Bibliothek:Rudolf Steiner/Werke/GA 10 Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten/Leben und Tod - der große Hüter der Schwelle

Aus AnthroWiki
Die druckbare Version wird nicht mehr unterstützt und kann Darstellungsfehler aufweisen. Bitte aktualisiere deine Browser-Lesezeichen und verwende stattdessen die Standard-Druckfunktion des Browsers.

Leben und Tod – Der große Hüter der Schwelle

Es ist geschildert worden, wie bedeutsam für den Menschen die Begegnung mit dem sogenannten kleineren Hüter der «Schwelle» dadurch ist, daß er in diesem ein übersinnliches Wesen gewahr wird, das er gewissermaßen selbst hervorgebracht hat. Der Leib dieses Wesens ist zusammengesetzt aus den ihm vorher unsichtbaren Folgen seiner eigenen Handlungen, Gefühle und Gedanken. Aber diese unsichtbaren Kräfte sind die Ursachen geworden seines Schicksals und seines Charakters. Es wird nunmehr dem Menschen klar, wie er in der Vergangenheit selbst die Grundlagen für seine Gegenwart gelegt hat. Sein Wesen steht dadurch bis zu einem gewissen Grade offenbar vor ihm. Es sind zum Beispiel bestimmte Neigungen und Gewohnheiten in ihm. Jetzt kann er sich klarmachen, warum er diese hat. Gewisse Schicksalsschläge haben ihn getroffen; nun erkennt er, woher diese kommen. Er wird gewahr, weshalb er das eine liebt, das andere haßt, warum er durch dies oder jenes glücklich oder unglücklich ist. Das sichtbare Leben wird ihm durch die unsichtbaren Ursachen verständlich. Auch die wesentlichen Lebenstatsachen, Krankheit und Gesundheit, Tod und Geburt, entschleiern sich vor seinen Blicken. Er merkt, daß er vor seiner Geburt die Ursachen gewoben hat, die ihn notwendig wieder ins Leben hereinführen mußten. Er kennt nunmehr die Wesenheit in sich, welche in dieser sichtbaren Welt aufgebaut ist auf eine unvollkommene Art und die auch nur in derselben sichtbaren Welt ihrer Vollkommenheit zugeführt werden kann. Denn [205] in keiner anderen Welt gibt es eine Gelegenheit, an dem Ausbau dieser Wesenheit zu arbeiten. Und ferner sieht er ein, daß der Tod ihn zunächst nicht für immer von dieser Welt trennen kann. Denn er muß sich sagen: «Ich bin dereinst zum ersten Male in diese Welt gekommen, weil ich damals ein solches Wesen war, welches das Leben in dieser Welt brauchte, um sich Eigenschaften zu erwerben, die es sich in keiner anderen Welt hätte erwerben können. Und ich muß so lange mit dieser Welt verbunden sein, bis ich alles in mir entwickelt habe, was in ihr gewonnen werden kann. Ich werde dereinst nur dadurch ein tauglicher Mitarbeiter in einer anderen Welt werden, daß ich mir in der sinnlich sichtbaren alle die Fähigkeiten dazu erwerbe.» - Es gehört nämlich zu den wichtigsten Erlebnissen des Eingeweihten, daß er die sinnlich sichtbare Natur in ihrem wahren Werte besser kennen und schätzen lernt, als er dies vor seiner Geistesschulung konnte. Diese Erkenntnis wird ihm gerade durch seinen Einblick in die übersinnliche Welt. Wer einen solchen Einblick nicht getan hat und sich deshalb vielleicht nur der Ahnung hingibt, daß die übersinnlichen Gebiete die unendlich wertvolleren sind, der kann die sinnliche Welt unterschätzen. Wer aber diesen Einblick getan hat, der weiß, daß er ohne die Erlebnisse in der sichtbaren Wirklichkeit ganz ohnmächtig in der unsichtbaren wäre. Soll er in der letzteren leben, so muß er Fähigkeiten und Werkzeuge zu diesem Leben haben. Die kann er sich aber nur in der sichtbaren erwerben. Er wird geistig sehen müssen, wenn die unsichtbare Welt für ihn bewußt werden soll. Aber diese Sehkraft für eine «höhere» Welt wird durch die Erlebnisse in der «niederen» allmählich ausgebildet. Man kann ebensowenig [206] in einer geistigen Welt mit geistigen Augen geboren werden, wenn man diese nicht in der sinnlichen sich gebildet hat, wie das Kind nicht mit physischen Augen geboren werden könnte, wenn diese sich nicht im Mutterleibe gebildet hätten.
Von diesem Gesichtspunkte aus wird man auch einsehen, warum die «Schwelle» zur übersinnlichen Welt von einem «Hüter» bewacht wird. Es darf nämlich auf keinen Fall dem Menschen ein wirklicher Einblick in jene Gebiete gestattet werden, bevor er dazu die notwendigen Fähigkeiten erworben hat. Deshalb wird jedesmal beim Tode, wenn der Mensch, noch unfähig zur Arbeit in einer anderen Welt, diese betritt, der Schleier vorgezogen vor ihren Erlebnissen. Er soll sie erst erblicken, wenn er ganz dazu reif geworden ist.
Betritt der Geheimschüler die übersinnliche Welt, dann erhält das Leben für ihn einen ganz neuen Sinn, er sieht in der sinnlichen Welt den Keimboden für eine höhere. Und in einem gewissen Sinne wird ihm diese «höhere» ohne die «niedere» als eine mangelhafte erscheinen. Zwei Ausblicke eröffnen sich ihm. Der eine in die Vergangenheit, der andere in die Zukunft. In eine Vergangenheit schaut er, in welcher diese sinnliche Welt noch nicht war. Denn über das Vorurteil, daß die übersinnliche Welt sich aus der sinnlichen entwickelt habe, ist er längst hinweg. Er weiß, daß das Übersinnliche zuerst war und daß sich alles Sinnliche aus diesem entwickelt habe. Er sieht, daß er selbst, bevor er zum ersten Male in diese sinnliche Welt gekommen ist, einer übersinnlichen angehört hat. Aber diese einstige übersinnliche Welt brauchte den Durchgang durch die sinnliche. Ihre Weiterentwickelung wäre [207] ohne diesen Durchgang nicht möglich gewesen. Erst wenn sich innerhalb des sinnlichen Reiches Wesen entwickelt haben werden mit entsprechenden Fähigkeiten, kann die übersinnliche wieder ihren Fortgang nehmen. Und diese Wesenheiten sind die Menschen. Diese sind somit, so wie sie jetzt leben, einer unvollkommenen Stufe des geistigen Daseins entsprungen und werden selbst innerhalb derselben zu derjenigen Vollkommenheit geführt, durch die sie dann tauglich sein werden zur Weiterarbeit an der höheren Welt. - Und hier knüpft der Ausblick in die Zukunft an. Er weist auf eine höhere Stufe der übersinnlichen Welt. In dieser werden die Früchte sein, die in der sinnlichen ausgebildet werden. Die letztere als solche wird überwunden; ihre Ergebnisse aber einer höheren einverleibt sein.
Damit ist das Verständnis gegeben für Krankheit und Tod in der sinnlichen Welt. Der Tod ist nämlich nichts anderes als der Ausdruck dafür, daß die einstige übersinnliche Welt an einem Punkte angekommen war, von dem aus sie durch sich selbst nicht weitergehen konnte. Ein allgemeiner Tod wäre notwendig für sie gewesen, wenn sie nicht einen neuen Lebenseinschlag erhalten hätte. Und so ist dieses neue Leben zu einem Kampf gegen den allgemeinen Tod geworden. Aus den Resten einer absterbenden, in sich erstarrenden Welt erblühten die Keime einer neuen. Deshalb haben wir Sterben und Leben in der Welt und langsam gehen die Dinge ineinander über. Die absterbenden Teile der alten Welt haften noch den neuen Lebenskeimen an, die ja aus ihnen hervorgegangen sind. Den deutlichsten Ausdruck findet das eben im Menschen. Er trägt als seine Hülle an sich, was sich aus jener alten [208] Welt erhalten hat; und innerhalb dieser Hülle bildet sich der Keim jenes Wesens aus, das zukünftig leben wird. Er ist so ein Doppelwesen, ein sterbliches und ein unsterbliches. Das Sterbliche ist in seinem End-, das Unsterbliche in seinem Anfangszustand. Aber erst innerhalb dieser Doppelwelt, die ihren Ausdruck in dem Sinnlich-Physischen findet, eignet er sich die Fähigkeiten dazu an, die Welt der Unsterblichkeit zuzuführen. Ja, seine Aufgabe ist, aus dem Sterblichen selbst die Früchte für das Unsterbliche herauszuholen. Blickt er also auf sein ,Wesen, wie er es selbst in der Vergangenheit aufgebaut hat, so muß er sich sagen: Ich habe in mir die Elemente einer absterbenden Welt. Sie arbeiten in mir, und nur allmählich kann ich ihre Macht durch die neuauflebenden unsterblichen brechen. So geht des Menschen Weg vom Tode zum Leben. Könnte er mit vollem Bewußtsein in der Sterbestunde zu sich sprechen, so müßte er sich sagen: «Das Sterbende war mein Lehrmeister. Daß ich sterbe, ist eine Wirkung der ganzen Vergangenheit, mit der ich verwoben bin. Aber das Feld des Sterblichen hat mir die Keime zum Unsterblichen gereift. Diese trage ich in eine andere Welt mit hinaus. Wenn es bloß auf das Vergangene ankäme, dann hätte ich überhaupt niemals geboren werden können. Das Leben des Vergangenen ist mit der Geburt abgeschlossen. Das Leben im Sinnlichen ist durch den neuen Lebenskeim dem allgemeinen Tode abgerungen. Die Zeit zwischen Geburt und Tod ist nur der Ausdruck dafür, wieviel das neue Leben der absterbenden Vergangenheit abringen konnte. Und die Krankheit ist nichts als die Fortwirkung der absterbenden Teile dieser Vergangenheit.» [209] Aus all dem heraus findet die Frage ihre Antwort, warum der Mensch erst allmählich sich aus Verirrung und Unvollkommenheit zu der Wahrheit und dem Guten durcharbeitet. Seine Handlungen, Gefühle und Gedanken stehen zunächst unter der Herrschaft des Vergehenden und Absterbenden. Aus diesem sind seine sinnlich-physischen Organe herausgebildet. Daher sind diese Organe und alles, was sie zunächst antreibt, selbst dem Vergehen geweiht. Nicht die Instinkte, Triebe, Leidenschaften und so weiter und die zu ihnen gehörigen Organe stellen ein Unvergängliches dar, sondern erst das wird unvergänglich sein, was als das Werk dieser Organe erscheint. Erst wenn der Mensch aus dem Vergehenden alles herausgearbeitet hat, was herauszuarbeiten ist, wird er die Grundlage abstreifen können, aus welcher er herausgewachsen ist und die ihren Ausdruck in der physisch-sinnlichen Welt findet.
So stellt der erste «Hüter der Schwelle» das Ebenbild des Menschen in seiner Doppelnatur dar, aus Vergänglichem und Unvergänglichem gemischt. Und klar zeigt sich an ihm, was noch fehlt bis zur Erreichung der hehren Lichtgestalt, welche wieder die reine geistige Welt bewohnen kann.
Der Grad der Verstricktheit mit der physisch-sinnlichen Natur wird dem Menschen durch den «Hüter der Schwelle» anschaulich. Diese Verstricktheit drückt sich zunächst in dem Vorhandensein der Instinkte, Triebe, Begierden, egoistischen Wünsche, in allen Formen des Eigennutzes und so weiter aus. Sie kommt dann in der Angehörigkeit zu einer Rasse, einem Volke und so weiter zum Ausdruck. Denn Völker und Rassen sind nur die verschiedenen [210] Entwickelungsstufen zur reinen Menschheit hin. Es steht eine Rasse, ein Volk um so höher, je vollkommener ihre Angehörigen den reinen, idealen Menschheitstypus zum Ausdrucke bringen, je mehr sie sich von dem physisch Vergänglichen zu dem übersinnlich Unvergänglichen durchgearbeitet haben. Die Entwickelung des Menschen durch die Wiederverkörperungen in immer höher stehenden Volks- und Rassenformen ist daher ein Befreiungsprozeß. Zuletzt muß der Mensch in seiner harmonischen Vollkommenheit erscheinen. - In einer ähnlichen Art ist der Durchgang durch immer reinere sittliche und religiöse Anschauungsformen eine Vervollkommnung. Denn jede sittliche Stufe enthält noch die Sucht nach dem Vergänglichen neben den idealistischen Zukunftskeimen.
Nun erscheint in dem geschilderten «Hüter der Schwelle» nur das Ergebnis der verflossenen Zeit. Und von den Zukunftskeimen ist nur dasjenige darinnen, was in dieser verflossenen Zeit hineingewoben worden ist. Aber der Mensch muß in die zukünftige übersinnliche Welt alles mitbringen, was er aus der Sinnenwelt herausholen kann. Wollte er nur das mitbringen, was in sein Gegenbild bloß aus der Vergangenheit hinein verwoben ist, so hätte er seine irdische Aufgabe nur teilweise erfüllt. Deshalb gesellt sich nun zu dem «kleineren Hüter der Schwelle» nach einiger Zeit der größere. Wieder soll in erzählender Form dargelegt werden, was sich als Begegnung mit diesem zweiten «Hüter der Schwelle» abspielt.
Nachdem der Mensch erkannt hat, wovon er sich befreien muß, tritt ihm eine erhabene Lichtgestalt in den Weg. Deren Schönheit zu beschreiben ist schwierig in den Worten unserer Sprache. - Diese Begegnung findet statt, [211] wenn sich die Organe des Denkens, Fühlens und Wollens auch für den physischen Leib so weit voneinander gelöst haben, daß die Regelung ihrer gegenseitigen Beziehungen nicht mehr durch sie selbst, sondern durch das höhere Bewußtsein geschieht, das sich nun ganz getrennt hat von den physischen Bedingungen. Die Organe des Denkens, Fühlens und Wollens sind dann die Werkzeuge in der Gewalt der menschlichen Seele geworden, die ihre Herrschaft über sie aus übersinnlichen Regionen ausübt. - Dieser so aus allen sinnlichen Banden befreiten Seele tritt nun der zweite «Hüter der Schwelle» entgegen und spricht etwa folgendes:
«Du hast dich losgelöst aus der Sinnenwelt. Dein Heimatrecht in der übersinnlichen Welt ist erworben. Von hier aus kannst du nunmehr wirken. Du brauchst um deinetwillen deine physische Leiblichkeit in gegenwärtiger Gestalt nicht mehr. Wolltest du dir bloß die Fähigkeit erwerben, in dieser übersinnlichen Welt zu wohnen, du brauchtest nicht mehr in die sinnliche zurückzukehren. Aber nun blicke auf mich. Sieh, wie unermeßlich erhaben ich über all dem stehe, was du heute bereits aus dir gemacht hast. Du bist zu der gegenwärtigen Stufe deiner Vollendung gekommen durch die Fähigkeiten, welche du in der Sinnenwelt entwickeln konntest, solange du noch auf sie angewiesen warst. Nun aber muß für dich eine Zeit beginnen, in welcher deine befreiten Kräfte weiter an dieser Sinnenwelt arbeiten. Bisher hast du nur dich selbst erlöst, nun kannst du als ein Befreiter alle deine Genossen in der Sinnenwelt mitbefreien. Als einzelner hast du bis heute gestrebt; nun gliedere dich ein in das Ganze, damit du nicht nur dich mitbringst in die übersinnliche [212] Welt, sondern alles andere, was in der sinnlichen vorhanden ist. Mit meiner Gestalt wirst du dich einst vereinigen können, aber ich kann kein Seliger sein, solange es noch Unselige gibt! Als einzelner Befreiter möchtest du immerhin schon heute in das Reich des Übersinnlichen eingehen. Dann aber würdest du hinabschauen müssen auf die noch unerlösten Wesen der Sinnenwelt. Und du hättest dein Schicksal von dem ihrigen getrennt. Aber ihr seid alle miteinander verbunden. Ihr mußtet alle hinabsteigen in die Sinnenwelt, um aus ihr heraufzuholen die Kräfte für eine höhere. Würdest du dich von ihnen trennen, so mißbrauchtest du die Kräfte, die du doch nur in Gemeinschaft mit ihnen hast entwickeln können. Wären sie nicht hinabgestiegen, so hättest es auch du nicht können; ohne sie fehlten dir die Kräfte zu deinem übersinnlichen Dasein. Du mußt diese Kräfte, die du mit ihnen errungen hast, auch mit ihnen teilen. Ich wehre dir daher den Einlaß in die höchsten Gebiete der übersinnlichen Welt, solange du nicht alle deine erworbenen Kräfte zur Erlösung deiner Mitwelt verwendet hast. Du magst mit dem schon Erlangten dich in den unteren Gebieten der übersinnlichen Welt aufhalten; vor der Pforte zu den höheren stehe ich aber «als der Cherub mit dem feurigen Schwerte vor dem Paradiese» und wehre dir den Eintritt so lange, als du noch Kräfte hast, die unangewendet geblieben sind in der sinnlichen Welt. Und willst du die deinigen nicht anwenden, so werden andere kommen, die sie anwenden; dann wird eine hohe übersinnliche Welt alle Früchte der sinnlichen aufnehmen; dir aber wird der Boden entzogen sein, mit dem du verwachsen warst die geläuterte Welt wird sich über dich hinausentwickeln. Du [213] wirst von ihr ausgeschlossen sein. So ist dein Pfad der schwarze, jene aber, von welchen du dich gesondert hast, gehen den weißen Pfad.»
So kündigt sich der «große Hüter» der Schwelle bald an, nachdem die Begegnung mit dem ersten Wächter erfolgt ist. Der Eingeweihte weiß aber ganz genau, was ihm bevorsteht, wenn er den Lockungen eines vorzeitigen Aufenthaltes in der übersinnlichen Welt folgt. Ein unbeschreiblicher Glanz geht von dem zweiten Hüter der Schwelle aus; die Vereinigung mit ihm steht als ein fernes Ziel vor der schauenden Seele. Doch ebenso steht da die Gewißheit, daß diese Vereinigung erst möglich wird, wenn der Eingeweihte alle Kräfte, die ihm aus dieser Welt zugeflossen sind, auch aufgewendet hat im Dienste der Befreiung und Erlösung dieser Welt. Entschließt er sich, den Forderungen der höheren Lichtgestalt zu folgen, dann wird er beitragen können zur Befreiung des Menschengeschlechts. Er bringt seine Gaben dar auf dem Opfer-Altar der Menschheit. Zieht er seine eigene vorzeitige Erhöhung in die übersinnliche Welt vor, dann schreitet die Menschheitsströmung über ihn hinweg. Für sich selbst kann er nach seiner Befreiung aus der Sinnenwelt keine neuen Kräfte mehr gewinnen. Stellt er ihr seine Arbeit doch zur Verfügung, so geschieht es mit dem Verzicht, aus der Stätte seines ferneren Wirkens selbst für sich noch etwas zu holen. Man kann nun nicht sagen, es sei selbstverständlich, daß der Mensch den weißen Pfad wählen werde, wenn er so vor die Entscheidung gestellt wird. Das hängt nämlich ganz davon ab, ob er bei dieser Entscheidung schon so geläutert ist, daß keinerlei Selbstsucht ihm die Lockungen der Seligkeit begehrenswert erscheinen [214] läßt. Denn diese Lockungen sind die denkbar größten. Und auf der anderen Seite sind eigentlich gar keine besonderen Lockungen vorhanden. Hier spricht gar nichts zum Egoismus. Was der Mensch in den höheren Regionen des Übersinnlichen erhalten wird, ist nichts, was zu ihm kommt, sondern lediglich etwas, das von ihm ausgeht: die Liebe zu seiner Mitwelt. Alles, was der Egoismus verlangt, wird nämlich durchaus nicht entbehrt auf dem schwarzen Pfade. Im Gegenteil: die Früchte dieses Pfades sind gerade die vollkommenste Befriedigung des Egoismus. Und will jemand nur für sich die Seligkeit, so wird er ganz gewiß diesen schwarzen Pfad wandeln, denn er ist der für ihn angemessene. - Es darf daher niemand von den Okkultisten des weißen Pfades erwarten, daß sie ihm eine Anweisung zur Entwickelung des eigenen egoistischen Ich geben werden. Für die Seligkeit des einzelnen haben sie nicht das allergeringste Interesse. Die mag jeder für sich erreichen. Sie zu beschleunigen ist nicht die Aufgabe der weißen Okkultisten. Diesen liegt lediglich an der Entwickelung und Befreiung aller Wesen, die Menschen und Genossen des Menschen sind. Daher geben sie nur Anweisungen, wie man seine Kräfte zur Mitarbeit an diesem Werke ausbilden kann. Sie stellen daher die selbstlose Hingabe und Opferwilligkeit allen anderen Fähigkeiten voran. Sie weisen niemand geradezu ab, denn auch der Egoistischste kann sich läutern. Aber wer nur für sich etwas sucht, wird, solange er das tut, bei den Okkultisten nichts finden. Selbst wenn diese ihm nicht ihre Hilfe entziehen; er, der Suchende, entzieht sich den Früchten der Hilfeleistung. Wer daher wirklich den Anweisungen der guten Geheimlehrer folgt, wird nach dem Übertreten der [215] Schwelle die Forderungen des großen Hüters verstehen; wer diesen Anweisungen aber nicht folgt, der darf auch gar nicht hoffen, daß er je zur Schwelle durch sie kommen werde. Ihre Anweisungen führen zum Guten oder aber zu gar nichts. Denn eine Führung zur egoistischen Seligkeit und zum bloßen Leben in der übersinnlichen Welt liegt außerhalb der Grenzen ihrer Aufgabe. Diese ist von vornherein so veranlagt, daß sie den Schüler so lange von der überirdischen Welt fernhält, bis dieser sie mit dem Willen zur hingebenden Mitarbeit betritt.