Paranoia

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Klassifikation nach ICD-10
F20.0 Paranoide Schizophrenie
F22.0 Wahnhafte Störung / Paranoia
F22.8 Sonstige wahnhafte Störung / Altersparanoia
F23.3 Paranoide Reaktion / Psychogene Psychose
F60.0 Paranoide Persönlichkeitsstörung
ICD-10 online (WHO-Version 2016)

Paranoia (griechisch παράνοια paránoia, aus παρὰ parà „wider“ und νοῦς noûs „Verstand“; wörtlich also „wider den Verstand“, „verrückt“, „wahnsinnig“) ist im engeren Sinn die Bezeichnung für eine psychische Störung, in deren Mittelpunkt Wahnbildungen stehen. Häufiger taucht der Begriff jedoch in seiner adjektivischen Form paranoid auf (siehe Infobox ICD 10), der auf Verfolgungsängste oder Verfolgungswahn hinweist. Die Betroffenen leiden an einer verzerrten Wahrnehmung ihrer Umgebung in Richtung auf eine feindselige (im Extrem bösartig verfolgende) Haltung ihrer Person gegenüber. Die Folgen reichen über ängstliches oder aggressives Misstrauen bis hin zur Überzeugung von einer Verschwörung anderer gegen sich.

Das Spektrum paranoider Reaktionen reicht von neurotischen Formen einer paranoiden Neigung bis zu schweren psychotischen Ausprägungen. Die neurotische paranoide Persönlichkeit ist durch übertriebene Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung, besondere Kränkbarkeit sowie Misstrauen gekennzeichnet. Sie neigt dazu, neutrale oder freundliche Handlungen anderer als feindlich oder verächtlich zu interpretieren (paranoide Persönlichkeitsstörung). Häufig werden wiederkehrende und unberechtigte Verdächtigungen hinsichtlich der sexuellen Treue des Ehegatten oder Sexualpartners (Eifersuchtswahn) und streitsüchtiges Bestehen auf eigenen Rechten gefunden. Betroffene neigen andererseits zu übertriebener Selbstbezogenheit (ICD-10).

Überblick

Paranoide Symptome sind sehr vielfältig und gesellen sich vielen Grunderkrankungen bei, darunter Neurosen, Psychosen, wie der Schizophrenie, vielen Persönlichkeitsstörungen und einigen degenerativen Erkrankungen. Die Verlaufsformen sind hier jeweils unterschiedlich. Sie zählen auch zur Symptomatik von Menschen, die lange unter echter oder gefühlter Verfolgung leiden mussten, aber nicht eigentlich psychotisch oder persönlichkeitsgestört sind. Paranoide Symptome können auch als Folge von anderen auslösenden Momenten wie somatischen Agenzien (Wirkstoffen), neurologischen und/oder psychiatrischen Erkrankungen auftreten. Beispiele sind:

Auswirkungen

Der Patient hat das Gefühl, verfolgt zu werden, und entwickelt Verschwörungstheorien. Ein paranoider Mensch glaubt oft, dass andere beabsichtigen, ihn zu schädigen, zu betrügen oder auch zu töten. Oft kann er dafür auch „Beweise“ präsentieren, die für ihn völlig überzeugend scheinen, für Außenstehende dagegen überhaupt nichts besagen. Diese Überzeugungen sind wahnhaft. Der Patient ist durch nichts von ihnen abzubringen, rationale Argumente und Überzeugungsversuche von Außenstehenden haben keinen Erfolg und sind vielmehr kontraproduktiv, da sie das Misstrauen der paranoiden Person nur noch verstärken.

Sofern Paranoia nicht als eigenständiges, sondern als akzessorisches Symptom einer Grunderkrankung erscheint, wie etwa bei paranoider Schizophrenie oder der Bipolaren Störung, kann sie nur im Kontext dieser Erkrankung therapiert werden. Prinzipiell können Psychotherapie, medikamentöse Behandlungen oder sogar Operationen (z. B. bei Hirntumoren) notwendig werden.

Das Objekt des Verfolgungswahns ist von Fall zu Fall sehr verschieden. Manchmal wird beispielsweise der Geheimdienst des jeweiligen Landes hinter der Verfolgung vermutet. Die Methoden etwa der Überwachung im wahnhaften Szenario passen sich dabei tendenziell dem jeweils aktuellen Stand der Technik an. Bei Systemwechseln (z. B. nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Wiedervereinigung Deutschlands) wechselt oft auch der vermeintliche Verfolger (z. B. StasiBND). Hierin zeigt sich, dass der Verfolgungswahn vor allem in einer Veränderung der Denkvorgänge besteht, während die Denkinhalte variieren können.

Wiederum kann auch organisiertes Handeln wahnhafte Züge annehmen, indem unmäßige Handlungen als unvermeidlich zur Abwehr von möglichen Gefahren konstruiert werden.[1][2][3]

Begriffsgeschichte

Der Begriff Paranoia ist bereits seit der Antike gebräuchlich als allgemeiner Begriff für Geistesstörungen. J.C.A. Heinroth (1773–1843) verwendet 1818 den Begriff ebenfalls und versucht ihn moralphilosophisch als „Unfreyheit des Geistes“ zu definieren, der mit Überspannung (Exaltation) einhergehe, bei dem aber die „Sinnesempfindung“ ungestört sei.[4][5][6] Ludwig Snell (1817–1892) berichtete 1865 über Paranoia im Zusammenhang mit Monomanie, „wobei die Gesamtheit des geistigen Lebens überwiegend intakt bleibt“.[7][5] Erst Emil Kraepelin definierte 1893 mit der 4. Auflage seines Lehrbuchs: „Als Verrücktheit bezeichnen wir die chronische Entwicklung eines dauernden Wahnsystems bei vollkommener Erhaltung der Besonnenheit.“ Damit konnte für Kurt Schneider 1949 die Paranoia in der Schizophrenie aufgehen bzw. in der Endogenität.[5]

Der klinische Begriff Paranoia bezieht sich seit Ludwig Snell häufig auf eine multiple Wahnthematik, der auch andere Merkmale beigesellt sein können wie Fanatismus, oder schweres Querulantentum. Diese Psychose zeichnet sich auch „durch die Entwicklung eines einzelnen Wahns oder mehrerer aufeinander bezogener Wahninhalte aus, die im Allgemeinen lange, manchmal lebenslang, andauern; der Inhalt des Wahns oder des Wahnsystems ist sehr unterschiedlich“. Schließlich ist die gravierendste Form, die paranoide Schizophrenie, „durch beständige, häufig paranoide Wahnvorstellungen gekennzeichnet, meist begleitet von akustischen Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen; Störungen der Stimmung, des Antriebs und der Sprache, katatone Symptome [hingegen] fehlen entweder oder sind wenig auffallend“. Bemerkenswerterweise bleiben die kognitiven Fähigkeiten der paranoiden Person erhalten, mit Ausnahme der verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung in Bezug auf den Wahntopos. Paranoia als wahnhafte Störung ist wesentlich durch die Präsenz „nicht-bizarrer“ Wahnvorstellungen charakterisiert, die mindestens einen Monat anhalten (DSM-IV-TR). Im Gegensatz zu bizarren könnten diese Befürchtungen im Prinzip real sein, sind es aber regelmäßig nicht. Eine unter wahnhafter Störung leidende Person wurde früher oft „Paranoiker“ genannt.

Primär werden heute fünf Formen unterschieden: In der grandiosen, selbst-überwertigen Richtung sind dies Erotomanie (Liebeswahn) und Größenwahn. Demgegenüber stehen Eifersuchtswahn (pathologische Eifersucht), Verfolgungswahn und somatischer Wahn (Hypochondrie); daneben gibt es eine Mischvariante und einen unspezifischen Typ.[8] Paranoia kann eine eigenständige Pathologie oder auch Symptom anderer Krankheiten sein (z. B. Bipolare Störung, Altersdemenz oder organische Hirnschäden, Delirium tremens).

Paranoia als individualpathologisches, psychiatrisches Syndrom ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gut erforscht worden. Wegweisend war vor allem die Arbeit des deutschen Psychiaters Emil Kraepelin (1856–1926), dessen Lehrbuch der Psychiatrie in der Ausgabe von 1899 die psychotische Ausprägung definierte als „die aus inneren Ursachen erfolgende, schleichende Entwicklung eines dauernden, unerschütterlichen Wahnsystems, das mit vollkommener Erhaltung der Klarheit und Ordnung im Denken, Wollen und Handeln einhergeht“. Auch Sigmund Freud beschäftigte sich mit der Paranoia. Früher wurden mit Paranoia eine allgemeine Geistesstörung oder die Paraphrenie (paranoide Verlaufsform der Schizophrenie) bezeichnet. Der Begriff der Paraphrenie wird heute noch von der Leonhardschen Klassifikation verwendet, in der er eine der drei systematischen Schizophrenien bezeichnet.

Max Wertheimer, der Begründer der Gestalttheorie, hat mit dem deutschen Psychiater Heinrich Schulte ein sozialpsychologisches Modell zum Verständnis der Paranoia vorgeschlagen: Demzufolge wäre die Paranoia als Sonderform des Beziehungswahns zu verstehen – ein Mensch, dem es nicht gelingt, Teil eines Wir zu sein und der diese Kluft zwischen sich und den anderen nicht ertragen kann, schlägt eine Brücke zu den anderen, indem er sich mit ihnen zumindest in einem „Ersatz-Wir“ von Verfolgern und Verfolgtem verbunden sieht. Dementsprechend wird die Chance auf Heilung auch primär in der Wiederherstellung guter sozialer Beziehungen gesehen. Hierbei handelt es sich allerdings nur um eines der vielen Modelle, die zum Begriff der „Paranoia“ entwickelt wurden.

Umgangssprachliche und literarische Verwendungen des Begriffs

Trotz der Ernsthaftigkeit von paranoiden Wahrnehmungsstörungen und den oft verheerenden Folgen für die Betroffenen vor allem im sozialen Zusammenleben hält insbesondere der Aspekt des Verfolgungswahns oft als „komisches“ Szenario für Fernsehserien, Verschwörungstheorien oder Spiele her. So gibt es zum Beispiel ein satirisches Pen-&-Paper-Rollenspiel namens Paranoia. Auch in der Literatur findet das Thema sehr oft Platz. Andy Grove, Mitbegründer von Intel, nannte seine geschäftliche Autobiographie Only the paranoid survive (deutsch: Nur die Paranoiden überleben). Bekannt ist auch das Zitat „Just because you’re paranoid doesn’t mean they’re not after you“ (deutsch: „Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.“) Es wird in unterschiedlichen Formulierungen unter anderem Joseph Heller (Catch-22) und Henry Kissinger zugeschrieben und von Kurt Cobain (Territorial Pissings) und Terry Pratchett (Strata) aufgegriffen.

Siehe auch

Literatur

  • Joseph H. Berke, Stella Pierides, Andrea Sabbadini, Stanley Schneider (Hrsg.): Even Paranoids Have Enemies. New Perspectives on Paranoia and Persecution. Routledge, London 1998.
  • Sigmund Freud: Remarques psychanalytiques sur l’autobiographie d’un cas de paranoïa (dementia paranoïdes). Le président Schreber, 1911, G. W. VIII. In: Cinq psychanalyses. 20e édition. PUF, Paris 1997, S. 263–324.
  • Quentin Debray: L’Idéalisme passionné. PUF, Paris 1989, ISBN 2-13-042160-1
  • Farrell John: Paranoia and Modernity: Cervantes to Rousseau. Cornell University Press, Ithaca NY 2006.
  • Jacques Lacan; De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité. Editions du Seuil, Paris 1975 (1932).
  • Heinrich Schulte, Max Wertheimer: Versuch einer Theorie der paranoischen Eigenbeziehung und Wahnbildung. In: Psychologische Forschung, Jg. 5, 1924, Nr. 1, S. 1–23.
  • P. Serieux, J. Capgras: Les folies raisonnantes. Les délires d’interprétations. Alcan, Paris 1902.
  • P. Serieux, J. Capgras: Délires systématisés choniques. Traité de Sergent. In: Psychiatrie, t. 1. Maloine, Paris 1926.
  • Sigmund Freud: Communication d’un cas de paranoïa en contradiction avec la théorie psychanalytique (1915), traduit par D. Guérineau. In: S. Freud: Névrose, Psychose et perversion. 12e édition. PUF, 2002, S. 209–218.
  • A. Sims, A. White, Coexistence of the Capgras and De Clerambault syndromes a case report. In: British Journal of Psychiatry, 1973, 123, S. 653–657.
  • Ernst Kretschmer: Paranoïa et sensibilité, Imago Mundi. G. Monfort éditeur, 1918, 293 S.
  • J. Lacan: Séminaire, Livre III, Les psychoses (1955–1956). Seuil, Paris 1981
  • Alistair Munro: Delusional Disorder. Paranoia and Related Illnesses. Cambridge University Press, Cambridge 1999.
  • David W. Swanson, Philip J. Bohnert, Jackson A. Smith: The Paranoid. Little, Brown and Company, Boston 1970.

Hochschularbeiten (online, kostenfrei)

  • Fabian Lamster: Paranoia – Entstehungsprozesse und Auswege. Die Rolle von Einsamkeit und sozialkognitiven Mechanismen sowie eine Behandlungskonzeptualisierung zur Therapie paranoiden Wahns. Marburg 2016, DNB 1116604221 (Dissertation Universität Marburg 2016, Betreuer: Stephanie Mehl Volltext online PDF, kostenfrei )-
  • Maike M. Hartmann: Einfluss von Stress- und Risikofaktoren auf paranoide Symptome bei Personen mit unterschiedlicher Vulnerabilität. Hamburg, 2014 DNB 1059859807 (Dissertation Universität Hamburg 2014, Betreuer: Tania Lincoln Volltext online PDF, kostenfrei zugänglich).

Weblinks

 Wiktionary: Paranoia – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Adam Banner: The NSA and Verizon: Paranoid Delusions or an Assault on Your Rights? The Huffington Post, 10. Juni 2013.
  2. John Ericson: NSA PRISM Program May Benefit The Clinically Paranoid As They Find Out Others Are Being Watched Too. Medicaldaily.com, 1. Juli 2013.
  3. James Turnage: NSA Paranoia Invades the World’s Privacy? Guardian express, 30. Juni 2013.
  4. Johann Christian August Heinroth: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder die Störungen und ihrer Behandlung. Vogel, Leipzig 1818.
  5. 5,0 5,1 5,2 Uwe Peters: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. 6. Auflage. Urban & Fischer, München 2007, ISBN 978-3-437-15061-6, S. 387, books.google.de.
  6. Erwin H. Ackerknecht: Kurze Geschichte der Psychiatrie. 3. Auflage. Enke, Stuttgart 1985, ISBN 3-432-80043-6, S. 60.
  7. Ludwig Snell: Über Monomanie als primäre Form der Seelenstörung. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 22, 1865, S. 368–381. Bei Google-Bücher.
  8. WHO: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4. Ausgabe Text Revision 2000 (DSM-IV-TR) und in der von der WHO herausgegebenen International Statistical Classification of Diseases, 10. Ausgabe 1992 (ICD-10).
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