Psychoanalyse und Strukturphänomenologie (Witzenmann): Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:AmaliaFreud.jpg|thumb|Der junge Sigmund Freud mit seiner Mutter Amalie]]
'''Strukturphänomenologie''' bezeichnet die von [[Herbert Witzenmann]] (1905–1988) entwickelte und ausgeübte [[Phänomenologie (Methodik)|Methode phänomenologischer Beobachtung]] des [[Bewusstsein]]s. Denselben Titel trägt sein „wissenschaftstheoretisches Konzept“ aus dem Jahr 1983.
Die '''Psychoanalyse''' (von {{grS|ψυχή}} ''psyche'' ‚Seele‘ und ἀνάλυσις ''analysis'' ‚Zerlegung‘, im Sinne von „Untersuchung, Enträtselung der [[Seele]]) ist eine [[Psychologie|psychologische]] Theorie, die um 1890 von dem Wiener [[Neurologe]]n [[Sigmund Freud]] begründet wurde. Aus der Psychoanalyse heraus haben sich später die verschiedenen Schulen der [[Tiefenpsychologie]] entwickelt.


Der Begriff „Psychoanalyse“ steht sowohl für das auf Freuds Theorien über die [[Psychodynamik]] des [[Unbewusstes|Unbewussten]] gegründete Beschreibungs- und Erklärungsmodell der menschlichen [[Psyche]] als auch für die ''psychoanalytischen Therapien'' – eine Gruppe von Verfahren zur Behandlung innerer und zwischenmenschlicher Konflikte – sowie für die ''psychoanalytische Methodik'', die sich auch mit der Untersuchung [[kultur]]eller Phänomene beschäftigt. In allen drei Aspekten wird die Psychoanalyse bis heute von Klinikern und Forschern weiterentwickelt und verändert; so ist die moderne Psychoanalyse durch einen theoretischen, methodischen und therapeutischen Pluralismus charakterisiert.
== Anknüpfungen ==
Witzenmanns Strukturphänomenologie knüpft methodisch und zum Teil auch terminologisch an [[Rudolf Steiner]]s Erkenntnislehre sowie mittelbar ([[Goetheanismus]]) und unmittelbar an [[Johann Wolfgang von Goethe|Goethes]] Naturforschung an. Im Unterschied zu [[wikipedia:Heinrich Rombach|Heinrich Rombach]]s gleichnamigen Ansatz steht sie nicht primär in der Tradition philosophischer [[Phänomenologie]] nach [[Edmund Husserl|Husserl]], ist auf diese aber in verschiedenen Aspekten beziehbar.<ref>Wagemann, ''Gehirn und menschliches Bewusstsein'', S. 235f</ref>


== Anerkennenswertes ==
Aus Goethes Naturforschung haben folgende methodische Elemente Eingang in die Strukturphänomenologie gefunden:
* die Bewusstmachung und systematische Kultivierung von im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess ausgeübten mentalen Aktivitätsformen („Trennen und Verbinden“)
* das ursprünglich auf [[Empedokles]] zurückgehende Prinzip eines Erfassens von Gleichem durch Gleiches („Teilnahme an Produktion“)
* die Konkretion universeller Gesetzmäßigkeit („[[Urphänomen]]“) im aktuell Beobachteten im Unterschied zu abstraktiver Theorienbildung und subjektiver Vorstellungsbildung


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Im Hinblick auf Rudolf Steiners Erkenntnislehre orientiert sich die Strukturphänomenologie insbesondere an folgenden Aspekten:  
"Diese Psychoanalyse hat wenigstens die Menschen aufmerksam gemacht darauf, dass Seelisches als Seelisches zu nehmen ist." {{Lit|{{G|178|144}}}}
* dem Prinzip eines urteilsoffenen, referentiellen bzw. [[wikipedia:Deixis|deiktischen]] Sprach- und Begriffsgebrauchs („Blicklenkung“)
</div>
* dem Gegenstandsbereich menschlicher Erkenntnisprozessualität (Bewusstsein als „Schauplatz“)
* an der selbstreferentiellen bewusstseinsphänomenologischen Beobachtung („[[seelische Beobachtung]]“)
* der Handhabung vorprädikativer Aktivitätsformen (Zurückhalten, Hervorbringen) sowie dem Aufweis entsprechender (vorsubjektiver, vorobjektiver) Strukturkomponenten („[[reine Wahrnehmung]]“, „reiner [[Begriff]]“)
* an der Vorstellungslehre ([[Vorstellung]] als „individualisierter Begriff“)


<div style="margin-left:20px">
== Hauptmotive ==
"Also immerhin sicher ein Weg, auf dem die Leute suchen, aus dem bloßen Materialismus herauszukommen und das Seelische ins Auge zu fassen." {{Lit|{{G|178|135}}}}
;Methode
</div>
Ausgangspunkt der Strukturphänomenologie ist die Frage, ob und wie vorbewusste, genuin mentale Aktivität am Zustandekommen des [[Naiver Realismus|naiv-realistischen]] Alltagsbewusstseins, insbesondere der Objekt-Subjekt-Relation, beteiligt ist. Die [[Subjekt-Objekt-Spaltung]] wird nicht als Voraussetzung für den Erkenntnisakt, sondern als sein Resultat aufgefasst, das es hinsichtlich seiner Aktualgenese zu untersuchen gilt. Durch eine systematische Schulung der Beobachtungsintention wird eine Erweiterung der [[Erste-Person-Perspektive|Ersten-Person-Perspektive]] in Richtung [[Transpersonale Psychologie|transpersonaler]], gleichwohl das beobachtende Individualbewusstsein nicht auslöschender Prozessbewusstheit angestrebt. Dabei geht es zunächst um eine Unterscheidung rezeptiver und produktiver Aktivitätsanteile im regulären Bewusstseinsvollzug sowie deren Zugang zu komplementären Strukturelementen (Wahrnehmung, Begriff).


Werden die Beobachtungen aus der Psychoanalyse richtig interpretiert, können sie für den Geisteswissenschaftler durchaus interessant sein.<ref>{{G|309|98}}</ref>
Der zentrale Befund der Strukturphänomenologie besteht darin, dass
:''„die vollständige Wirklichkeit in der Vielfalt ihrer Erscheinungen nicht ohne unser mitgestaltendes Zutun als unser Bewusstseinsinhalt erscheint. Vielmehr bauen wir alles, was uns als wirklich gilt, durch die Vereinigung wahrnehmlicher und begrifflicher Elemente auf. Diese Vereinigungstätigkeit vollziehen wir zuerst unterbewusst. Sie kann aber bewusst gemacht werden. Sie findet stets statt, wenn wir etwas zunächst Unbegriffenes begreifen. Sie kann daher nicht durch etwas anderes erklärt oder ersetzt werden. Denn sie erfolgt bei jedem Erklärungsversuch von neuem.“''<ref>Witzenmann, ''Strukturphänomenologie'', S. 101</ref>


Auch die lindernde Wirkung, durch die Möglichkeit {{"|sich über das auszusprechen, was  einen drückt}}<ref>{{G|130|143}} </ref>, hebt [[Rudolf Steiner]] als positiven Aspekt hervor.
;Grundstruktur
Die dynamische Synthese von Wahrnehmung und Begriff bezeichnet Witzenmann als ''Grundstruktur''. Mit ihr wird ein einheitliches und generelles Formprinzip aufgewiesen, das für alle subjekt- und objektseitigen [[Struktur|Strukturen]] maßgeblich ist – sofern uns diese bewusst werden. Die Grundstruktur nach Witzenmann unterscheidet sich insofern von jener nach Rombach, als die letztere auf einer pluralen, durch bestimmte Inhalte geprägten Konzeption beruht.<ref>Wagemann, ''Gehirn und menschliches Bewusstsein'', S. 244f</ref> Die erstere ist dagegen durch vier allgemeine Formstufen gekennzeichnet, die sich im Übergang jeden begrifflichen Inhalts zum Wahrnehmlichen zeigen.


== Geistiger Hintergrund ==
;Erinnerungsschicht
Aus der Perspektive grundstruktureller Prozessualität zeigt sich das gewöhnliche Bewusstsein als ihr gegenständliches (dem [[Objekt (Philosophie)|Objekt]]) bzw. personales Resultat (dem [[Subjekt (Philosophie)|Subjekt]]). Da es sich als solches auf ein ihm Vorhergehendes (die Bildung der Grundstruktur) bezieht, hat es eine erinnerungsartige Charakteristik; Witzenmann spricht von ihm auch als einer auf die primäre Grundstruktur aufgelagerten ''Erinnerungsschicht''. Der entstandene Gegenstand verbürgt dem Gegenüberstehenden daher keine Gegenwart im Sinne eines prozessualen Gewahrseins, sondern verbirgt ihm dieses gerade. Insofern ist unser naiv-realistisches Alltagsbewusstsein im Verhältnis zu seiner originären Entstehung nicht unmittelbar wirklichkeitshaltig, kann aber hinsichtlich seiner Entstehung durch strukturphänomenologische Beobachtung bewusstseins[[Immanenz|immanent]] aufgeklärt werden.


Die geistige Hintergrund der Erkrankungen, auf deren Heilung die Psychoanalyse abzielt, ist nach [[Rudolf Steiner]] darin zu sehen, dass gegenwärtig der obere, bewusstere Teil des [[Astralleib]]s immer kleiner wird, während der untere, unbewusste Teil immer mehr anwächst. Diese Tendenz wird sich weiter fortsetzen. Dadurch bilden sich im [[Unterbewusstsein]] vermehrt krankheitsbildende «verborgene Seelenprovinzen», die die Psychoanalyse ins [[Bewusstsein]] zu heben versucht, um die durch sie bedingte seelische Verletzung zu heilen.
== Bezüge ==
 
Herbert Witzenmann hat das Konzept der Strukturphänomenologie in seinen Forschungen und Werken auf verschiedene Fragestellungen aus der [[Anthroposophie]], den [[Geisteswissenschaft|Geistes]]- und [[Sozialwissenschaft]]en angewendet. Wenngleich sich einige Autoren in ihren Arbeiten explizit auf die Strukturphänomenologie und ihre Konsequenzen beziehen, steht diese Forschungsrichtung noch am Anfang einer umfassenderen Rezeption und Weiterführung. Folgende Autoren sind hier exemplarisch zu nennen: Jost Schieren zeigt in einer strukturphänomenologischen Analyse von Goethes Forschungsmethode deren ausgeprägtes wissenschaftliches Ethos auf<ref>Schieren, ''Anschauende Urteilskraft'', S. 107</ref>. Michael Ross wendet in einer "Anthropologie der Begegnung" das Konzept der Grundstruktur auf die soziale Wirklichkeitsbildung an und zieht entsprechende sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Konsequenzen<ref>Ross: ''Soziale Wirklichkeitsbildung'', S. 182</ref>. Johannes Wagemann gelangt durch eine Systematisierung typischer Lösungsversuche zum Gehirn-Bewusstsein-Problem zu dessen Reformulierung und entwickelt, wie Witzenmanns Strukturphänomenologie eine integrative Lösungsperspektive für dieses Problem eröffnet<ref>Wagemann, ''Gehirn und menschliches Bewusstsein'', S. 230</ref>.
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„Sehen Sie, da finden
Sie heute, indem die naturwissenschaftlich-medizinischen Anschauungen
über den Menschen erweitert werden, daß es Menschen
gibt, die im späteren Leben irgendwie in nervöse Zustände
bekommen, die sich bis in die physische Konstitution des Menschen
hineinerstrecken können, die zu wirklichen Krankheitsbildern
führen. Da sieht dann die gegenwärtige Medizin, wie sie ohnmächtig
ist, diese Krankheitsbilder in irgendeiner Weise anschaulich
zu beherrschen, eine Pathologie bis zur Therapie zu treiben.
Ich war selber ein unmittelbarer Zeitgenosse, als der ausgezeichnete
Wiener Arzt, der Internist Breuer, einmal vor einem solchen Fall
stand, wo etwas auftrat an einer Persönlichkeit, das aus physischer
Forschungsmethode nicht mehr pathologisch zu fassen war. Da
wurde zu der damals ja immer beliebter werdenden Hypnose Zuflucht
genommen. Da versetzte man die Persönlichkeit in eine
Hypnose. Man kam tatsächlich durch das Erforschen des hypnotisehen
Zustandes darauf, wie ein furchtbar schockierendes, ein
furchtbar schreckmachendes Lebensereignis in einer früheren Lebensepoche
da war. Dieses Lebensereignis war gewissermaßen, so
konnte man sich es dazumal nur erklären, hinuntergezogen in die
untere Region des menschlichen Lebens, wo das Unterbewußte,
das Unbewußte lagert. Da bildete es gewissermaßen eine «verborgene
Seelenprovinz». Aber wenn der Mensch auch von so etwas
nichts weiß, so ist es doch da in seinem Leben. Und es kann sogar
krankheitserzeugend da sein. Dann hat man etwas in dem Menschen
drinnen, was nur ein seelisches Erlebnis war, was nachwirkt,
nachrumort, was gewissermaßen eine isolierte Provinz im Seelenleben
ist, deren sich der Mensch nicht bewußt ist.
 
Man kam darauf: Wenn man den Menschen daran erinnert,
wenn man so etwas heraufbringt ins Bewußtsein, so daß er es bewußt
ergreift, so kann es zur Heilung führen.
 
Solche Tatsachen wird man aber im gegenwärtigen Erdenleben
immer mehr und mehr finden. Aber man wird wissen müssen,
wenn man verstehen will, warum die Menschheit befallen wird von
solchen Zuständen - und immer mehr und mehr wird sie davon
befallen werden -, man wird wissen müssen aus einer geistigen
Erkenntnis heraus, wie es mit dem Immer-Kleinerwerden des oberen
Teiles des astralischen Leibes wird, und wie in dem immer
größerwerdenden unteren Teil des astralischen Leibes eine Tendenz
besteht zur Ansammlung von solchen unterbewußten Seelenprovinzen.
Man wird aufsteigen müssen von der seelenhaften Erkenntnis
des Menschen zu der historischen Geist-Erkenntnis, zu
der kosmischen Geist-Erkenntnis, um überhaupt solche Erscheinungen
erklären zu können. Breuer war eine tiefere Natur - ich
kannte ihn sehr gut - und ließ, weil er empfand, daß man in dieser
Weise nicht weitergehen kann mit dem bloßen Wissen der Gegenwart,
sozusagen den Faden der Forschung fallen. Dann nahmen ihn
andere auf, Freud vor allen Dingen und seine Nachfolger, und es
wurde dasjenige daraus, was gegenwärtig als Psychoanalyse überall
funktioniert. Die beruht auf etwas durchaus Wahrem, denn die
Erscheinungen sind da. Man ist genötigt, dasjenige, was sich physisch
ausdrückt, im Seelenhaften zu suchen. Der Gedanke ist richtig;
aber man hat nicht die Wissenschaft, um das zu beherrschen,
denn diese Wissenschaft würde erst die Geisteswissenschaft sein.
Und so tritt diese Psychoanalyse, die auf der ganz natürlichen,
historisch vor sich gehenden Defektheit des oberen astralischen
Leibes des Menschen beruht, mit diesen Tatsachen auf bei Leuten,
die erstens Dilettanten sind in der Seelenforschung, in der Geistesforschung,
aber die auch Dilettanten sind in der Leibesforschung,
in der Körperforschung, denn sie wissen nicht dem Geist in den
Leib hinein zu folgen. So kommen zwei Dilettantismen zusammen,
die wirklich einander gleich sind, denn diese Leute wissen wirklich
so wenig vom wirklichen Seelen- und Geistesleben des Menschen
wie vom physischen und ätherischen Leben. Diese zwei Größen
kommen zusammen, und wenn zwei gleiche Größen aufeinander
wirken, so multiplizieren sie sich: a x a = a<sup>2</sup> oder D x D = D<sup>2</sup>,
Dilettantismus multipliziert mit Dilettantismus ist Dilettantismus
zum Quadrat. Es ist tatsächlich so, daß ein Richtiges, etwas, was
auf ganz richtigen Unterlagen beruht, durch die Ohnmacht der
Forschung in der Gegenwart eben als Dilettantismus sich darstellt.
Aber man sieht in so etwas das Streben nach dem Richtigen. Man
darf so etwas wie Psychoanalyse nicht wiederum hinstellen als etwas,
was des Teufels ist, sondern als etwas, worin sich zeigt, daß
unsere Zeit das will, was sie eben nicht kann, daher so etwas, wie
das, was in der Psychoanalyse auftritt, erst in sein richtiges Fahrwasser
eintreten wird, wenn es in die Geistesforschung mündet.“ {{GZ||227|292ff}}
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== Die unzulänglichen Erkenntnismittel der Psychoanalyse ==
 
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"So dass man sagen kann: Psychoanalyse ist in unserer Zeit eine Erscheinung, welche die Menschen nötigt, aufmerksam zu werden auf gewisse Seelenvorgänge; auf der andern Seite aber veranlasst sie die Menschen, solche Seelenerscheinungen mit, ich möchte sagen, unzulänglichen Erkenntnismitteln zu betrachten. Und das ist ganz besonders bedeutsam, weil diese Betrachtung mit unzulänglichen Erkenntnismitteln einer Sache, die ganz augenscheinlich da ist und die menschliche Erkenntnis in der Gegenwart herausfordert, zu den mannigfaltigsten schweren Verirrungen führt und nicht ungefährlich ist für das soziale Leben, für die Fortentwickelung der Erkenntnis und den Einfluß dieser Fortentwickelung der Erkenntnis auf das soziale Leben.
 
Man kann schon sagen: Viertelswahrheiten können unter Umständen schädlicher sein als ganze Irrtümer. Und als eine Art von Viertelswahrheiten müssen schon die Dinge betrachtet werden, welche bei den psychoanalytischen Theoretikern heute zutage treten." {{Lit|{{G|178|124}}}}
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"Die Psychoanalyse macht vor allen Dingen den Fehler, daß sie Erscheinungen isoliert betrachtet, die nur, wenn sie an andere Erscheinungsreihen angeschlossen werden, erklärbar sind. Durch diese einseitige Betrachtung entstehen Fehler." {{Lit|{{G|301|243}}}}
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== Hereinwirkung der Toten in das Unterbewusstsein ==
 
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"Würde der Materialismus
siegen, so würden die Menschen immer mehr und mehr den Glauben
haben: Alles, was vom Toten übrig ist, ist in der Urne oder im Grabe
verwesend. - Dieser Gedanke ist aber eine reale Macht. Er ist eine
Unwahrheit. Wenn der hier Zurückbleibende denkt: Der Tote ist
nicht mehr lebend, der Tote ist nicht mehr da - , so ist es ein falscher
Gedanke, aber dieser falsche Gedanke ist doch in den Seelen, die ihn
denken, real, ist doch wirklich. Diesen wirklichen Gedanken nimmt
der Tote wahr; er nimmt ihn als sehr bedeutsam für sich wahr. Und
das ist nicht einerlei, sondern im Gegenteil von grundwesentlicher
Bedeutung, ob derjenige, der hier zurückbleibt, in lebendigem innerem
Seelenleben pflegt den Gedanken an den fortlebenden Toten, an
den in der geistigen Welt befindlichen Toten, oder ob er mehr oder
weniger sich dem Jammergedanken hingibt: Der Tote ist eben tot,
verwest. - Das ist nicht nur nicht gleichgültig, sondern es ist ein
ganz wesentlicher Unterschied [...]
 
Und jetzt beginnt das gefährliche Spiel. Da suchen nun die Psychoanalytiker
alles mögliche als isolierte, unterirdische, verborgene
Seelenprovinz, wie sie sich ausdrücken; suchen nach bei jemand,
der hysterisch in seinem dreißigsten Jahre ist, nach Verirrungen in
seinem siebenten Jahre, die dazumal nicht ausgelebt worden sind,
die man ihm wieder ins Bewußtsein bringen muß, weil dieses Ins-
Bewußtsein-Bringen heilen soll und so weiter. Es ist ein Spiel mit
außerordentlich gefährlichen Waffen! [...] Es ist wahr, in vielen Menschen spielt heute Unterbewußtes,
das nicht heraufkommt ins Bewußtsein. Aber das, was die Psychoanalytiker
herauszufinden glauben, ist in der Regel das allerwenigst
Bedeutsame; deshalb werden auch die Heilerfolge in der Regel recht
fragliche sein. Wenn man irgendeine dreißigjährige Dame findet und
eine sexuelle Verirrung in ihrem vierzehnten Jahre, die sich nicht ausgelebt
hat, und die daher fortwuchert und die Hysterie bewirkt, so
hat man noch das Allerunbeträchtlichste [...]
 
Denken Sie an das, was ich schon angeführt habe. Der Gedanke an
den nicht mehr vorhandenen Toten, der lebt in der Seele, lebt irgendwie,
ohne daß die Seele eigentlich viel darüber nachdenkt, lebt bloß
deshalb, weil die Seele heute noch gedankenlos ist, und diese Seele ist
etwas empfindlich für solche gedankenlose Gedanken - dann ist der
Tote durch die ewigen Weltgesetze gezwungen, mit diesen Gedanken
zu leben; der Tote spukt in der Seele des zurückgebliebenen Lebendigen.
Dem ist nur zu begegnen dadurch, daß man weiß, der Tote
lebt. Und immer mehr und mehr werden durch den Unglauben an das
Leben der Toten die Menschen auf dem physischen Plane in Seelenkrankheiten
hineingetrieben werden. Es sind in der Regel nicht
sexuelle Jugendverirrungen, es sind die Gedanken des Unglaubens,
die diese Erscheinungen bewirken. Denn die Gedanken haben in
unserer Zeit den Beruf, reale Mächte zu werden, nicht nur solche
reale Mächte, die für sich wirken; für sich wirken sie, indem die Seele
nach dem Tode immer ähnlicher wird dem, als was sie sich vorstellt
in dem Leibe; in höherem Sinne noch werden diese Gedanken reale
Mächte dadurch, daß sie sogar Wesen, in diesem Falle die Toten
selber, in einer unrichtigen Weise verbinden mit den Lebenden. Nur
dadurch, daß man, so gut man es kann, die Gedankenverbindung mit
dem Verstorbenen aufrecht erhält als einem Fortlebenden, rettet man
auch sich davor, daß das Verhältnis zum Toten verhängnisvoll wird
für den zurückgebliebenen Lebenden, und in gewisser Beziehung
auch für den Verstorbenen selbst, der fortwährend aus einem ewigen,
weisheitsvollen Gesetze heraus in die Notwendigkeit versetzt ist, in
dem Zurückgebliebenen so zu spuken, daß dem Zurückgebliebenen
dies nicht einmal zum Bewußtsein kommt, sondern in krankhaften
Erscheinungen sich auslebt.
 
Fragen Sie jetzt: Was wird das wirkliche Heilmittel für viele solche
Erscheinungen sein, wie sie dem Psychoanalytiker heute entgegentreten?
- Die Verbreitung der Kenntnis von der geistigen Welt. Die
ist das allgemeine Heilmittel, die allgemeine Therapie, nicht diese
individuelle Behandlung, die man einem einzelnen angedeihen läßt." {{Lit|{{G|178|111ff}}}}
</div>
 
== Psychoanalyse und Karma ==
 
<div style="margin-left:20px">
"Denken Sie sich das Verhältnis des Pädagogen, der psychoanalytisch vorgehen will, zu einem Zögling oder zu einem Patienten. Indem er sich heranmacht an seinen Seeleninhalt, der in die Gefühlssphäre hineinrutscht, macht er sich nicht nur an das individuelle Leben des Menschen heran, sondern er macht sich heran an das umfassende Leben, das über das Individuelle weit hinausgeht. Für dieses umfassende Leben liegen aber zwischen den Menschen nicht Zusammenhänge vor, die sich durch bloße Vorstellungen erschöpfen lassen, sondern die führen hinein in reale Lebenszusammenhänge - das ist sehr wichtig! Denken Sie also, es würde ein solches Verhältnis des psychoanalytischen Erziehers zu dem Zögling stattfinden, so würde das, was sich da abspielt, sich nicht abspielen können bloß auf dem Vorstellungsgebiete, indem man dem Betreffenden etwas beibringt, sondern es würden sich reale karmische Beziehungen anknüpfen müssen, weil man viel mehr in das Leben hineingreift. Man würde gewissermaßen das betreffende Individuum herausreißen aus seinem Karma, würde es in seinem karmischen Verlauf ändern. Das kann nicht gehen, dass man dasjenige, was über das Individuum hinausführt, individuell behandelt, sondern das muss generell, allgemein-menschlich behandelt werden. Wir sind in einer gewissen Zeitepoche zusammengeführt, also muss wirken ein Gemeinsames, sobald man über das Individuelle hinausgeht. Das heißt, es darf nicht gegenübertreten Individuum dem Individuum und das Individuum therapeutisch oder pädagogisch so behandeln, wie es der Psychoanalytiker macht, sondern es muss etwas Allgemeines eintreten. In die Zeitkultur muss etwas hereintreten, was die Seele hinweist auf dasjenige, was sonst unterbewusst bleibt; und das, was heraufzieht, das muss nur Milieu werden, nicht eine Angelegenheit, die sich von Individuum zu Individuum abspielt.
Hier liegt der große Fehler, der gemacht wird, der von einer ungeheuren Tragweite, von einer riesigen Bedeutung ist. Statt die Bestrebung dahinzuführen, das Geistesleben zu durchdringen mit dem, was Wissen von der geistigen Welt werden kann, wie es in der Gegenwart sein muss, sperrt man diejenigen Seelen, an denen sich zeigt, wie das zurückgestaute Geistesleben krankhaft wirkt, in Sanatorien ein und behandelt einen einzelnen. Das kann niemals zu etwas anderem führen, als dass karmisch verworrene Verhältnisse sich anknüpfen, dass aus dem, was sich vollzieht zwischen den Individuen, nicht herauskommt ein wirkliches Heben des unterbewussten Seeleninhaltes, sondern dass sich karmische Beziehungen zwischen den Behandelnden und dem Behandelten anknüpfen, weil es übergreift in das Individuelle." {{Lit|{{G|178|167}}}}
</div>
 
== Siehe auch ==
 
[[Sigmund Freud]], [[Carl Gustav Jung]], [[Assoziation (Psychologie)]], [[Hypnose]]


== Literatur ==
== Literatur ==
#Rudolf Steiner: ''Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen'', [[GA 178]] (1992), ISBN 3-7274-1780-3 {{Vorträge|178}}
*Klaus Hartmann: ''Die freiheitliche Sprachauffassung des Novalis''. Bouvier, Bonn 1987, ISBN 3-416-02014-6 (besonders S. 180–194)
#Rudolf Steiner: ''Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen'', [[GA 309]] (1981), ISBN 3-7274-3090-7 {{Vorträge|309}}
*Michael Ross: ''Soziale Wirklichkeitsbildung. Erkenntnistheoretische, methodologische und anthropologische Grundlagen bei [[Max Weber]] und [[Rudolf Steiner]]''. Tectum, Marburg 1996, ISBN 3-89608-628-6 (= Diss. phil., Dortmund 1996)
#Rudolf Steiner: ''Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit'', [[GA 130]] (1995), ISBN 3-7274-1300-X {{Vorträge|130}}
*Jost Schieren: ''Anschauende Urteilskraft. Methodische und philosophische Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen''. Parerga, Düsseldorf 1998, ISBN 3-930450-27-5 (= Diss. phil., Essen 1997)
#Rudolf Steiner: ''Initiations-Erkenntnis'', [[GA 227]] (2000), ISBN 3-7274-2271-8 {{Vorträge|227}}
*Rudolf Steiner: ''Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Beobachtungs-Resultate nach naturwissenschaftlicher Methode''. Felber, Berlin 1894; Steiner, Dornach 2011, ISBN 978-3-7274-6271-9 ([http://www.anthroweb.info/179.html Online-Fassung der Ausgabe 1918])
#Rudolf Steiner: ''Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft'', [[GA 301]] (1991), ISBN 3-7274-3010-9 {{Vorträge|301}}
*Rudy Vandercruysse: ''Herbert Witzenmann - Denken im Kampf mit dem Intellektualismus''. In: ''Entwicklung des Ich''. Menon, Heidelberg 1991, ISBN 3-921132-01-0, S. 39–54.
#[[Rudy Vandercruysse]]: ''Die therapeutische Dimension des Denkens: anthroposophische Aspekte zur Psychoanalyse'', Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1999, ISBN 3772518559
*Johannes Wagemann: ''Gehirn und menschliches Bewusstsein. Neuromythos und Strukturphänomenologie''. Shaker, Aachen 2010, ISBN 978-3-8322-9772-5 (= Diss. phil., Witten-Herdecke 2010), ''Rezension: [http://www.rosejourn.com/index.php/rose/article/download/83/110]''
*Sabine Wettig: ''Imagination im Erkenntnisprozess. Chancen und Herausforderungen im Zeitalter der Bildmedien''. Transcript, Bielefeld 2009, ISBN 978-3-8376-1080-2
*Herbert Witzenmann: ''Strukturphänomenologie. Vorbewusstes Gestaltbilden im erkennenden Wirklichkeitenthüllen. Ein neues wissenschaftstheoretisches Konzept im Anschluss an die Erkenntniswissenschaft Rudolf Steiners''. Spicker, Dornach 1983, ISBN 3-85704-172-2
*Herbert Witzenmann: ''Strukturphänomenologie. Grundgedanken zu einer wirklichkeitserfassenden Erkenntniswissenschaft''. In: ''Die Drei'', Jg. 54, Heft 5 (1984), {{ISSN|0012-6063}}


{{GA}}
== Weblinks ==
*[http://www.studienzuranthroposophie.de Kritik an Witzenmanns Steiner-Interpretation] von Michael Muschalle
*[http://www.diss.fu-berlin.de/diss/servlets/MCRFileNodeServlet/FUDISS_derivate_000000004204/Diss-Wettig.pdf?hosts=local Dissertation] von Sabine Wettig
*Übersichtsartikel zur Dissertation von Johannes Wagemann ([http://rosejourn.com/index.php/rose/article/view/34/67 Teil 1]; [http://rosejourn.com/index.php/rose/article/viewFile/61/89, Teil 2])
*Artikel zur strukturphänomenologischen Meditationsforschung von Johannes Wagemann ([http://www.rosejourn.com/index.php/rose/article/viewFile/73/101, deutsche Version]; [http://www.rosejourn.com/index.php/rose/article/viewFile/72/100, englische Version])


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
<references />
<references />


{{Wikipedia}}
{{SORTIERUNG:Strukturphanomenologie}}
 
[[Kategorie:Anthroposophie]]
[[Kategorie:Wissenschaft]]
[[Kategorie:Erkenntnistheorie]]
[[Kategorie:Medizin nach Fachgebiet]]  
[[Kategorie:Wissenschaftstheorie]]
[[Kategorie:Medizinisches Fachgebiet]]
[[Kategorie:Philosophie]]
[[Kategorie:Psychologie nach Fachgebiet]]
[[Kategorie:Phänomenologie]]
[[Kategorie:Psychologisches Fachgebiet]]
{{wikipedia}}
[[Kategorie:Psychoanalyse|!]]

Version vom 16. Mai 2015, 18:54 Uhr

Strukturphänomenologie bezeichnet die von Herbert Witzenmann (1905–1988) entwickelte und ausgeübte Methode phänomenologischer Beobachtung des Bewusstseins. Denselben Titel trägt sein „wissenschaftstheoretisches Konzept“ aus dem Jahr 1983.

Anknüpfungen

Witzenmanns Strukturphänomenologie knüpft methodisch und zum Teil auch terminologisch an Rudolf Steiners Erkenntnislehre sowie mittelbar (Goetheanismus) und unmittelbar an Goethes Naturforschung an. Im Unterschied zu Heinrich Rombachs gleichnamigen Ansatz steht sie nicht primär in der Tradition philosophischer Phänomenologie nach Husserl, ist auf diese aber in verschiedenen Aspekten beziehbar.[1]

Aus Goethes Naturforschung haben folgende methodische Elemente Eingang in die Strukturphänomenologie gefunden:

  • die Bewusstmachung und systematische Kultivierung von im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess ausgeübten mentalen Aktivitätsformen („Trennen und Verbinden“)
  • das ursprünglich auf Empedokles zurückgehende Prinzip eines Erfassens von Gleichem durch Gleiches („Teilnahme an Produktion“)
  • die Konkretion universeller Gesetzmäßigkeit („Urphänomen“) im aktuell Beobachteten im Unterschied zu abstraktiver Theorienbildung und subjektiver Vorstellungsbildung

Im Hinblick auf Rudolf Steiners Erkenntnislehre orientiert sich die Strukturphänomenologie insbesondere an folgenden Aspekten:

  • dem Prinzip eines urteilsoffenen, referentiellen bzw. deiktischen Sprach- und Begriffsgebrauchs („Blicklenkung“)
  • dem Gegenstandsbereich menschlicher Erkenntnisprozessualität (Bewusstsein als „Schauplatz“)
  • an der selbstreferentiellen bewusstseinsphänomenologischen Beobachtung („seelische Beobachtung“)
  • der Handhabung vorprädikativer Aktivitätsformen (Zurückhalten, Hervorbringen) sowie dem Aufweis entsprechender (vorsubjektiver, vorobjektiver) Strukturkomponenten („reine Wahrnehmung“, „reiner Begriff“)
  • an der Vorstellungslehre (Vorstellung als „individualisierter Begriff“)

Hauptmotive

Methode

Ausgangspunkt der Strukturphänomenologie ist die Frage, ob und wie vorbewusste, genuin mentale Aktivität am Zustandekommen des naiv-realistischen Alltagsbewusstseins, insbesondere der Objekt-Subjekt-Relation, beteiligt ist. Die Subjekt-Objekt-Spaltung wird nicht als Voraussetzung für den Erkenntnisakt, sondern als sein Resultat aufgefasst, das es hinsichtlich seiner Aktualgenese zu untersuchen gilt. Durch eine systematische Schulung der Beobachtungsintention wird eine Erweiterung der Ersten-Person-Perspektive in Richtung transpersonaler, gleichwohl das beobachtende Individualbewusstsein nicht auslöschender Prozessbewusstheit angestrebt. Dabei geht es zunächst um eine Unterscheidung rezeptiver und produktiver Aktivitätsanteile im regulären Bewusstseinsvollzug sowie deren Zugang zu komplementären Strukturelementen (Wahrnehmung, Begriff).

Der zentrale Befund der Strukturphänomenologie besteht darin, dass

„die vollständige Wirklichkeit in der Vielfalt ihrer Erscheinungen nicht ohne unser mitgestaltendes Zutun als unser Bewusstseinsinhalt erscheint. Vielmehr bauen wir alles, was uns als wirklich gilt, durch die Vereinigung wahrnehmlicher und begrifflicher Elemente auf. Diese Vereinigungstätigkeit vollziehen wir zuerst unterbewusst. Sie kann aber bewusst gemacht werden. Sie findet stets statt, wenn wir etwas zunächst Unbegriffenes begreifen. Sie kann daher nicht durch etwas anderes erklärt oder ersetzt werden. Denn sie erfolgt bei jedem Erklärungsversuch von neuem.“[2]
Grundstruktur

Die dynamische Synthese von Wahrnehmung und Begriff bezeichnet Witzenmann als Grundstruktur. Mit ihr wird ein einheitliches und generelles Formprinzip aufgewiesen, das für alle subjekt- und objektseitigen Strukturen maßgeblich ist – sofern uns diese bewusst werden. Die Grundstruktur nach Witzenmann unterscheidet sich insofern von jener nach Rombach, als die letztere auf einer pluralen, durch bestimmte Inhalte geprägten Konzeption beruht.[3] Die erstere ist dagegen durch vier allgemeine Formstufen gekennzeichnet, die sich im Übergang jeden begrifflichen Inhalts zum Wahrnehmlichen zeigen.

Erinnerungsschicht

Aus der Perspektive grundstruktureller Prozessualität zeigt sich das gewöhnliche Bewusstsein als ihr gegenständliches (dem Objekt) bzw. personales Resultat (dem Subjekt). Da es sich als solches auf ein ihm Vorhergehendes (die Bildung der Grundstruktur) bezieht, hat es eine erinnerungsartige Charakteristik; Witzenmann spricht von ihm auch als einer auf die primäre Grundstruktur aufgelagerten Erinnerungsschicht. Der entstandene Gegenstand verbürgt dem Gegenüberstehenden daher keine Gegenwart im Sinne eines prozessualen Gewahrseins, sondern verbirgt ihm dieses gerade. Insofern ist unser naiv-realistisches Alltagsbewusstsein im Verhältnis zu seiner originären Entstehung nicht unmittelbar wirklichkeitshaltig, kann aber hinsichtlich seiner Entstehung durch strukturphänomenologische Beobachtung bewusstseinsimmanent aufgeklärt werden.

Bezüge

Herbert Witzenmann hat das Konzept der Strukturphänomenologie in seinen Forschungen und Werken auf verschiedene Fragestellungen aus der Anthroposophie, den Geistes- und Sozialwissenschaften angewendet. Wenngleich sich einige Autoren in ihren Arbeiten explizit auf die Strukturphänomenologie und ihre Konsequenzen beziehen, steht diese Forschungsrichtung noch am Anfang einer umfassenderen Rezeption und Weiterführung. Folgende Autoren sind hier exemplarisch zu nennen: Jost Schieren zeigt in einer strukturphänomenologischen Analyse von Goethes Forschungsmethode deren ausgeprägtes wissenschaftliches Ethos auf[4]. Michael Ross wendet in einer "Anthropologie der Begegnung" das Konzept der Grundstruktur auf die soziale Wirklichkeitsbildung an und zieht entsprechende sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Konsequenzen[5]. Johannes Wagemann gelangt durch eine Systematisierung typischer Lösungsversuche zum Gehirn-Bewusstsein-Problem zu dessen Reformulierung und entwickelt, wie Witzenmanns Strukturphänomenologie eine integrative Lösungsperspektive für dieses Problem eröffnet[6].

Literatur

  • Klaus Hartmann: Die freiheitliche Sprachauffassung des Novalis. Bouvier, Bonn 1987, ISBN 3-416-02014-6 (besonders S. 180–194)
  • Michael Ross: Soziale Wirklichkeitsbildung. Erkenntnistheoretische, methodologische und anthropologische Grundlagen bei Max Weber und Rudolf Steiner. Tectum, Marburg 1996, ISBN 3-89608-628-6 (= Diss. phil., Dortmund 1996)
  • Jost Schieren: Anschauende Urteilskraft. Methodische und philosophische Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen. Parerga, Düsseldorf 1998, ISBN 3-930450-27-5 (= Diss. phil., Essen 1997)
  • Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Beobachtungs-Resultate nach naturwissenschaftlicher Methode. Felber, Berlin 1894; Steiner, Dornach 2011, ISBN 978-3-7274-6271-9 (Online-Fassung der Ausgabe 1918)
  • Rudy Vandercruysse: Herbert Witzenmann - Denken im Kampf mit dem Intellektualismus. In: Entwicklung des Ich. Menon, Heidelberg 1991, ISBN 3-921132-01-0, S. 39–54.
  • Johannes Wagemann: Gehirn und menschliches Bewusstsein. Neuromythos und Strukturphänomenologie. Shaker, Aachen 2010, ISBN 978-3-8322-9772-5 (= Diss. phil., Witten-Herdecke 2010), Rezension: [1]
  • Sabine Wettig: Imagination im Erkenntnisprozess. Chancen und Herausforderungen im Zeitalter der Bildmedien. Transcript, Bielefeld 2009, ISBN 978-3-8376-1080-2
  • Herbert Witzenmann: Strukturphänomenologie. Vorbewusstes Gestaltbilden im erkennenden Wirklichkeitenthüllen. Ein neues wissenschaftstheoretisches Konzept im Anschluss an die Erkenntniswissenschaft Rudolf Steiners. Spicker, Dornach 1983, ISBN 3-85704-172-2
  • Herbert Witzenmann: Strukturphänomenologie. Grundgedanken zu einer wirklichkeitserfassenden Erkenntniswissenschaft. In: Die Drei, Jg. 54, Heft 5 (1984), ISSN 0012-6063

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Wagemann, Gehirn und menschliches Bewusstsein, S. 235f
  2. Witzenmann, Strukturphänomenologie, S. 101
  3. Wagemann, Gehirn und menschliches Bewusstsein, S. 244f
  4. Schieren, Anschauende Urteilskraft, S. 107
  5. Ross: Soziale Wirklichkeitsbildung, S. 182
  6. Wagemann, Gehirn und menschliches Bewusstsein, S. 230
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