Essay

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Der bzw. das[1] Essay (Plural: Essays), auch: Essai, ist eine geistreiche Abhandlung, in der wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit seinem jeweiligen Thema. Die Kriterien wissenschaftlicher Methodik können dabei vernachlässigt werden; der Schreiber hat also relativ große Freiheiten.

Ähnliche Textarten, teilweise auch synonym verwendet, sind Traktat, Aufsatz und (veraltet) Causerie. Verwandte journalistische Darstellungsformen sind die Glosse, die Kolumne, der journalistische Kommentar und der Leitartikel.

Im Blick auf den Geistreichtum eines guten Essays kann man den Essay als den „großen Bruder“ des Aphorismus auffassen.

Etymologie

Der französische Ausdruck essai stammt wie der italienische saggio und der spanische ensayo von dem selten belegten spätlateinischen Substantiv exagium („das Wägen“, „das Gewicht“) ab, das insbesondere „die Schrotproben, welche die Kaiser des 5. Jahrh. sich von jedem neuen Münzschlag vorlegen ließen, 1/6 einer Unze, = 1 Solidus[2] bezeichnet und von dem häufig belegten Verb exigere (u. a. „prüfen“, „untersuchen“, „beurteilen“, „abwiegen“, „erwägen“) abgeleitet ist.

Entstehung

Michel de Montaigne
Francis Bacon

Der Essay als literarische Form oder Gattung geht zurück auf den französischen Autor Michel de Montaigne (1533–1592). Montaigne entwickelte den Essay aus den Adagia des Erasmus von Rotterdam. Was bei diesem noch eine Sammlung von Sprüchen, Aphorismen und Weisheiten ist, versieht Montaigne nun mit Kommentaren und Kritik. Dabei stellt er, aus einer skeptischen Grundhaltung heraus, seine Erfahrungen und Abwägungen dem scholastischen Absolutheitsanspruch entgegen.

Montaigne tritt als ein Fragender auf, der nach Antwort(en) sucht (und sie letztlich nicht findet). Ein guter Essay wirft neue Fragen auf und/oder umreißt ein neues Problem. Erkenntnisse und Forderungen werden oft nur so weit ausgeführt, dass der Leser sie selbst assoziieren und als eigene Gedanken(anregungen) betrachten kann, nicht als eine dogmatische Lehrmeinung.

Montaignes Bekenntnis zur Subjektivität und sein Zweifel an der Existenz absoluter Wahrheit widersprachen der damaligen offiziellen Lehrmeinung des Vatikans. Der Vatikan veröffentlichte 1559 erstmals einen Index Librorum Prohibitorum; Montaignes Essays (Les essais) wurden 1676 (also 84 Jahre nach seinem Tod) auf den Index gesetzt.[3]

Sein Nachfolger, der Engländer Francis Bacon, erweiterte die Gattung des Essays in Richtung einer belehrenden, moralisierenden Form mit deduktiver Beweisführung; in der Folge pendelt der Essay zwischen diesen beiden Ausrichtungen. So wurde der Essay auch zu einer beliebten literarischen Form von Moralisten und Aufklärern.

Die Enzyklopädisten adaptierten die ursprünglich literarisch-philosophische Form zu einem wissenschaftlichen Stil. Im Gegensatz zum Traktat oder zur wissenschaftlichen Abhandlung verzichtet ein Essay auf objektive Nachweise und definitive Antworten. Das schließt aber keine Parteinahme aus, wie etwa in Virginia Woolfs Essay „Ein eigenes Zimmer“, in dem sie für Frauenrechte eintrat, oder Jonathan Lethem, der in „Bekenntnisse eines Tiefstaplers“ für einen großzügigen Umgang mit dem Kopieren von Ideen plädierte.

In seinem Text Lebenslauf III deutete Walter Benjamin seine Essays so: „Ihre Aufgabe ist es, den Integrationsprozess der Wissenschaft […] durch eine Analyse des Kunstwerks zu fördern, die in ihm einen integralen, nach keiner Seite gebietsmäßig einzuschränkenden Ausdruck der religiösen, metaphysischen, politischen, wirtschaftlichen Tendenzen einer Epoche erkennt.“

Form

Die essayistische Methode ist eine experimentelle Art, sich dem Gegenstand der Überlegungen zu nähern und ihn aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das Wichtigste ist jedoch nicht der Gegenstand der Überlegungen, sondern das Entwickeln der Gedanken vor den Augen des Lesers.

Viele Essays zeichnen sich aus durch eine gewisse Leichtigkeit, stilistische Ausgefeiltheit, Verständlichkeit und Humor. Jeder neue Begriff wird eingeführt und vorgestellt. Handlungen werden chronologisch erzählt und Zitate deutlich gekennzeichnet; meist ist er aber befreit von vielen Zitaten, Fußnoten und Randbemerkungen. Zuweilen ist es auch schlicht eine stilisierte, ästhetisierte Plauderei.

Während der Autor einer wissenschaftlichen Analyse gehalten ist, sein Thema systematisch und umfassend darzustellen, wird ein Essay eher dialektisch verfasst: mit Strenge in der Methodik, nicht aber in der Systematik. Essays sind Denkversuche, Deutungen – unbefangen, oft zufällig scheinend. Damit ein Essay überzeugen kann, sollte er im Gedanken scharf, in der Form klar und im Stil geschmeidig sein (siehe auch Sprachebene, Stilistik, rhetorische Figur).

Siehe auch

Literatur

  • Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: Ders., Noten zur Literatur. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988 (zuerst 1958).
  • Hans Peter Balmer: Aphoristik, Essayistik, Moralistik. In: Hans Vilmar Geppert, Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. III, A. Francke, Tübingen 2007, S. 191–211.
  • Max Bense: Über den Essay und seine Rede. In: Merkur 1, 1947, S. 414–424.
  • Bruno Berger: Der Essay. Form und Geschichte. Bern 1964.
  • Erwin Chargaff: Alphabetische Anschläge. Stuttgart 1989, darin: Versuch mit oft unzulänglichen Mitteln, S. 223–230.
  • Michael Ewert: Vernunft, Gefühl und Phantasie, im schönsten Tanze vereint. Die Essayistik Georg Forsters. Königshausen & Neumann, Würzburg 1993, ISBN 3-88479-769-7.
  • Petra Gehring: Der Essay – ein Verbindendes zwischen Philosophie und Literatur? In: Winfried Eckel, Uwe Lindemann (Hrsg.): Text als Ereignis. Programme – Praktiken – Wirkungen. Berlin 2017, S. 157–175.
  • Gerhard Haas: Essay. Stuttgart 1969.
  • Osborne Bennett Hardison, Jr.: Binding Proteus. An Essay on the Essay. In: The Sewanee Review 96.4, 1988, Ss. 610–632. Nachdruck in: Alexander J. Butrym (Hrsg.): Essays on the Essay: Redefining the Genre. The University of Georgia Press, Athens / London 1989, S. 11–28.
  • Ludwig Rohner: Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. Luchterhand, Neuwied / Berlin 1966.
  • Ludwig Rohner: Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten in 6 Bänden. dtv, München 1982 DNB 540088889, ISBN 3-423-06013-1 (Band 1).
  • Michael Rutschky: Wir Essayisten. Eine Selbstkritik. In: Ders., Reise durch das Ungeschick. Und andere Meisterstücke. Haffmans, Zürich 1990, S. 199–220.
  • Michael Rutschky: Stichwort Essay: Unterscheidungen ignorieren. In: Hugo Dittberner (Hrsg.), Kunst ist Übertreibung. Wolfenbütteler Lehrstücke zum Zweiten Buch I. Wallstein, Göttingen 2003, S. 228–237.
  • Christian Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, (online).
  • Friedhelm Schmidt-Welle: Von der Identität zur Diversität. Mexikanische Essayistik im 20. Jahrhundert. In: Walther L. Bernecker u. a. (Hrsg.), Mexiko heute. Vervuert, Frankfurt am Main 2004; S. 759–786.
  • Peter M. Schon: Vorformen des Essays in Antike und Humanismus. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Essais von Montaigne. Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1954 (Mainzer Romanistische Arbeiten, Bd. 1).
  • Georg Stanitzek: Essay – BRD. Vorwerk 8, Berlin 2011.
  • Klaus Weissenberger (Hrsg.): Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa. Niemeyer, Tübingen 1985.
  • Andreas Martin Widmann: Die Form der Stunde. In: Der Freitag, 26. Januar 2012, S. 15.
  • Peter V. Zima: Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays. Von Montagne bis zur Postmoderne. Königshausen & Neumann, Würzburg 2012, ISBN 978-3-8260-4727-5.

Weblinks

 Wiktionary: Essay – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. http://www.duden.de/rechtschreibung/Essay
  2. Pierer's Universal-Lexikon, 4. Auflage 1857–1865
  3. Internet Modern History Sourcebook
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