Bibliothek:Goethe/Naturwissenschaft/Meteore des literarischen Himmels

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Meteore des literarischen Himmels

PRIORITÄT - ANTIZIPATION - PRÄOKKUPATION - PLAGIAT - POSSESS - USURPATION

Den lateinischen Ursprung vorstehender Wörter wird man ihnen nicht verargen, indem sie Verhältnisse bezeichnen, die gewöhnlich nur unter Gelehrten stattfinden; man wird vielmehr, da sie sich schwerlich übersetzen lassen, nach ihrer Bedeutung forschen und diese recht ins Auge fassen, weil man sonst weder in alter noch neuer Literargeschichte, ebensowenig als in der Geschichte der Wissenschaften, irgend entschiedene Schritte zu tun, noch weniger andern seine Ansichten über mancherlei wiederkehrende Ereignisse bestimmt mitzuteilen vermag. Ich halte deshalb zu unserm Vorsatze sehr geraten, ausführlich anzuzeigen, was ich mir bei jenen Worten denke und in welchem Sinne ich sie künftig brauchen werde; und dies geschehe redlich und ohne weitern Rückhalt. Die allgemeine Freiheit, seine Überzeugungen durch den Druck zu verbreiten, möge auch mir zustatten kommen.

Priorität

Von Kindheit auf empfinden wir die größte Freude über Gegenstände, insofern wir sie lebhaft gewahr werden, daher die neugierigen Fragen der kleinen Geschöpfe, sobald sie nur irgend zum Bewußtsein kommen. Man belehrt und befriedigt sie für eine Zeitlang. Mt den Jahren aber wächst die Lust am Ergrübeln, Entdecken, Erfinden, und durch solche Tätigkeit wird nach und nach Wert und Würde des Subjekts gesteigert. Wer sodann in der Folge, beim Anlaß einer äußern Erscheinung, sich in seinem innern Selbst gewahr wird, der fühlt ein Behagen, ein eigenes Vertrauen, eine Lust, die zugleich eine befriedigende Beruhigung gibt; dies nennt man entdecken, erfinden. Der Mensch erlangt die Gewißheit seines eigenen Wesens dadurch, daß er das Wesen außer ihm als seinesgleichen, als gesetzlich anerkennt. jedem einzelnen ist zu verzeihen, wenn er hierüber gloriiert, indem die ganze Nation teilnimmt an der Ehre und Freude, die ihrem Landsmann geworden ist.

Antizipation

Sich auf eine Entdeckung etwas zugute tun, ist ein edles rechtmäßiges Gefühl. Es wird jedoch sehr bald gekränkt; denn wie schnell erfährt ein junger Mann, daß die Altvordern ihm zuvor gekommen sind. Diesen erregten Verdruß nennen die Engländer sehr schicklich Mortifikation: denn es ist eine wahre Ertötung des alten Adams, wenn wir unser besonderes Verdienst aufgeben, uns zwar in der ganzen Menschheit selbst hochschätzen, unsere Eigentümlichkeit jedoch als Opfer hinliefern sollen. Man sieht sich unwillig doppelt, man findet sich mit der Menschheit und also mit sich selbst in Rivalität.

Indessen läßt sich nicht widerstreben. Wir werden auf die Geschichte hingewiesen, da erscheint uns ein neues Licht. Nach und nach lernen wir den großen Vorteil kennen, der uns dadurch zuwächst, daß wir bedeutende Vorgänger hatten, welche auf die Folgezeit bis zu uns heran wirkten. Uns wird ja dadurch die Sicherheit, daß wir, insofern wir etwas leisten, auch auf die Zukunft wirken müssen, und so beruhigen wir uns in einem heitern Ergeben.

Geschieht es aber, daß eine solche Entdeckung, über die wir uns im stillen freuen, durch Mitlebende, die nichts von uns, so wie wir nichts von ihnen wissen, aber auf denselben bedeutenden Gedanken geraten, früher in die Welt gefördert wird: so entsteht ein Mißbehagen, das viel verdrießlicher ist als im vorhergehenden Falle. Denn wenn wir der Vorwelt auch noch zur Not einige Ehre gönnen, weil wir uns späterer Vorzüge zu rühmen haben, so mögen wir den Zeitgenossen nicht gern erlauben, sich einer gleichen genialen Begünstigung anzumaßen. Dringen daher zu derselben Zeit größe Wahrheiten aus verschiedenen Individuen hervor, so gibt es Händel und Kontestationen, weil niemand so leicht bedenkt, daß er auf die Mitwelt denselben Bezug hat wie zu Vor- und Nachwelt. Personen, Schulen, ja Völkerschaften führen hierüber nicht beizulegende Streitigkeiten.

Und doch ziehen manchmal gewisse Gesinnungen und Gedanken schon in der Luft umher, so daß mehrere sie erfassen können. Immanet aër sicut anima communis quae omnibus praesto est et qua omnes communicant invicem. Quapropter multi sagaces spiritus ardentes subito ex aëre persentiscunt quod cogitat alter homo. Oder, um weniger mystisch zu reden, gewisse Vorstellungen werden reif durch eine Zeitreihe. Auch in verschiedenen Gärten fallen Früchte zu gleicher Zeit vom Baume.

Weil aber von Mitlebenden, besonders von denen, die in einem Fach arbeiten, schwer auszumitteln ist, ob nicht etwa einer von dem andern schon gewußt und ihm also vorsätzlich vorgegriffen habe: so tritt jenes ideelle Mißbehagen ins gemeine Leben, und eine höhere Gabe wird, wie ein anderer irdischer Besitz, zum Gegenstand von Streit und Hader. Nicht allein das betroffene Individuum selbst, sondern auch seine Freunde und Landsleute stehen auf und nehmen Anteil am Streit. Unheilbarer Zwiespalt entspringt, und keine Zeit vermag das Leidenschaftliche von dem Ereignis zu trennen. Man erinnere sich der Händel zwischen Leibniz und Newton; bis auf den heutigen Tag sind vielleicht nur die Meister in diesem Fache imstande sich von jenen Verhältnissen genaue Rechenschaft zu geben.

Präokkupation

Daher ist die Grenze, wo dieses Wort gebraucht werden darf, schwer auszumitteln; denn die eigentliche Entdeckung und Erfindung ist ein Gewahrwerden, dessen Ausbildung nicht, sogleich erfolgt. Es liegt in Sinn und Herz; wer es mit sich herumträgt, fühlt sich gedrückt. Er muß davon sprechen, er sucht andern seine Überzeugungen aufzudringen, er wird nicht anerkannt. Endlich ergreift es ein Fähiger und bringt es mehr oder weniger als sein Eigenes vor.

Bei dem Wiedererwachen der Wissenschaften, wo so manches zu entdecken war, half man sich durch Logogryphen. Wer einen glücklichen folgereichen Gedanken hatte und ihn nicht gleich offenbaren wollte, gab ihn versteckt in einem Worträtsel. ins Publikum. Späterhin legte man dergleichen Entdeckungen bei den Akademien nieder, um der Ehre eines geistigen Besitzes gewiß zu sein; woher denn bei den Engländern, die, wie billig, aus allem Nutzen und Vorteil ziehen, die Patente den Ursprung nahmen, wodurch auf eine gewisse Zeit die Nachbildung irgendeines Erfundenen verboten wird.

Der Verdruß aber, den die Präokkupation erregt, wächst höchst leidenschaftlich; er bezieht sich auf den Menschen, der uns bevorteilt, und nährt sich in unversöhnlichem Haß.

Plagiat

nennt man die gröbste Art von Okkupation, wozu Kühnheit und Unverschämtheit gehört und die wohl auch deshalb eine Zeitlang glücken kann. Wer geschriebene, gedruckte, nur nicht allzu bekannte Werke benutzt und für sein Eigentum ausgibt, wird ein Plagiarier genannt. Armseligen Menschen verzeihen wir solche Kniffe; werden sie aber, wie es wohl auch geschieht, von talentvollen Personen ausgeübt, so erregt es in uns auch bei fremden Angelegenheiten, ein Missbehagen, weil durch schlechte Mittel Ehre gesucht worden, Ansehen durch niedriges Beginnen.

Dagegen müssen wir den bildenden Künstler in Schutz nehmen, welcher nicht verdient Plagiarier genannt zu werden, wenn er schon vorhandene, gebrauchte, ja bis auf einen gewissen Grad gesteigerte Motive nochmals behandelt.

Die Menge, die einen falschen Begriff von Originalität hat, glaubt ihn deshalb tadeln zu dürfen, anstatt daß er höchlich zu loben ist, wenn er irgend etwas schon Vorhandenes auf einen höhern, ja den höchsten Grad der Bearbeitung bringt. Nicht allein den Stoff'ernpfangen wir von außen, auch fremden Gehalt dürfen wir uns aneignen, wenn nur eine gesteigerte, wo nicht vollendete Form uns angehört.

Ebenso kann und muß auch der Gelehrte seine Vorgänger benutzen, ohne jedesmal ängstlich anzudeuten, woher es ihm gekommen; versäumen wird er aber niemals, seine Dankbarkeit gelegentlich auszudrücken gegen die Wohltäter, welche die Welt ihm aufgeschlossen; es mag nun sein, daß er ihnen Ansicht über das Ganze oder Einsicht ins Einzelne verdankt.

Possess

Nicht alle sind Erfinder, doch will jedermann dafür gehalten sein; um so verdienstlicher handeln diejenigen, welche, gern und gewissenhaft, anerkannte Wahrheiten fortpflanzen. Freilichfolgen daraufauchweniger begabte Menschen, die am Eingelernten festhalten, am Herkömmlichen, am Gewohnten. Auf diese Weise bildet sich eine sogenannte Schule und in derselben eine Sprache, in der man sich nach seiner Art versteht, sie deswegen aber nicht ablegen kann, ob sich gleich das Bezeichnete durch Erfahrung längst verändert hat.

Mehrere Männer dieser Art regieren das wissenschaftliche Gildewesen, welches wie ein Handwerk, das sich von der Kunst entfernt, immer schlechter wird, je mehr man das eigentümliche Schauen und das unmittelbare Denken vernachlässigt.

Da jedoch dergleichen Personen von Jugend auf in solchen Glaubensbekenntnissen unterrichtet sind, und im Vertrauen auf ihre Lehrer das mühsam Erworbene in Beschränktheit und Gewohnheit hartnäckig behaupten, so läßt sich vieles zu ihrer Entschuldigung sagen, und man empfinde ja keinen Unwillen gegen sie. Derjenige aber, der anders denkt, der vorwärts will, mache sich deutlich, daß nur ein ruhiges, folgerechtes Gegenwirken die Hindernisse, die sie in den Weg legen, obgleich spät, doch endlich überwinden könne und müsse.

Usurpation

Jede Besitzergreifung, die nicht mit vollkommenem Recht geschieht, nennen wir Usurpation, deswegen in Kunst und Wissenschaft im strengen Sinne Usurpation nicht stattfindet. denn um irgendeine Wirkung hervorzubringen, ist Kraft nötig, welche jederzeit Achtung verdient. Ist aber, wie es in allem, was auf die Menschen sittlich wirkt, leicht geschehen kann, die Wirkung größer, als die Kraft verdiente: so kann demjenigen, der sie hervorbringt, weder verdacht werden, wenn er die Menschen im Wahn läßt, oder auch wohl sich selbst mehr dünkt, als er sollte.

Endlich kommt ein auf diese Weise erhaltener Ruf bei der Menge gelegentlich in Verdacht, und wenn sie sich darüber gar zuletzt aufklärt, so schilt sie auf einen solchen usurpierten Ruhm, anstatt daß sie auf sich selbst schelten sollte: denn sie ist es ja, die ihn erteilt hat.

Im Ästhetischen ist es leichter, sich Beifall und Namen zu erwerben: denn man braucht nur zu gefallen, und was gefällt nicht eine Weile? Im Wissenschaftlichen wird Zustimmung und Ruhm immer bis auf einen gewissen Grad verdient, und die eigentliche Usurpation liegt nicht in Ergreifung, sondern in Behauptung eines unrechtmäßigen Besitzes. Diese findet statt bei allen Universitäten, Akademien und Sozietäten. Man hat sich einmal zu irgendeiner Lehre bekannt, man muß sie behaupten, wenn man auch ihre Schwächen empfindet. Nun heiligt der Zweck alle Mittel, ein kluger Nepotismus weiß die Angehörigen emporzuheben. Fremdes Verdienst wird beseitigt, die Wirkung durch Verneinen, Verschweigen gelähmt. Besonders macht sich das Falsche dadurch stark, daß man es mit oder ohne Bewußtsein wiederholt, als wenn es das Wahre wäre.

Unredlichkeit und Arglist wird nun zuletzt der Hauptcharakter dieses falsch und unrecht gewordenen Besitzes. Die Gegenwirkung wird immer schwerer. Scharfsinn verläßt geistreiche Menschen nie, am wenigsten, wenn sie unrecht haben. Hier sehen wir nun oft Haß und Grimm in dem Herzen neu Strebender entstehen, es zeigen sich die heftigsten Äußerungen, deren. sich die Usurpatoren, weil das schwachgesinnte, schwankende Publikum, dem es nach tausend Unschicklichkeiten endlich einfällt, einmal für Schicklichkeit zu stimmen, dergleichen Schritte beseitigen mag, zu ihrem Vorteil und zu Befestigung des Reiches gar wohl zu bedienen wissen.