äußere astrale Welt dadurch, daß wir ruhig in uns selber bleiben, daß wir alle Begierden, Wünsche zur Ruhe bringen.

Bevor der Astralleib soweit ist, betäubt er sich durch den Schrei. Wir wissen ja, daß ein Schmerz entsteht, wenn der physische Leib und der ätherische Leib nicht in richtigem Kontakt sind. Das empfindet der Astralleib als Schmerz. Das kleine Kind, wenn es Schmerz empfindet, schreit. Es sucht den Schmerz zu übertönen im Schreien. Der Erwachsene ruft vielleicht: au! Wenn es dem Menschen gelänge, seinen Schmerz völlig in den Vibrationen des Tons hinströmen zu lassen, so würden durch dessen Schwingungen in der Formation des Ätherleibes solche Veränderungen entstehen, daß er nicht den Schmerz empfände, sondern daß er hinuntersänke ins Unterbewußtsein.

Aber die guten Götter haben den Menschen schwächer veranlagt, und es ist gut so, denn sonst gäbe es kein Leid und auch keine artikulierte Sprache. Der Esoteriker muß dahin gelangen, alle Schmerzen, überhaupt alles, was durch das Äußere in ihm angeregt wird, in ihm vorgeht, ruhig, gelassen, gleichmütig zu ertragen. Dann wird er nicht Angriffe machen (durch seinen Astralleib) auf die Außenwelt, sondern die Angriffe wenden sich von außen an ihn. Aber da er völlige Gelassenheit entwickelt hat, so berühren sie nur seinen physischen und ätherischen Leib. Der Astralleib bleibt unberührt. Er wird sozusagen frei, und man kann ihn beobachten. Also durch die Übung in der Gelassenheit gelange ich dazu, meinen Astralleib kennenzulernen.

Schließlich muß ich auch noch dazu kommen, mein Ich kennenzulernen. Ich kann mein Ich nicht erfühlen, weil ich in ihm lebe. Daher müssen wir es in die Welt ausgießen. Mein Ich lerne ich kennen durch das, was wir bezeichnen als Positivität (Gleichnis vom Hunde).

Wenn wir es machen wie der Christus-Jesus, so sehen wir nicht das Häßliche, sondern tauchen soweit hinein in alles, daß wir an das Gute kommen. Auf diese Weise kommen wir los von unserm Ich und können es beobachten. Ich ist Liebe und Wille. Durch den entwickelten Willen lernen wir erkennen die Substanz aller Dinge, die im Göttlichen urständet. Durch die Liebe lernen wir das Wesen der Dinge miterleben. So dringen wir durch Wille und Liebe vor zum Erkennen, das frei ist vom persönlichen Ich. Als geistiges Ich lernen wir untertauchen in Wesen und Substanz aller Dinge, die ja aus dem geistigen Vatergrund stammen, wie auch unser eigenes Ich. Unser Ich schaut uns aus allem Geschaffenen an («Schwan»). Der Schüler erreicht die Stufe des «Schwan», wenn er das erleben kann.

Auf der fünften Stufe entwickeln wir Manas oder Geistselbst. Da dürfen wir uns nicht festlegen auf dasjenige, was wir bisher gesehen, gelernt, gehört haben. Wir müssen lernen, von alle dem abzusehen, uns allem, was uns entgegentritt, ganz wie ausgeleert von dem Bisherigen zu erhalten. Manas kann nur entwickelt werden, wenn man lernt, alles, was wir uns durch Eigendenken erworben haben, doch nur zu empfinden als etwas Minderwertiges gegenüber dem, was wir uns erwerben können, indem wir uns den Gedanken öffnen, die aus dem gottgewobenen Kosmos einströmen. Aus diesen göttlichen Gedanken ist alles, was uns umgibt, entstanden. Wir haben sie nicht durch unser bisheriges Denken finden können. Da verbergen es uns die Dinge. Jetzt lernen wir hinter allem wie ein verborgenes Rätsel dies Göttliche zu erahnen. Immer mehr lernen wir in Bescheidenheit einsehen, wie wenig wir bisher von diesen Rätseln ergründet haben. Und wir lernen, daß wir eigentlich alles aus unserer Seele entfernen müssen, was wir bisher gelernt haben, daß wir ganz unbefangen, wie ein Kind, allem entgegentreten müssen — daß sich nur der Unbefangenheit der Seele darbieten die göttlichen Rätsel, die uns umgeben. Kindlich muß die Seele werden, um in die Reiche der Himmel eindringen zu können. Der kindlichen Seele strömt dann entgegen die verborgene Weisheit - Manas - wie ein Geschenk der Gnade aus der geistigen Welt.

Weiter zu gehen ist für den Menschen nicht nötig, da er durch diese fünf Stufen den Kontakt mit der geistigen Welt herstellt. Es muß nun noch durch stete Wiederholung dieser fünf Übungen zwischen den verschiedenen Fähigkeiten, die durch sie erlangt werden sollen, die Harmonie des Zusammenwirkens hergestellt werden. Das bewirkt die sechste Übung.

Diese Übungen sind von allergrößter Wichtigkeit. Durch sie kann die Seele den Weg finden in die geistigen Welten. Überall, in allen Schriften, Zyklen, Vorträgen finden Sie Hinweise auf diese fünf Übungen. Und es brauchte keine esoterische Stunde stattzufinden, wenn jeder sie aufmerksam läse und die Kräfte dieser Übungen in seiner Seele zum Leben erweckte. Sie dienen den speziell gegebenen Übungen zur Unterstützung." (Lit.: GA 266c, S. 241ff)

Weitere Wirkungen

"Die charakterisierten Übungen sind durch die Methoden der Geistesschulung angegeben, weil sie bei gründlicher Ausführung in dem Geistesschüler nicht nur das bewirken, was oben als unmittelbares Ergebnis genannt worden ist, sondern mittelbar noch vieles andere im Gefolge haben, was auf dem Wege zu den geistigen Welten gebraucht wird. Wer diese Übungen in genügendem Maße macht, wird während derselben auf manche Mängel und Fehler seines Seelenlebens stoßen; und er wird die gerade ihm notwendigen Mittel finden zur Kräftigung und Sicherung seines intellektuellen, gefühlsmäßigen und Charakterlebens. Er wird gewiss noch manche andere Übungen nötig haben, je nach seinen Fähigkeiten, seinem Temperament und Charakter; solche ergeben sich aber, wenn die genannten ausgiebig durchgemacht werden. Ja, man wird bemerken, dass die dargestellten Übungen mittelbar auch dasjenige nach und nach geben, was zunächst nicht in ihnen zu liegen scheint. Wenn zum Beispiel jemand zu wenig Selbstvertrauen hat, so wird er nach entsprechender Zeit bemerken können, dass sich durch die Übungen das notwendige Selbstvertrauen einstellt. Und so ist es in bezug auf andere Seeleneigenschaften." GA 13, S. 251f.

Die sechs Tugenden und die Anthroposophische Gesellschaft

"Ja, meine lieben Freunde, diese sechs Tugenden braucht schon in ihrer Gänze die Anthroposophische Gesellschaft selbst, und es muß angestrebt werden, daß die Anthroposophische Gesellschaft als solche diese Tugenden habe." (Lit.: GA 257, S. 25)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.
  1. Als Propädeutikum/Vorschule zu seinem Werk "Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten" sah Steiner die Briefe «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» von Friedrich Schiller an.<Quelle> An diese Briefe, bzw. den von Schiller in ihnen gezeigten Weg, kann man sich dann wohl halten, wenn man mit den Nebenübungen zunächst noch überfordert ist.
  2. Nach GA 13, S. 251 nicht von selbst. Siehe Inneres Gleichgewicht