GA 4

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Die Philosophie der Freiheit (1894)

Grundzüge einer modernen Weltanschauung – Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode

In seinem philosophischen Hauptwerk, das zugleich das Fundament der anthroposophischen Geisteswissenschaft bildet, setzt sich Rudolf Steiner mit Grundfragen des Erkenntnisprozesses auseinander und begründet eine auf die freie geistige Individualität gegründete Ethik. Der Begriff der moralischen Intuition wird entwickelt und die Grundmaxime des freien Menschen formuliert.

siehe auch -> Dokumente zur «Philosophie der Freiheit» (GA 4a)

Inhalt

Vorrede [zur Neuausgabe 1918]

"Zwei Wurzelfragen des menschlichen Seelenlebens sind es, nach denen hingeordnet ist alles, was durch dieses Buch besprochen werden soll. Die eine ist, ob es eine Möglichkeit gibt, die menschliche Wesenheit so anzuschauen, daß diese Anschauung sich als Stütze erweist für alles andere, was durch Erleben oder Wissenschaft an den Menschen herankommt, wovon er aber die Empfindung hat, es könne sich nicht selber stützen. Es könne von Zweifel und kritischem Urteil in den Bereich des Ungewissen getrieben werden. Die andere Frage ist die: Darf sich der Mensch als wollendes Wesen die Freiheit zuschreiben, oder ist diese Freiheit eine bloße Illusion, die in ihm entsteht, weil er die Fäden der Notwendigkeit nicht durchschaut, an denen sein Wollen ebenso hängt wie ein Natur geschehen? Nicht ein künstliches Gedankengespinst ruft diese Frage hervor. Sie tritt ganz naturgemäß in einer bestimmten Verfassung der Seele vor diese hin. Und man kann fühlen, es ginge der Seele etwas ab von dem, was sie sein soll, wenn sie nicht vor die zwei Möglichkeiten: Freiheit oder Notwendigkeit des Wollens, einmal mit einem möglichst großen Frageernst sich gestellt sähe. In dieser Schrift soll gezeigt werden, daß die Seelenerlebnisse, welche der Mensch durch die zweite Frage erfahren muß, davon abhängen, welchen Gesichtspunkt er gegenüber der ersten einzunehmen vermag. Der Versuch wird gemacht, nachzuweisen, daß es eine Anschauung über die menschliche Wesenheit gibt, welche die übrige Erkenntnis stützen kann; und der weitere, darauf hinzudeuten, daß mit dieser Anschauung für die Idee der Freiheit des Willens eine volle Berechtigung gewonnen wird, wenn nur erst das Seelengebiet gefunden ist, auf dem das freie Wollen sich entfalten kann." (Lit.: GA 004, S. 7f)

Wissenschaft der Freiheit

I. Das bewußte menschliche Handeln

Ausgehend von der Grundfrage: "Ist der Mensch in seinem Denken und Handeln ein geistig freies Wesen oder steht er unter dem Zwange einer rein naturgesetzlichen ehernen Notwendigkeit?" bespricht Rudolf Steiner die Standpunkte der Philosophen David Friedrich Strauß und Herbert Spencer, die die Möglichkeit der menschlichen Freiheit verneinen, weil der Mensch der naturgesetzlichen Notwendigkeit unterliegt. Keimhaft finden sich ihre Ansichten bereits bei Baruch Spinoza: «Ich nenne nämlich die Sache frei, die aus der bloßen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt, und gezwungen nenne ich die, welche von etwas anderem zum Dasein und Wirken in genauer und fester Weise bestimmt wird. So besteht zum Beispiel Gott, obgleich notwendig, doch frei, weil er nur aus der Notwendigkeit seiner Natur allein besteht.» Wohingegen alle erschaffenen Dinge nach Ansicht Spinozas «von äußern Ursachen bestimmt werden, in fester und genauer Weise zu bestehen und zu wirken.» Spinoza bringt das Beispiel eines Steins, der durch einen äußeren Stoß in Bewegung gesetzt wird und dann weiter in dieser Bewegung beharrt: «Nehmen Sie nun, ich bitte, an, daß der Stein, während er sich bewegt, denkt und weiß, er bestrebe sich, soviel er kann, in dem Bewegen fortzufahren. Dieser Stein, der nur seines Strebens sich bewußt ist und keineswegs gleichgültig sich verhält, wird glauben, daß er ganz frei sei und daß er aus keinem andern Grunde in seiner Bewegung fortfahre, als weil er es wolle. Dies ist aber jene menschliche Freiheit, die alle zu besitzen behaupten und die nur darin besteht, daß die Menschen ihres Begehrens sich bewußt sind, aber die Ursachen, von denen sie bestimmt werden, nicht kennen.» Steiner deckt nun den Grundirrtum derartiger Ansichten auf; anders als der Stein kann der Mensch sehr wohl ein Bewusstsein von den Gründen seines Tuns haben: "Und ein tiefgreifender Unterschied ist es doch, ob ich weiß, warum ich etwas tue, oder ob das nicht der Fall ist. Zunächst scheint das eine ganz selbstverständliche Wahrheit zu sein. Und doch wird von den Gegnern der Freiheit nie danach gefragt, ob denn ein Beweggrund meines Handelns, den ich erkenne und durchschaue, für mich in gleichem Sinne einen Zwang bedeutet, wie der organische Prozeß, der das Kind veranlaßt, nach Milch zu schreien."

Ganz andere Argumente gegen die menschliche Freiheit bringt Eduard von Hartmann, für den das Wollen von zwei Hauptfaktoren abhängt: den augenblicklichen Beweggründen (den Motiven) und der charakterologischen Anlage: «Wenn aber auch wir selbst die Vorstellungen erst zu Motiven erheben, so tun wir dies doch nicht willkürlich, sondern nach der Notwendigkeit unserer charakterologischen Veranlagung, also nichts weniger als frei». Hier ist nicht mehr die Rede von der Naturnotwendigkeit, aber der Mensch folgt nun, ohne es zu wissen, notwendig seiner Charakteranlage. Aber auch hier besteht nach Steiner ein wesentlicher Unterschied, "zwischen Beweggründen, die ich erst auf mich wirken lasse, nachdem ich sie mit meinem Bewußtsein durchdrungen habe, und solchen, denen ich folge, ohne daß ich ein klares Wissen von ihnen besitze." Es ist also zunächst die Frage zu beantworten: "Was heißt es, ein Wissen von den Gründen seines Handelns haben?"

Eine weitere Ansicht hat der Dichterphilosoph Robert Hamerling in seiner «Atomistik des Willens» geäußert: «Der Mensch kann allerdings tun, was er will - aber er kann nicht wollen, was er will, weil sein Wille durch Motive bestimmt ist! [...] Ohne ein bestimmendes Motiv ist der Wille ein leeres Vermögen: erst durch das Motiv wird er tätig und reell. Es ist also ganz richtig, daß der menschliche Wille insofern nicht <frei> ist, als seine Richtung immer durch das stärkste der Motive bestimmt ist. Aber es muß andererseits zugegeben werden, daß es absurd ist, dieser <Unfreiheit> gegenüber von einer denkbaren <Freiheit> des Willens zu reden, welche dahin ginge, wollen zu können, was man nicht will.» Aber auch Hamerling unterscheidet nicht zwischen bewussten und unbewussten Motiven.

"Daß eine Handlung nicht frei sein kann, von der der Täter nicht weiß, warum er sie vollbringt, ist ganz selbstverständlich. Wie verhält es sich aber mit einer solchen, von deren Gründen gewußt wird? Das führt uns auf die Frage: welches ist der Ursprung und die Bedeutung des Denkens? Denn ohne die Erkenntnis der denkenden Betätigung der Seele ist ein Begriff des Wissens von etwas, also auch von einer Handlung nicht möglich." Die Frage nach dem Wesen des menschlichen Handelns, setzt damit die nach dem Ursprung des Denkens voraus.

II. Der Grundtrieb zur Wissenschaft

"Nirgends sind wir mit dem zufrieden, was die Natur vor unseren Sinnen ausbreitet. Wir suchen überall nach dem, was wir Erklärung der Tatsachen nennen. Der Überschuß dessen, was wir in den Dingen suchen, über das, was uns in ihnen unmittelbar gegeben ist, spaltet unser ganzes Wesen in zwei Teile; wir werden uns unseres Gegensatzes zur Welt bewußt. Wir stellen uns als ein selbständiges Wesen der Welt gegenüber. Das Universum erscheint uns in den zwei Gegensätzen: Ich und Welt.

Diese Scheidewand zwischen uns und der Welt errichten wir, sobald das Bewußtsein in uns aufleuchtet. Aber niemals verlieren wir das Gefühl, daß wir doch zur Welt gehören, daß ein Band besteht, das uns mit ihr verbindet, daß wir nicht ein Wesen außerhalb, sondern innerhalb des Universums sind.

Dieses Gefühl erzeugt das Streben, den Gegensatz zu überbrücken. Und in der Überbrückung dieses Gegensatzes besteht im letzten Grunde das ganze geistige Streben der Menschheit." (S 28)

Der durch unser Selbstbewusstsein bedingte Dualismus tritt in verschiedenste Formen auf, wie z.B. GeistMaterie, SubjektObjekt, DenkenErscheinung, und konnte auch durch den Monismus des 19. Jahrhunderts nicht überwunden werden, sondern führte nur zur Unterdrückung des einen oder des anderen Pols und wurde so zum einseitigen Materialismus oder zum nicht weniger einseitigen Spiritualismus oder leugnete die Spaltung, ohne die das Selbstbewusstsein aber nicht bestehen könnte, ganz.

"Der Materialismus kann niemals eine befriedigende Welterklärung liefern. Denn jeder Versuch einer Erklärung muß damit beginnen, daß man sich Gedanken über die Welterscheinungen bildet. Der Materialismus macht deshalb den Anfang mit dem Gedanken derMaterie oder der materiellen Vorgänge. Damit hat er bereits zwei verschiedene Tatsachengebiete vor sich: die materielle Welt und die Gedanken über sie. Er sucht die letzteren dadurch zu begreifen, daß er sie als einen rein materiellen Prozeß auffaßt. Er glaubt, daß das Denken im Gehirne etwa so zustande komme, wie die Verdauung in den animalischen Organen. So wie er der Materie mechanische und organische Wirkungen zuschreibt, so legt er ihr auch die Fähigkeit bei, unter bestimmten Bedingungen zu denken. Er vergißt, daß er nun das Problem nur an einen andern Ort verlegt hat. Statt sich selbst, schreibt er die Fähigkeit des Denkens der Materie zu. Und damit ist er wieder an seinem Ausgangspunkte." (S 30f)

"Der reine Spiritualist leugnet die Materie in ihrem selbständigen Dasein und faßt sie nur als Produkt des Geistes auf .Wendet er diese Weltanschauung auf die Enträtselung der eigenen menschlichen Wesenheit an, so wird er in die Enge getrieben. Dem Ich, das auf die Seite des Geistes gestellt werden kann, steht unvermittelt gegenüber die sinnliche Welt. Zu dieser scheint ein geistiger Zugang sich nicht zu eröffnen, sie muß durch materielle Prozesse von dem Ich wahrgenommen und erlebt werden. Solche materielle Prozesse findet das «Ich» in sich nicht, wenn es sich nur als geistige Wesenheit gelten lassen will. Was es geistig sich erarbeitet, in dem ist nie die Sinneswelt drinnen. Es scheint das «Ich» zugeben zu müssen, daß ihm die Welt verschlossen bliebe, wenn es nicht sich auf ungeistige Art zu ihr in ein Verhältnis setzte. Ebenso müssen wir, wenn wir ans Handeln gehen, unsere Absichten mit Hilfe der materiellen Stoffe und Kräfte in Wirklichkeit um- setzen. Wir sind also auf die Außenwelt angewiesen. Der extremste Spiritualist, oder wenn man will, der durch den absoluten Idealismus sich als extremer Spiritualist darstellende Denker ist Johann Gottlieb Fichte. Er versuchte das ganze Weltgebäude aus dem «Ich» abzuleiten. Was ihm dabei wirklich gelungen ist, ist ein großartiges Gedankenbild der Welt, ohne allen Erfahrungsinhalt." (S 31f)

"Die dritte Form des Monismus ist die, welche in dem einfachsten Wesen (Atom) bereits die beiden Wesenheiten, Materie und Geist, vereinigt sieht. Damit ist aber auch nichts erreicht, als daß die Frage, die eigentlich in unserem Bewußtsein entsteht, auf einen anderen Schauplatz versetzt wird. Wie kommt das einfache Wesen dazu, sich in einer zweifachen Weise zu äußern, wenn es eine ungetrennte Einheit ist?" (S 33)

"Allen diesen Standpunkten gegenüber muß geltend gemacht werden, daß uns der Grund- und Urgegensatz zuerst in unserem eigenen Bewußtsein entgegentritt. Wir sind es selbst, die wir uns von dem Mutterboden der Natur loslösen, und uns als «Ich» der «Welt» gegenüberstellen." (S 33)

So haben wir uns einerseits der Natur entfremdet, fühlen aber doch, dass wir in ihr sind und zu ihr gehören.

"Wir müssen den Weg zu ihr zurück wieder finden. Eine einfache Überlegung kann uns diesen Weg weisen. Wir haben uns zwar losgerissen von der Natur; aber wir müssen doch etwas mit herübergenommen haben in unser eigenes Wesen. Dieses Naturwesen in uns müssen wir aufsuchen, dann werden wir den Zusammenhang auch wieder finden. Das versäumt der Dualismus. Er hält das menschliche Innere für ein der Natur ganz fremdes Geistwesen und sucht dieses an die Natur anzukoppeln. Kein Wunder, daß er das Bindeglied nicht finden kann. Wir können die Natur außer uns nur finden, wenn wir sie in uns erst kennen." (S 34)

III. Das Denken im Dienste der Weltauffassung

"Wenn ich beobachte, wie eine Billardkugel, die gestoßen wird, ihre Bewegung auf eine andere überträgt, so bleibe ich auf den Verlauf dieses beobachteten Vorganges ganz ohne Einfluß. Die Bewegungsrichtung und Schnelligkeit der zweiten Kugel ist durch die Richtung und Schnelligkeit der ersten bestimmt. Solange ich mich bloß als Beobachter verhalte, weiß ich über die Bewegung der zweiten Kugel erst dann etwas zu sagen, wenn dieselbe eingetreten ist. Anders ist die Sache, wenn ich über den Inhalt meiner Beobachtung nachzudenken beginne. Mein Nachdenken hat den Zweck, von dem Vorgange Begriffe zu bilden... So gewiß es nun ist, daß sich der Vorgang unabhängig von mir vollzieht, so gewiß ist es, daß sich der begriffliche Prozeß ohne mein Zutun nicht abspielen kann." (S 36)

"Ob dies Tun in Wahrheit unser Tun ist, oder ob wir es einer unabänderlichen Notwendigkeit gemäß vollziehen, lassen wir vorläufig dahingestellt. Daß es uns zunächst als das unsrige erscheint, ist ohne Frage." (S 37)

"Die Frage ist nun: was gewinnen wir dadurch, daß wir zu einem Vorgange ein begriffliches Gegenstück hinzufinden?

Es ist ein tiefgreifender Unterschied zwischen der Art, wie sich für mich die Teile eines Vorganges zueinander verhalten vor und nach der Auffindung der entsprechenden Begriffe. Die bloße Beobachtung kann die Teile eines gegebenen Vorganges in ihrem Verlaufe verfolgen; ihr Zusammenhang bleibt aber vor der Zuhilfenahme von Begriffen dunkel... Dieser Zusammenhang wird erst ersichtlich, wenn sich die Beobachtung mit dem Denken verbindet." (S 37f)

"Beobachtung und Denken sind die beiden Ausgangspunkte für alles geistige Streben des Menschen, insoferne er sich eines solchen bewußt ist." (S 38)

"Was für ein Prinzip wir auch aufstellen mögen: wir müssen es irgendwo als von uns beobachtet nachweisen, oder in Form eines klaren Gedankens, der von jedem anderen nachgedacht werden kann, aussprechen." (S 38)

"Ob das Denken oder irgend etwas anderes Hauptelement der Weltentwickelung ist, darüber werde hier noch nichts ausgemacht. Daß aber der Philosoph ohne das Denken kein Wissen darüber gewinnen kann, das ist von vornherein klar." (S 39)

"Was nun die Beobachtung betrifft, so liegt es in unserer Organisation, daß wir derselben bedürfen. Unser Denken über ein Pferd und der Gegenstand Pferd sind zwei Dinge, die für uns getrennt auftreten. Und dieser Gegenstand ist uns nur durch Beobachtung zugänglich. So wenig wir durch das bloße Anstarren eines Pferdes uns einen Begriff von demselben machen können, ebensowenig sind wir imstande, durch bloßes Denken einen entsprechenden Gegenstand hervorzubringen.

Zeitlich geht die Beobachtung sogar dem Denken voraus... Alles was in den Kreis unserer Erlebnisse eintritt, werden wir durch die Beobachtung erst gewahr. Der Inhalt von Empfindungen, Wahrnehmungen, Anschauungen, die Gefühle, Willensakte, Traum- und Phantasiegebilde, Vorstellungen, Begriffe und Ideen, sämtliche Illusionen und Halluzinationen werden uns durch die Beobachtung gegeben." (S 39)

"Nur unterscheidet sich das Denken als Beobachtungsobjekt doch wesentlich von allen andern Dingen. Die Beobachtung eines Tisches, eines Baumes tritt bei mir ein, sobald diese Gegenstände auf dem Horizonte meiner Erlebnisse auftauchen. Das Denken aber über diese Gegenstände beobachte ich nicht gleichzeitig. Den Tisch beobachte ich, das Denken über den Tisch führe ich aus, aber ich beobachte es nicht in demselben Augenblicke. Ich muß mich erst auf einen Standpunkt außerhalb meiner eigenen Tätigkeit versetzen, wenn ich neben dem Tische auch mein Denken über den Tisch beobachten will." (S 40)

"Das ist die eigentümliche Natur des Denkens, daß der Denkende das Denken vergißt, während er es ausübt. Nicht das Denken beschäftigt ihn, sondern der Gegenstand des Denkens, den er beobachtet. Die erste Beobachtung, die wir über das Denken machen, ist also die, daß es das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens ist.

Der Grund, warum wir das Denken im alltäglichen Geistesleben nicht beobachten, ist kein anderer als der, daß es auf unserer eigenen Tätigkeit beruht. Was ich nicht selbst hervorbringe, tritt als ein Gegenständliches in mein Beobachtungsfeld ein. Ich sehe mich ihm als einem ohne mich zustande Gekommenen gegenüber; es tritt an mich heran; ich muß es als die Voraussetzung meines Denkprozesses hinnehmen. Während ich über den Gegenstand nachdenke, bin ich mit diesem beschäftigt, mein Bück ist ihm zugewandt. Diese Beschäftigung ist eben die denkende Betrachtung. Nicht auf meine Tätigkeit, sondern auf das Objekt dieser Tätigkeit ist meine Aufmerksamkeit gerichtet. Mit anderen Worten: wahrend ich denke, sehe ich nicht auf mein Denken, das ich selbst hervorbringe, sondern auf das Objekt des Denkens, das ich nicht hervorbringe.

Ich bin sogar in demselben Fall, wenn ich den Ausnahmezustand eintreten lasse, und über mein Denken selbst nachdenke. Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen. Ich müßte mich in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht, wenn ich mein gegenwärtiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht. Ich kann das nur in zwei getrennten Akten ausführen. Das Denken, das beobachtet werden soll, ist nie das dabei in Tätigkeit befindliche, sondern ein anderes." (S 42f)

"Der Grund, der es uns unmöglich macht, das Denken in seinem jeweilig gegenwärtigen Verlauf zu beobachten, ist der gleiche wie der, der es uns unmittelbarer und intimer erkennen läßt als jeden andern Prozeß der Welt. Eben weil wir es selbst hervorbringen, kennen wir das Charakteristische seines Verlaufs, die Art, wie sich das dabei in Betracht kommende Geschehen vollzieht. Was in den übrigen Beobachtungssphären nur auf mittelbare Weise gefunden werden kann: der sachlich-entsprechende Zusammenhang und das Verhältnis der einzelnen Gegenstände, das wissen wir beim Denken auf ganz unmittelbare Weise. Warum für meine Beobachtung der Donner auf den Blitz folgt, weiß ich nicht ohne weiteres; warum mein Denken den Begriff Donner mit dem des Blitzes verbindet, weiß ich unmittelbar aus den Inhalten der beiden Begriffe. Es kommt natürlich, gar nicht darauf an, ob ich die richtigen Begriffe von Blitz und Donner habe. Der Zusammenhang derer, die ich habe, ist mir klar, und zwar durch sie selbst.

Diese durchsichtige Klarheit in bezug auf den Denkprozeß ist ganz unabhängig von unserer Kenntnis der physiologischen Grundlagen des Denkens. Ich spreche hier von dem Denken, insoferne es sich aus der Beobachtung unserer geistigen Tätigkeit ergibt. Wie ein materieller Vorgang meines Gehirns einen andern veranlaßt oder beeinflußt, während ich eine Gedankenoperation ausführe, kommt dabei gar nicht in Betracht. Was ich am Denken beobachte, ist nicht: welcher Vorgang in meinem Gehirne den Begriff des Blitzes mit dem des Donners verbindet, sondern, was mich veranlaßt, die beiden Begriffe in ein bestimmtes Verhältnis zu bringen." (S 44f)

"Für jeden aber, der die Fähigkeit hat, das Denken zu beobachten - und bei gutem Willen hat sie jeder normal organisierte Mensch —, ist diese Beobachtung die allerwichtigste, die er machen kann. Denn er beobachtet etwas, dessen Hervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächst fremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeit gegenüber." (S 46)

"Wenn man das Denken zum Objekt der Beobachtung macht, fügt man zu dem übrigen beobachteten Weltinhalte etwas dazu, was sonst der Aufmerksamkeit entgeht; man ändert aber nicht die Art, wie sich der Mensch auch den andern Dingen gegenüber verhält. Man vermehrt die Zahl der Beobachtungsobjekte, aber nicht die Methode des Beobachtens. Während wir die andern Dinge beobachten, mischt sich in das Weltgeschehen - zu dem ich jetzt das Beobachten mitzähle - ein Prozeß, der übersehen wird. Es ist etwas von allem andern Geschehen verschiedenes vorhanden, das nicht mitberücksichtigt wird. Wenn ich aber mein Denken betrachte, so ist kein solches unberücksichtigtes Element vorhanden. Denn was jetzt im Hintergrunde schwebt, ist selbst wieder nur das Denken. Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ derselbe wie die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet. Und das ist wieder eine charakteristische Eigentümlichkeit des Denkens. Wenn wir es zum Betrachtungsobjekt machen, sehen wir uns nicht gezwungen, dies mit Hilfe eines Qualitativ-Verschiedenen zu tun, sondern wir können in demselben Element verbleiben." (S 47f)

"Es ist also zweifellos: in dem Denken halten wir das Weltgeschehen an einem Zipfel, wo wir dabei sein müssen, wenn etwas Zustandekommen soll. Und das ist doch gerade das, worauf es ankommt. Das ist gerade der Grund, warum mir die Dinge so rätselhaft gegenüberstehen: daß ich an ihrem Zustandekommen so unbeteiligt bin. Ich finde sie einfach vor; beim Denken aber weiß ich, wie es gemacht wird. Daher gibt es keinen ursprünglicheren Ausgangspunkt für das Betrachten alles Weltgeschehens als das Denken." (S 49f)

"Die meisten Philosophen der Gegenwart werden mir einwenden: bevor es ein Denken gibt, muß es ein Bewußtsein geben. Deshalb sei vom Bewußtsein und nicht vom Denken auszugehen. Es gebe kein Denken ohne Bewußtsein. Ich muß dem gegenüber erwidern: Wenn ich darüber Aufklärung haben will, welches Verhältnis zwischen Denken und Bewußtsein besteht, so muß ich darüber nachdenken. Ich setze das Denken damit voraus." (S 51f)

"Ehe anderes begriffen werden kann, muß es das Denken werden." (S 53)

IV. Die Welt als Wahrnehmung

"Durch das Denken entstehen Begriffe und Ideen. Was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, daß er Begriffe habe... Die Begriffe stehen aber durchaus nicht vereinzelt da. Sie schließen sich zu einem gesetzmäßigen Ganzen zusammen... Auf diese Weise verbinden sich die einzelnen Begriffe zu einem geschlossenen Begriffssystem, in dem jeder seine besondere Stelle hat. Ideen sind qualitativ von Begriffen nicht verschieden. Sie sind nur inhaltsvollere, gesättigtere und umfangreichere Begriffe. Ich muß einen besonderen Wert darauf legen, daß hier an dieser Stelle beachtet werde, daß ich als meinen Ausgangspunkt das Denken bezeichnet habe und nicht Begriffe und Ideen, die erst durch das Denken gewonnen werden. Diese setzen das Denken bereits voraus." (S 57)

"Der Begriff kann nicht aus der Beobachtung gewonnen werden. Das geht schon aus dem Umstände hervor, daß der heranwachsende Mensch sich langsam und allmählich erst die Begriffe zu den Gegenständen bildet, die ihn umgeben. Die Begriffe werden zu der Beobachtung hinzugefügt." (S 58)

"Wenn man von einer «streng objektiven Wissenschaft» fordert, daß sie ihren Inhalt nur der Beobachtung entnehme, so muß man zugleich fordern, daß sie auf alles Denken verzichte. Denn dieses geht seiner Natur nach über das Beobachtete hinaus." (S 59)

"Das menschliche Bewußtsein ist der Schauplatz, wo Begriff und Beobachtung einander begegnen und wo sie miteinander verknüpft werden. Dadurch ist aber dieses (menschliche) Bewußtsein zugleich charakterisiert. Es ist der Vermittler zwischen Denken und Beobachtung. Insoferne der Mensch einen Gegenstand beobachtet, erscheint ihm dieser als gegeben, insoferne er denkt, erscheint er sich selbst als tätig. Er betrachtet den Gegenstand als Objekt, sich selbst als das denkende Subjekt. Weil er sein Denken auf die Beobachtung richtet, hat er Bewußtsein von den Objekten; weil er sein Denken auf sich richtet, hat er Bewußtsein seiner selbst oder Selbstbewußtsein. Das menschliche Bewußtsein muß notwendig zugleich Selbstbewußtsein sein, weil es denkendes Bewußtsein ist." (S 59f)

"Nun darf aber nicht übersehen werden, daß wir uns nur mit Hilfe des Denkens als Subjekt bestimmen und uns den Objekten entgegensetzen können. Deshalb darf das Denken niemals als eine bloß subjektive Tätigkeit aufgefaßt werden. Das Denken ist jenseits von Subjekt und Objekt. Es bildet diese beiden Begriffe ebenso wie alle anderen." (S 60)

"Das nächste wird nun sein, uns zu fragen: Wie kommt das andere Element, das wir bisher bloß als Beobachtungsobjekt bezeichnet haben, und das sich mit dem Denken im Bewußtsein begegnet, in das letztere?" (S 61)

"Wir müssen uns vorstellen, daß ein Wesen mit vollkommen entwickelter menschlicher Intelligenz aus dem Nichts entstehe und der Welt gegenübertrete. Was es da gewahr würde, bevor es das Denken in Tätigkeit bringt, das ist der reine Beobachtungsinhalt. Die Welt zeigte dann diesem Wesen nur das bloße zusammenhanglose Aggregat von Empfindungsobjekten: Farben, Töne, Druck-, Wärme-, Geschmacks- und Geruchsempfindungen; dann Lust- und Unlustgefühle. Dieses Aggregat ist der Inhalt der reinen, gedankenlosen Beobachtung." (S 61)

"Ich werde die unmittelbaren Empfindungsobjekte, die ich oben genannt habe, insoferne das bewußte Subjekt von ihnen durch Beobachtung Kenntnis nimmt, Wahrnehmungen nennen. Also nicht den Vorgang der Beobachtung, sondern das Objekt dieser Beobachtung bezeichne ich mit diesem Namen.

Ich wähle den Ausdruck Empfindung nicht, weil dieser in der Physiologie eine bestimmte Bedeutung hat, die enger ist als die meines Begriffes von Wahrnehmung. Ein Gefühl in mir selbst kann ich wohl als Wahrnehmung, nicht aber als Empfindung im physiologischen Sinne bezeichnen." (S 62)

Das Wahrnehmungsbild, das wir durch Beobachtung gewinnen, ist von unserem Standort und von unserer leiblichen Organisation abhängig.

"Es ist für eine Allee ganz gleichgültig, wo ich stehe. Das Bild aber, das ich von ihr erhalte, ist wesentlich davon abhängig. Ebenso ist es für die Sonne und das Planetensystem gleichgültig, daß die Menschen sie gerade von der Erde aus ansehen. Das Wahrnehmungsbild aber, das sich diesen darbietet, ist durch diesen ihren Wohnsitz bestimmt." (S 64)

"Der Physiker zeigt uns, daß innerhalb des Raumes, in dem wir einen Schall hören, Schwingungen der Luft stattfinden, und daß auch der Körper, in dem wir den Ursprung des Schalles suchen, eine schwingende Bewegung seiner Teile aufweist. Wir nehmen diese Bewegung nur als Schall wahr, wenn wir ein normal organisiertes Ohr haben. Ohne ein solches bliebe uns die ganze Welt ewig stumm. Die Physiologie belehrt uns darüber, daß es Menschen gibt, die nichts wahrnehmen von der herrlichen Farbenpracht, die uns umgibt. Ihr Wahrnehmungsbild weist nur Nuancen von Hell und Dunkel auf. Andere nehmen nur eine bestimmte Farbe, zum Beispiel das Rot, nicht wahr. Ihrem Weltbilde fehlt dieser Farbenton, und es ist daher tatsächlich ein anderes als das eines Durchschnittsmenschen." (S 64)

"Meine Wahrnehmungsbilder sind also zunächst subjektiv." George Berkeley hat daraus geschlossen, dass es überhaupt keine objektive Aussenwelt gibt, dass sich alles Sein im (subjektiven) Wahrnehmen erschöpft. Er sagt: «Einige Wahrheiten liegen so nahe und sind so einleuchtend, daß man nur die Augen zu öffnen braucht, um sie zu sehen. Für eine solche halte ich den wichtigen Satz, daß der ganze Chor am Himmel und alles, was zur Erde gehört, mit einem Worte alle die Körper, die den gewaltigen Bau der Welt zusammensetzen, keine Subsistenz außerhalb des Geistes haben, daß ihr Sein in ihrem Wahrgenommen- oder Erkanntwerden besteht, daß sie folglich, solange sie nicht wirklich von mir wahrgenommen werden oder in meinem Bewußtsein oder dem eines anderen geschaffenen Geistes existieren, entweder überhaupt keine Existenz haben oder in dem Bewußtsein eines ewigen Geistes existieren.»" (S 64f)

Zu untersuchen ist also, welches die Funktion unseres Wahrnehmens beim Zustandekommen einer Wahrnehmung ist.

"Damit wird unsere Betrachtung von dem Objekt der Wahrnehmung auf das Subjekt derselben abgeleitet. Ich nehme nicht nur andere Dinge wahr, sondern ich nehme mich selbst wahr. Die Wahrnehmung meiner selbst hat zunächst den Inhalt, daß ich das Bleibende bin gegenüber den immer kommenden und gehenden Wahrnehmungsbildern. Die Wahrnehmung des Ich kann in meinem Bewußtsein stets auftreten, während ich andere Wahrnehmungen habe." (S 67)

"Ich sehe nicht bloß einen Baum, sondern ich weiß auch, daß ich es bin, der ihn sieht. Ich erkenne auch, daß in mir etwas vorgeht, während ich den Baum beobachte. Wenn der Baum aus meinem Gesichtskreise verschwindet, bleibt für mein Bewußtsein ein Rückstand von diesem Vorgange: ein Bild des Baumes. Dieses Bild hat sich während meiner Beobachtung mit meinem Selbst verbunden. Mein Selbst hat sich bereichert; sein Inhalt hat ein neues Element in sich aufgenommen. Dieses Element nenne ich meine Vorstellung von dem Baume." (S 67f)

"Die Vorstellung nehme ich an meinem Selbst wahr, in dem Sinne, wie Farbe, Ton usw. an andern Gegenständen. Ich kann jetzt auch den Unterschied machen, daß ich diese andern Gegenstände, die sich mir gegenüberstellen, Außenwelt nenne, wahrend ich den Inhalt meiner Selbstwahrnehmung als Innenwelt bezeichne. Die Verkennung des Verhältnisses von Vorstellung und Gegenstand hat die größten Mißverständnisse in der neueren Philosophie herbeigeführt." (S 68)

"Der naive Mensch glaubt, daß die Gegenstände, so wie er sie wahrnimmt, auch außerhalb seines Bewußtseins vorhanden sind. Die Physik, Physiologie und Psychologie scheinen aber zu lehren, daß zu unseren Wahrnehmungen unsere Organisation notwendig ist, daß wir folglich von nichts wissen können, als von dem, was unsere Organisation uns von den Dingen überliefert. Unsere Wahrnehmungen sind somit Modifikationen unserer Organisation, nicht Dinge an sich." (S 70)

Auf dem Weg von den Sinnesorganen zum Gehirn wird der Reiz mannigfaltig verändert. Aber auch die Gehirnvorgänge nehmen wir nicht als solche war, sondern wir erleben Sinnesempfindungen (Qualia), die nicht die geringste Ähnlichkeit mit diesen haben und daraus nicht ableitbar sind. Sie werden zuletzt nach außen an den Körper verlegt, womit ein vollständiger Kreis durchlaufen ist. Kant, als Begründer des kritischen Idealismus, hatte daraus geschlossen, das uns das Ding an sich grundsätzlich unzugänglich ist und Eduard von Hartmann meinte: «Was das Subjekt wahrnimmt, sind also immer nur Modifikationen seiner eigenen psychischen Zustände und nichts anderes.» (S 73) Bei genauer Prüfung fällt dieses Gedankengebäude aber in nichts zusammen, denn "Konsequenterweise sind dann aber auch meine Sinnesorgane und die Vorgänge in ihnen bloß subjektiv. Ich habe kein Recht, von einem wirklichen Auge zu sprechen, sondern nur von meiner Vorstellung des Auges. Ebenso ist es mit der Nervenleitung und dem Gehirnprozeß und nicht weniger mit dem Vorgange in der Seele selbst, durch den aus dem Chaos der mannigfaltigen Empfindungen Dinge aufgebaut werden sollen. Durchlaufe ich unter Voraussetzung der Richtigkeit des ersten Gedankenkreisganges die Glieder meines Erkenntnisaktes nochmals, so zeigt sich der letztere als ein Gespinst von Vorstellungen, die doch als solche nicht aufeinander wirken können. Ich kann nicht sagen: meine Vorstellung des Gegenstandes wirkt auf meine Vorstellung des Auges, und aus dieser Wechselwirkung geht die Vorstellung der Farbe hervor." (S 75f)

"Außerdem enthält die ganze Schlußfolgerung einen Sprung. Ich bin in der Lage, die Vorgänge in meinem Organismus bis zu den Prozessen in meinem Gehirne zu verfolgen, wenn auch meine Annahmen immer hypothetischer werden, je mehr ich mich den zentralen Vorgängen des Gehirnes nähere. Der Weg der äußeren Beobachtung hört mit dem Vorgange in meinem Gehirne auf, und zwar mit jenem, den ich wahrnehmen würde, wenn ich mit physikalischen, chemischen usw. Hilfsmitteln und Methoden das Gehirn behandeln könnte. Der Weg der inneren Beobachtung fängt mit der Empfindung an und reicht bis zum Aufbau der Dinge aus dem Empfindungsmaterial. Beim Übergang von dem Hirnprozeß zur Empfindung ist der Beobachtungsweg unterbrochen." (S 76f)

"Noch weniger aber darf der Satz: «Die wahrgenommene Welt ist meine Vorstellung» als durch sich selbst einleuchtend und keines Beweises bedürftig hingestellt werden" (S 78), wie es etwa Arthur Schopenhauer in seinem Werk «Die Welt als Wille und Vorstellung» getan hatte.

V. Das Erkennen der Welt

"Wenn der Philosoph als kritischer Idealist überhaupt ein Sein gelten läßt, dann geht sein Erkenntnisstreben mit mittelbarer Benutzung der Vorstellungen allein auf dieses Sein. Sein Interesse überspringt die subjektive Welt der Vorstellungen und geht auf das Erzeugende dieser Vorstellungen los.

Der kritische Idealist kann aber so weit gehen, daß er sagt: ich bin in meine Vorstellungswelt eingeschlossen und kann aus ihr nicht hinaus. Wenn ich ein Ding hinter meinen Vorstellungen denke, so ist dieser Gedanke doch auch weiter nichts als meine Vorstellung. Ein solcher Idealist wird dann das Ding an sich entweder ganz leugnen oder wenigstens davon erklären, daß es für uns Menschen gar keine Bedeutung habe, das ist, so gut wie nicht da sei, weil wir nichts von ihm wissen können.

Einem kritischen Idealisten dieser Art erscheint die ganze Welt als ein Traum, dem gegenüber jeder Erkenntnisdrang einfach sinnlos wäre...

Der kritische Idealist kommt dann zu der Behauptung: «Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einen Traum, der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt» (vergleiche Fichte, Die Bestimmung des Menschen)...

Während aber für denjenigen, der mit dem Traume das uns zugängliche All erschöpft glaubt, alle Wissenschaft ein Unding ist, wird für den andern, der sich befugt glaubt, von den Vorstellungen auf die Dinge zu schließen, die Wissenschaft in der Erforschung dieser «Dinge an sich» bestehen. Die erstere Weltansicht kann mit dem Namen absoluter Illusionismus bezeichnet werden, die zweite nennt ihr konsequentester Vertreter, Eduard von Hartmann, transzendentalen Realismus[1].

Diese beiden Ansichten haben mit dem naiven Realismus das gemein, daß sie Fuß in der Welt zu fassen suchen durch eine Untersuchung der Wahrnehmungen. Sie können aber innerhalb dieses Gebietes nirgends einen festen Punkt finden.

Eine Hauptfrage für den Bekenner des transzendentalen Realismus müßte sein: wie bringt das Ich aus sich selbst die Vorstellungswelt zustande? Für eine uns gegebene Welt von Vorstellungen, die verschwindet, sobald wir unsere Sinne der Außenwelt verschließen, kann ein ernstes Erkenntnisstreben sich insofern erwärmen, als sie das Mittel ist, die Welt des an sich seienden Ich mittelbar zu erforschen. Wenn die Dinge unserer Erfahrung Vorstellungen wären, dann gliche unser alltägliches Leben einem Traume und die Erkenntnis des wahren Tatbestandes dem Erwachen. Auch unsere Traumbilder interessieren uns so lange, als wir träumen, folglich die Traumnatur nicht durchschauen [...]

In ähnlicher Weise muß der Philosoph, sobald er von dem Vorstellungscharakter der gegebenen Welt überzeugt ist, von dieser sofort auf die dahinter steckende wirkliche Seele überspringen. Schlimmer steht die Sache allerdings, wenn der Illusionismus das Ich an sich hinter den Vorstellungen ganz leugnet, oder es wenigstens für unerkennbar hält. Zu einer solchen Ansicht kann sehr leicht die Beobachtung führen, daß es dem Träumen gegenüber zwar den Zustand des Wachens gibt, in dem wir Gelegenheit haben, die Träume zu durchschauen und auf reale Verhältnisse zu beziehen, daß wir aber keinen zu dem wachen Bewußtseinsleben in einem ähnlichen Verhältnisse stehenden Zustand haben. Wer zu dieser Ansicht sich bekennt, dem geht die Einsicht ab, daß es etwas gibt, das sich in der Tat zum bloßen Wahrnehmen verhält wie das Erfahren im wachen Zustande zum Träumen. Dieses Etwas ist das Denken [...]

Den Grund, warum das Denken bei der Betrachtung der Dinge zumeist übersehen wird, haben wir bereits angegeben (vergleiche Seite 42 f.). Er liegt in dem Umstände, daß wir nur auf den Gegenstand, über den wir denken, nicht aber zugleich auf das Denken unsere Aufmerksamkeit richten. Das naive Bewußtsein behandelt daher das Denken wie etwas, das mit den Dingen nichts zu tun hat, sondern ganz abseits von denselben steht und seine Betrachtungen über die Welt anstellt. Das Bild, das der Denker von den Erscheinungen der Welt entwirft, gilt nicht als etwas, was zu den Dingen gehört, sondern als ein nur im Kopfe des Menschen existierendes; die Welt ist auch fertig ohne dieses Bild. Die Welt ist fix und fertig in allen ihren Substanzen und Kräften; und von dieser fertigen Welt entwirft der Mensch ein Bild. Die so denken, muß man nur fragen: mit welchem Rechte erklärt ihr die Welt für fertig, ohne das Denken? Bringt nicht mit der gleichen Notwendigkeit die Welt das Denken im Kopfe des Menschen hervor, wie die Blüte an der Pflanze? [...]

Es ist ganz willkürlich, die Summe dessen, was wir von einem Dinge durch die bloße Wahrnehmung erfahren, für eine Totalität, für ein Ganzes zu halten, und dasjenige, was sich durch die denkende Betrachtung ergibt, als ein solches Hinzugekommenes, das mit der Sache selbst nichts zu tun habe [...]

Ebensowenig ist es statthaft, die Summe der Wahrnehmungsmerkmale für die Sache zu erklären...

Daß sich der Stein gerade in einer Parabel bewegt, das ist eine Folge der gegebenen Bedingungen und folgt mit Notwendigkeit aus diesen. Die Form der Parabel gehört zur ganzen Erscheinung, wie alles andere, was an derselben in Betracht kommt...

Nicht an den Gegenständen liegt es, daß sie uns zunächst ohne die entsprechenden Begriffe gegeben werden, sondern an unserer geistigen Organisation. Unsere totale Wesenheit funktioniert in der Weise, daß ihr bei jedem Dinge der Wirklichkeit von zwei Seiten her die Elemente zufließen, die für die Sache in Betracht kommen: von Seiten des Wahrnehmens und des Denkens...

Mein Selbstwahrnehmen schließt mich innerhalb bestimmter Grenzen ein; mein Denken hat nichts zu tun mit diesen Grenzen. In diesem Sinne bin ich ein Doppelwesen. Ich bin eingeschlossen in das Gebiet, das ich als das meiner Persönlichkeit wahrnehme, aber ich bin Träger einer Tätigkeit, die von einer höheren Sphäre aus mein begrenztes Dasein bestimmt. Unser Denken ist nicht individuell wie unser Empfinden und Fühlen. Es ist universell. Es erhält ein individuelles Gepräge in jedem einzelnen Menschen nur dadurch, daß es auf sein individuelles Fühlen und Empfinden bezogen ist. Durch diese besonderen Färbungen des universellen Denkens unterscheiden sich die einzelnen Menschen voneinander. Ein Dreieck hat nur einen einzigen Begriff. Für den Inhalt dieses Begriffes ist es gleichgültig, ob ihn der menschliche Bewußtseinsträger A oder B faßt. Er wird aber von jedem der zwei Bewußtseinsträger in individueller Weise erfaßt werden...

In dem Denken haben wir das Element gegeben, das unsere besondere Individualität mit dem Kosmos zu einem Ganzen zusammenschließt. Indem wir empfinden und fühlen (auch wahrnehmen), sind wir einzelne, indem wir denken, sind wir das all-eine Wesen, das alles durchdringt...

Dadurch, daß das Denken in uns übergreift über unser Sondersein und auf das allgemeine Weltensein sich bezieht, entsteht in uns der Trieb der Erkenntnis. Wesen ohne Denken haben diesen Trieb nicht... Bei denkenden Wesen stößt dem Außendinge gegenüber der Begriff auf. Er ist dasjenige, was wir von dem Dinge nicht von außen, sondern von innen empfangen. Den Ausgleich, die Vereinigung der beiden Elemente, des inneren und des äußeren, soll die Erkenntnis liefern. Die Wahrnehmung ist also nichts Fertiges, Abgeschlossenes, sondern die eine Seite der totalen Wirklichkeit. Die andere Seite ist der Begriff. Der Erkenntnisakt ist die Synthese von Wahrnehmung und Begriff. Wahrnehmung und Begriff eines Dinges machen aber erst das ganze Ding aus.

Am tiefsten eingewurzelt in das naive Menschheitsbewußtsein ist die Meinung: das Denken sei abstrakt, ohne allen konkreten Inhalt. Es könne höchstens ein «ideelles» Gegenbild der Welteinheit liefern, nicht etwa diese selbst. Wer so urteilt, hat sich niemals klar gemacht, was die Wahrnehmung ohne den Begriff ist. Sehen wir uns nur diese Welt der Wahrnehmung an: als ein bloßes Nebeneinander im Raum und Nacheinander in der Zeit, ein Aggregat zusammenhangloser Einzelheiten erscheint sie... Die einzelnen Tatsachen treten in ihrer Bedeutung in sich und für die übrigen Teile der Welt erst hervor, wenn das Denken seine Fäden zieht von Wesen zu Wesen. Diese Tätigkeit des Denkens ist eine inhaltvolle. Denn nur durch einen ganz bestimmten konkreten Inhalt kann ich wissen, warum die Schnecke auf einer niedrigeren Organisationsstufe steht als der Löwe. Der bloße Anblick, die Wahrnehmung gibt mir keinen Inhalt, der mich über die Vollkommenheit der Organisation belehren könnte [...]

Ein Ding erklären, verständlich machen heißt nichts anderes, als es in den Zusammenhang hinein versetzen, aus dem es durch die oben geschilderte Einrichtung unserer Organisation herausgerissen ist. Ein von dem Weltganzen abgetrenntes Ding gibt es nicht. Alle Sonderung hat bloß subjektive Geltung für unsere Organisation. Für uns legt sich das Weltganze auseinander in: oben und unten, vor und nach, Ursache und Wirkung, Gegenstand und Vorstellung, Stoff und Kraft, Objekt und Subjekt usw. Was uns in der Beobachtung an Einzelheiten gegenübertritt, das verbindet sich durch die zusammenhängende, einheitliche Welt unserer Intuitionen Glied für Glied; und wir fügen durch das Denken alles wieder in eins zusammen, was wir durch das Wahrnehmen getrennt haben [...]

Was ist also die Wahrnehmung? Diese Frage ist, im allgemeinen gestellt, absurd. Die Wahrnehmung tritt immer als eine ganz bestimmte, als konkreter Inhalt auf. Dieser Inhalt ist unmittelbar gegeben, und erschöpft sich in dem Gegebenen. Man kann in bezug auf dieses Gegebene nur fragen, was es außerhalb der Wahrnehmung, das ist: für das Denken ist. Die Frage nach dem «Was» einer Wahrnehmung kann also nur auf die begriffliche Intuition gehen, die ihr entspricht. Unter diesem Gesichtspunkte kann die Frage nach der Subjektivität der Wahrnehmung im Sinne des kritischen Idealismus gar nicht aufgeworfen werden. Als subjektiv darf nur bezeichnet werden, was als zum Subjekte gehörig wahrgenommen wird. Das Band zu bilden zwischen Subjektivem und Objektivem kommt keinem im naiven Sinn realen Prozeß, das heißt einem wahrnehmbaren Geschehen zu, sondern allein dem Denken. Es ist also für uns objektiv, was sich für die Wahrnehmung als außerhalb des Wahrnehmungssubjektes gelegen darstellt. Mein Wahrnehmungssubjekt bleibt für mich wahrnehmbar, wenn der Tisch, der soeben vor mir steht, aus dem Kreise meiner Beobachtung verschwunden sein wird. Die Beobachtung des Tisches hat eine, ebenfalls bleibende, Veränderung in mir hervorgerufen. Ich behalte die Fähigkeit zurück, ein Bild des Tisches später wieder zu erzeugen. Diese Fähigkeit der Hervorbringung eines Bildes bleibt mit mir verbunden. Die Psychologie bezeichnet dieses Bild als Erinnerungsvorstellung. Es ist aber dasjenige, was allein mit Recht Vorstellung des Tisches genannt werden kann... Die Vorstellung ist also eine subjektive Wahrnehmung im Gegensatz zur objektiven Wahrnehmung bei Anwesenheit des Gegenstandes im Wahrnehmungshorizonte. Das Zusammenwerfen jener subjektiven mit dieser objektiven Wahrnehmung führt zu dem Mißverständnisse des Idealismus: die Welt ist meine Vorstellung." (S 81ff)

VI. Die menschliche Individualität

"Die Vorstellung ist nichts anderes als eine auf eine bestimmte Wahrnehmung bezogene Intuition, ein Begriff, der einmal mit einer Wahrnehmung verknüpft war, und dem der Bezug auf diese Wahrnehmung geblieben ist. Mein Begriff eines Löwen ist nicht aus meinen Wahrnehmungen von Löwen gebildet. Wohl aber ist meine Vorstellung vom Löwen an der Wahrnehmung gebildet. Ich kann jemandem den Begriff eines Löwen beibringen, der nie einen Löwen gesehen hat. Eine lebendige Vorstellung ihm beizubringen, wird mir ohne sein eigenes Wahrnehmen nicht gelingen.

Die Vorstellung ist also ein individualisierter Begriff [...]

Die Vorstellung steht also zwischen Wahrnehmung und Begriff. Sie ist der bestimmte, auf die Wahrnehmung deutende Begriff.

Die Summe desjenigen, worüber ich Vorstellungen bilden kann, darf ich meine Erfahrung nennen. Derjenige Mensch wird die reichere Erfahrung haben, der eine größere Zahl individualisierter Begriffe hat. Ein Mensch, dem jedes Intuitionsvermögen fehlt, ist nicht geeignet, sich Erfahrung zu erwerben. Er verliert die Gegenstände wieder aus seinem Gesichtskreise, weil ihm die Begriffe fehlen, die er zu ihnen in Beziehung setzen soll. Ein Mensch mit gut entwickeltem Denkvermögen, aber mit einem infolge grober Sinneswerkzeuge schlecht funktionierenden Wahrnehmen, wird ebensowenig Erfahrung sammeln können. Er kann sich zwar auf irgendeine Weise Begriffe erwerben; aber seinen Intuitionen fehlt der lebendige Bezug auf bestimmte Dinge." (S 107f)

"Das Vorstellen gibt unserem Begriffsleben bereits ein individuelles Gepräge. Jedermann hat ja einen eigenen Standort, von dem aus er die Welt betrachtet. An seine Wahrnehmungen schließen sich seine Begriffe an. Er wird auf seine besondere Art die allgemeinen Begriffe denken." (S 110)

"Wenn sich unsere Persönlichkeit bloß als erkennend äußerte, so wäre die Summe alles Objektiven in Wahrnehmung, Begriff und Vorstellung gegeben.

Wir begnügen uns aber nicht damit, die Wahrnehmung mit Hilfe des Denkens auf den Begriff zu beziehen, sondern wir beziehen sie auch auf unsere besondere Subjektivität, auf unser individuelles Ich. Der Ausdruck dieses individuellen Bezuges ist das Gefühl, das sich als Lust oder Unlust auslebt.

Denken und Fühlen entsprechen der Doppelnatur unseres Wesens, der wir schon gedacht haben. Das Denken ist das Element, durch das wir das allgemeine Geschehen des Kosmos mitmachen; das Fühlen das, wodurch wir uns in die Enge des eigenen Wesens zurückziehen können. Unser Denken verbindet uns mit der Welt; unser Fühlen führt uns in uns selbst zurück, macht uns erst zum Individuum. Wären wir bloß denkende und wahrnehmende Wesen, so müßte unser ganzes Leben in unterschiedloser Gleichgültigkeit dahinfließen. Wenn wir uns bloß als Selbst erkennen könnten, so wären wir uns vollständig gleichgültig. Erst dadurch, daß wir mit der Selbsterkenntnis das Selbstgefühl, mit der Wahrnehmung der Dinge Lust und Schmerz empfinden, leben wir als individuelle Wesen, deren Dasein nicht mit dem Begriffsverhältnis erschöpft ist, in dem sie zu der übrigen Welt stehen, sondern die noch einen besonderen Wert für sich haben." (S 108f)

"Eine wahrhafte Individualität wird derjenige sein, der am weitesten hinaufreicht mit seinen Gefühlen in die Region des Ideellen. Es gibt Menschen, bei denen auch die allgemeinsten Ideen, die in ihrem Kopfe sich festsetzen, noch jene besondere Färbung tragen, die sie unverkennbar als mit ihrem Träger im Zusammenhange zeigt. Andere existieren, deren Begriffe so ohne jede Spur einer Eigentümlichkeit an uns herankommen, als wären sie gar nicht aus einem Menschen entsprungen, der Fleisch und Blut hat." (S 110)

"Ein völlig gedankenleeres Gefühlsleben müßte allmählich allen Zusammenhang mit der Welt verlieren. Die Erkenntnis der Dinge wird bei dem auf Totalität angelegten Menschen Hand in Hand gehen mit der Ausbildung und Entwicklung des Gefühlslebens.

Das Gefühl ist das Mittel, wodurch die Begriffe zunächst konkretes Leben gewinnen." (S 110f)

VII. Gibt es Grenzen des Erkennens?

"Unsere Organisation bedingt es, wie wir gesehen haben, daß uns die volle, totale Wirklichkeit, einschließlich unseres eigenen Subjektes, zunächst als Zweiheit erscheint. Das Erkennen überwindet diese Zweiheit, indem es aus den beiden Elementen der Wirklichkeit: der Wahrnehmung und dem durch das Denken erarbeiteten Begriff das ganze Ding zusammenfügt. Nennen wir die Weise, in der uns die Welt entgegentritt, bevor sie durch das Erkennen ihre rechte Gestalt gewonnen hat, die Welt der Erscheinung im Gegensatz zu der aus Wahrnehmung und Begriff einheitlich zusammengesetzten Wesenheit. Dann können wir sagen; Die Welt ist uns als Zweiheit (dualistisch) gegeben, und das Erkennen verarbeitet sie zur Einheit (monistisch). Eine Philosophie, welche von diesem Grundprinzip ausgeht, kann als monistische Philosophie oder Monismus bezeichnet werden." (S 112)

"Es folgt aus dem Begriffe des Erkennens, wie wir ihn bestimmt haben, daß von Erkenntnisgrenzen nicht gesprochen werden kann. Das Erkennen ist keine allgemeine Weltangelegenheit, sondern ein Geschäft, das der Mensch mit sich selbst abzumachen hat. Die Dinge verlangen keine Erklärung. Sie existieren und wirken aufeinander nach den Gesetzen, die durch das Denken auffindbar sind. Sie existieren in unzertrennlicher Einheit mit diesen Gesetzen. Da tritt ihnen unsere Ichheit gegenüber und erfaßt von ihnen zunächst nur das, was wir als Wahrnehmung bezeichnet haben. Aber in dem Innern dieser Ichheit findet sich die Kraft, um auch den andern Teil der Wirklichkeit zu finden. Erst wenn die Ichheit die beiden Elemente der Wirklichkeit, die in der Welt unzertrennlich verbunden sind, auch für sich vereinigt hat, dann ist die Erkenntnisbefriedigung eingetreten: das Ich ist wieder bei der Wirklichkeit angelangt." (S 115)

"Die Vorbedingungen zum Entstehen des Erkennens sind also durch und für das Ich... Stellen wir uns Fragen, die wir nicht beantworten können, so kann der Inhalt der Frage nicht in allen seinen Teilen klar und deutlich sein. Nicht die Welt stellt an uns die Fragen, sondern wir selbst stellen sie." (S 115f)

"Der Monismus kommt gar nicht in die Lage, außer Wahrnehmung und Begriff nach anderen Erklärungsprinzipien der Wirklichkeit zu fragen. Er weiß, daß sich im ganzen Bereiche der Wirklichkeit kein Anlaß dazu findet. Er sieht in der Wahrnehmungswelt, wie sie unmittelbar dem Wahrnehmen vorliegt, ein halbes Wirkliches; in der Vereinigung derselben mit der Begriffswelt findet er die volle Wirklichkeit." (S 124f)

Zusatz zur Neuauflage (1918)

Dem scheint entgegenzustehen, dass die Fähigkeiten unserer Sinne durchaus auf einen engen Weltbereich beschränkt sind. Von den weiteren Weltbereichen können wir aber durch geeignete Messinstrumente indirekt Kenntnis erlangen. Das Prinzip bleibt das gleiche, auch wenn die unmittelbare Wahrnehmung fehlt.

"Eine Vermehrung oder Andersgestaltung der menschlichen Sinne würde ein anderes Wahrnehmungsbild ergeben, eine Bereicherung oder Andersgestaltung der menschlichen Erfahrung; aber eine wirkliche Erkenntnis müßte auch dieser Erfahrung gegenüber durch die Wechselwirkung von Begriff und Wahrnehmung gewonnen werden. Die Vertiefung der Erkenntnis hängt von den im Denken sich auslebenden Kräften der Intuition (vergleiche Seite 95) ab. Diese Intuition kann in demjenigen Erleben, das im Denken sich ausgestaltet, in tiefere oder weniger tiefe Untergründe der Wirklichkeit tauchen. Durch die Erweiterung des Wahrnehmungsbildes kann dieses Untertauchen Anregungen empfangen und auf diese Art mittelbar gefördert werden. Allein niemals sollte das Tauchen in die Tiefe, als das Erreichen der Wirklichkeit, verwechselt werden mit dem Gegenüberstehen von weiterem oder engerem Wahrnehmungsbild, in dem stets nur eine halbe Wirklichkeit, wie sie von der erkennenden Organisation bedingt wird, vorliegt. Wer nicht in Abstraktionen sich verliert, der wird einsehen, wie auch die Tatsache für die Erkenntnis des Menschenwesens in Betracht kommt, daß für die Physik im Wahrnehmungsfelde Elemente erschlossen werden müssen, für welche nicht ein Sinn wie für Farbe oder Ton unmittelbar abgestimmt ist. Das konkrete Wesen des Menschen ist nicht nur durch dasjenige bestimmt, was er durch seine Organisation sich als unmittelbare Wahrnehmung gegenüberstellt, sondern auch dadurch, daß er anderes von dieser unmittelbaren Wahrnehmung ausschließt." (S 131f)

Die Wirklichkeit der Freiheit

VIII. Die Faktoren des Lebens

IX. Die Idee der Freiheit

X. Freiheitsphilosophie und Monismus

XI. Weltzweck und Lebenszweck (Bestimmung des Menschen)

XII. Die moralische Phantasie (Darwinismus und Sittlichkeit)

XIII. Der Wert des Lebens (Pessimismus und Optimismus)

XIV. Individualität und Gattung

Die letzten Fragen

Die Konsequenzen des Monismus

Erster Anhang

"Es gibt Denker, welche der Meinung sind, daß sich eine besondere Schwierigkeit ergäbe, wenn man begreifen will, wie ein anderes menschliches Seelenleben auf das eigene (des Betrachters) wirken könne. Sie sagen: meine bewußte Welt ist in mir abgeschlossen; eine andere bewußte Welt ebenso in sich. Ich kann in die Bewußtseinswelt eines andern nicht hineinsehen. Wie komme ich dazu, mich mit ihm in einer gemeinsamen Welt zu wissen?" (S 258)

Rudolf Steiner verweist hier auf das Urphänomen der Sozialwissenschaft, das von fundamentaler Bedeutung für das soziale Zusammensein der Menschen ist:

"Was habe ich denn zunächst vor mir, wenn ich einer andern Persönlichkeit gegenüberstehe? Ich sehe auf das nächste. Es ist die mir als Wahrnehmung gegebene sinnliche Leibeserscheinung der andern Person; dann noch etwa die Gehörwahrnehmung dessen, was sie sagt, und so weiter. Alles dies starre ich nicht bloß an, sondern es setzt meine denkende Tätigkeit in Bewegung. Indem ich denkend vor der andern Persönlichkeit stehe, kennzeichnet sich mir die Wahrnehmung gewissermaßen als seelisch durchsichtig. Ich bin genötigt, im denkenden Ergreifen der Wahrnehmung mir zu sagen, daß sie dasjenige gar nicht ist, als was sie den äußeren Sinnen erscheint. Die Sinneserscheinung offenbart in dem, was sie unmittelbar ist, ein anderes, was sie mittelbar ist. Ihr Sich-vor-mich- Hinstellen ist zugleich ihr Auslöschen als bloße Sinneserscheinung. Aber was sie in diesem Auslöschen zur Erscheinung bringt, das zwingt mich als denkendes Wesen, mein Denken für die Zeit ihres Wirkens auszulöschen und an dessen Stelle ihr Denken zu setzen. Dieses ihr Denken aber ergreife ich in meinem Denken als Erlebnis wie mein eigenes. Ich habe das Denken des andern wirklich wahrgenommen. Denn die als Sinneserscheinung sich auslöschende unmittelbare Wahrnehmung wird von meinem Denken ergriffen, und es ist ein vollkommen in meinem Bewußtsein liegender Vorgang, der darin besteht, daß sich an die Stelle meines Denkens das andere Denken setzt. Durch das Sich-Auslöschen der Sinneserscheinung wird die Trennung zwischen den beiden Bewußtseinssphären tatsächlich aufgehoben. Das repräsentiert sich in meinem Bewußtsein dadurch, daß ich im Erleben des andern Bewußtseinsinhaltes mein eigenes Bewußtsein ebensowenig erlebe, wie ich es im traumlosen Schlafe erlebe. Wie in diesem mein Tagesbewußtsein ausgeschaltet ist, so im Wahrnehmen des fremden Bewußtseinsinhaltes der eigene. Die Täuschung, als ob dies nicht so sei, rührt nur davon her, daß im Wahrnehmen der andern Person erstens an die Stelle der Auslöschung des eigenen Bewußtseinsinhaltes nicht Bewußtlosigkeit tritt wie im Schlafe, sondern der andere Bewußtseinsinhalt, und zweitens, daß die Wechselzustände zwischen Auslöschen und Wieder-Aufleuchten des Bewußtseins von mir selbst zu schnell aufeinander folgen, um für gewöhnlich bemerkt zu werden. - Das ganze hier vorliegende Problem löst man nicht durch künstliche Begriffskonstruktionen, die von Bewußtem auf solches schließen, das nie bewußt werden kann, sondern durch wahres Erleben dessen, was sich in der Verbindung von Denken und Wahrnehmung ergibt." (S 260f)

Zweiter Anhang

Online-Text

Anmerkungen

  1. Transzendental wird im Sinne dieser Weltanschauung eine Erkenntnis genannt, welche sich bewußt glaubt, daß über die Dinge an sich nicht direkt etwas ausgesagt werden könne, sondern welche indirekt Schlüsse von dem bekannten Subjektiven auf das Unbekannte, jenseits des Subjektiven Liegende (Transzendente) macht. Das Ding an sich ist nach dieser Ansicht jenseits des Gebietes der uns unmittelbar erkennbaren Welt, d. i. transzendent. Unsere Welt kann aber auf das Transzendente transzendental bezogen werden. Realismus heißt Hartmanns Anschauung, weil sie über das Subjektive, Ideale hinaus, auf das Transzendente, Reale geht.

Literatur zur Philosophie der Freiheit

  • Herbert Witzenmann: Die Philosophie der Freiheit als Grundlage künstlerischen Schaffens, Spicker-Verlag 1988, 2. erw. Auflage, ISBN 38-57041-52-8
  • Karl-Martin Dietz: Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit: Eine Menschenkunde des höheren Selbst, Verlag Freies Geistesleben 1993, ISBN 37-72511-64-3
  • Thomas Kracht: Erfahrung des Denkens: Zum Studium der "Philosophie der Freiheit" Rudolf Steiners. Band 1: Kapitel 1-3, Verlag Freies Geistesleben 1996, ISBN 10: 37-72516-01-7
  • Frank Teichmann: Auferstehung im Denken: Der Christusimpuls in der "Philosophie der Freiheit" und in der Bewusstseinsgeschichte, Verlag Freies Geistesleben 1996, ISBN 37-72516-00-9
  • Peter Selg: Rudolf Steiners innere Situation zur Zeit der "Philosophie der Freiheit", Verlag am Goetheanum 2007, ISBN 3-7235-1307-7
  • Sergej O. Prokofieff: Anthroposophie und die "Philosophie der Freiheit", Verlag am Goetheanum 2006), ISBN 3-7235-1248-8
  • Heinrich Leiste: Von der Philosophie der Freiheit zur Christosophie, Philosophisch Anthroposophischer Verlag am Goetheanum 1933
  • Otto Palmer: Rudolf Steiner über seine 'Philosophie der Freiheit', Verlag Freies Geistesleben 1984, ISBN 3-7725-0665-8
  • Eduard von Hartmann u.a.: Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Nr. 85/86, Zur "Philosophie der Freiheit". Kommentare und Randbemerkungen von Eduard von Hartmann, Briefwechsel zwischen Rudolf Steiner und Vincenz Knauer (1893), und anderes. Dornach (1984)

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit, GA 4 (1995), ISBN 3-7274-0040-4; Tb 627, ISBN 978-3-7274-6271-9 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Kritische Weblinks

Russisch:

Bulgarisch:

Englisch:

Spanisch:

  • La filosofía de la libertad - Traducción: Blanca S. de Muniaín, revisada con la versión inglesa de Michael Wilson de 1964 para Rudolf Steiner. Press por Antonio Aretxabala.

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