Seelische Beobachtung

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Seelische Beobachtung ist eine geisteswissenschaftliche (Geisteswissenschaft i.S.d. Anthroposophie) philosophische Methode, wie sie von Rudolf Steiner in seinen philosophischen Grundwerken entwickelt und angewandt wurde. Steiner gibt für sein Werk "Die Philosophie der Freiheit" an, daß es ein Forschungsresultat der "seelischen Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode" sei. Diese Methode ist der phänomenologischen Methode Husserls verwandt, wenn auch nicht identisch.

"Die seelische Beobachtung des Erkenntnisvorgangs und der Bewußtseinsereignisse überhaupt wird oft mit einem 'Philosophieren' im Sinne eines schlußfolgernden Gebrauchs des Denkens verwechselt. Sie steht aber der naturwissenschaftlichen Forschungsweise entschieden näher als einer solchen Spekulation, da sie den Gedanken nur zur Ordnung und Durchdringung von Beobachtungen gebraucht. Da die Anwendung der forschenden Aufmerksamkeit in der methodischen Disziplinierung seelischer Beobachtung (des Beobachtens von Seelischem und Geistigem) heute weithin ungewohnt ist und man daher meist über keine Erfahrung auf dem Gebiet verfügt, ist jene Verwechslung verständlich. (...)

Die seelische Beobachtung ist eine phänomenologische Methode, die nur solche Ausgangspunkte ihrer Untersuchung wählt, welche der Beobachtung unmittelbar zugänglich sind. (...)

Die seelische Beobachtung dringt wieder in das Erfahren der seelisch-geistigen Welt ein, deren Kenntnis der materialistischen Bewußtsseinsart verloren ging. Der Wiedereintritt in einen Bereich, der einer älteren Menschheit vertraut war, kann aber heute nicht mehr in der nicht mehr zeitgemäßen Weise der gläubigen oder durch Symbole vermittelten (wahrnehmungsartig empfangenden) Zuwendung zum Göttlichen geschehen. Vielmehr ist die ... seelische Beobachtung eine Fähigkeit, welche durch die moderne naturwissenschaftliche Forschung erlangt wurde.:" (Witzenmann: Sinn und Sein, aus der Vorbemerkung, S. 7ff.)

Grundsätzlich steht diese Fähigkeit zur seelischen Beobachtung heute jedem modernen Menschen im Sinne einer kulturell vermittelten Kompetenz zur Verfügung, nicht nur dem geschulten Naturwissenschaftler.


In 'Wahrheit und Wissenschaft' gibt Rudolf Steiner den Ursprung der Methodologie an, die die anzuwendende Methode genauer bestimmt. Sie ist dem Forschen Schillers abgelesen:

"Damit ist zugleich gerechtfertigt, warum wir unsere Ausführungen als auf Grundlage der Goethe-Schillerschen Weltanschauung erbaut bezeichnen. Sie wollen das wissenschaftliche Denken Goethes nach jener Methode betrachten, für die Schiller das Vorbild geliefert hat. Goethes Blick ist auf die Natur und das Leben gerichtet; und die Betrachtungsweise, die er dabei befolgt, soll der Vorwurf (der Inhalt) für unsere Abhandlung sein; Schillers Blick ist auf Goethes Geist gerichtet; und die Betrachtungsweise, die er dabei befolgt, soll das Ideal unserer Methode sein." GA 002, S. 008

Eine ausgearbeitete Methodologie der 'seelischen Beobachtung' gibt es indessen bisher nicht. Weder Schiller, noch Steiner und später Witzenmann haben die Methode selbst einer eingehenderen Explikation unterzogen.

"Man muß demnach erst einmal festhalten: genau genommen wird der Steinersche Begriff der "Denk-Beobachtung" von Witzenmann weder behandelt noch geklärt. Er klärt seine eigene, explizit ausgeübte Methode nicht; untersucht auch nicht Steiners Aussagen zu dieser Methode. Dieses Resultat gilt es besonders zu betonen angesichts der Tatsache, daß Witzenmanns Aufsatz[1] durch einen Literaturverweis in seiner Schrift "Die Philosophie der Freiheit als Grundlage künstlerischen Schaffens" (S. 40) im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wesen der "seelischen Beobachtung" ausdrücklich hervorgehoben wird. Alles, was wir dort über die Methode der "seelischen Beobachtung" des Denkens im engeren Sinne erfahren, beschränkt sich weitgehend auf zwei kaum aussagefähige Sätze in einer Anmerkung." (Muschalle: Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung (Stand 12.07.01) Kapitel 6.6 Herbert Witzenmann[2])

Gemeint ist dieser Satz in der Anmerkung in dem Aufsatz 'Intuition und Beoachtung' (Lit: Intuition und Beobachtung, TL 1, S. 83)

"Das Denken kann nicht, wie es die materialistischen Denker anstreben, »durch einen bloßen Beobachtungsprozeß« in derselben Art wie die anderen Gegenstände des Weltinhaltes gefunden werden. Vielmehr entzieht es sich der »normalen Beobachtung« und ist nur einem »Ausnahmezustand« des Beobachtens, nämlich der Intuition zugänglich." (Diese Anmerkung Witzenmanns hat einen Bezug zu einer Passage in der 'Philosophie der Freiheit', (Ausgabe 1921, S. 45))

Allerdings hat man es hier mit der Frage zu tun, wie das Denken der seelischen Beobachtung zugänglich ist. Durch einen "Ausnahmezustand" des Beobachtens, durch "Intuition". Es ist dabei fraglich, ob die seelische Beobachtung als Methode mit einem solchen 'Beobachten im Ausnahmezustand' bzw. Intuition gleichzusetzen ist, oder ob sie angesichts des Gegenstandes "Denken" in dem Modus "Ausnahmezustand" beobachtet. Das Denken ist nicht der einzige Gegenstand der seelischen Beobachtung. Gegenstand der Methode sind ganz allgemein das Seelische und Geistige, im Unterschied zur Natur.

Die Art und Qualität des modernen Forschens, das typische methodische Vorgehen, wie es sich paradigmatisch im naturwissenschaftlichen Forschen zeigt, sind auch Definitionsmerkmale der 'seelischen Beobachtung'. Sie unterscheidet sich von der naturwissenschaftlichen Forschungsmethode unter diesem Aspekt lediglich darin, daß sie eine Modifikation dahingehend erfährt, dem besonderen Gegenstandsgebiet "Seele und Geist" angemessen zu sein.

Es ist sogar fraglich, ob Steiner mit der Formulierung "seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode" überhaupt etwas anderes als das moderne forschende Beobachten, (das z.B. auch im Alltag stattfinden kann, wenn man andere Menschen oder Situationen beobachtet, um sie einzuschätzen), gemeint hat, und zusätzlich den besonderen Gegenstand hervorheben wollte, der ja bekanntlich Materialisten als nicht existent gilt: Beobachtungsresultate auf dem Gebiet des Seelischen.

Die Formulierung bringt den Anspruch strenger Wissenschaftlichkeit zum Ausdruck, trotzdem es sich um ein besonderes Forschungsgebiet handelt, dessen Existenz dem Common Sense zweifelhaft ist, oder, wenn Seele und Geist als existent zugegeben werden, bezweifelt wird, daß auf dem Gebiet des Seelischen und Geistigen streng wissenschaftlich nach dem Vorbild der modernen Naturwissenschaften geforscht werden könne.

Nachweise

  1. Herbert Witzenmann, Intuition und Beobachtung, in: ders. Intuition und Beobachtung, Teil 1. Stuttgart 1977, S. 73 ff. Dieser Aufsatz, der hier mit Ergänzungen und Änderungen neu abgedruckt wird, erschien erstmals in der Zeitschrift "Die Drei«, 1948, 6. 72
  2. http://www.studienzuranthroposophie.de/14AporieKap6.6.html

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.