Tat Tvam Asi

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Tat Tvam Asi (Sanskrit: तत् त्वम् असि oder तत्त्वमसि; "Das bist Du") ist eines der großen Worte der indischen Vedantaphilosophie und verweist auf die ursprüngliche Identität des eigenen Selbst mit dem Urgrund des Daseins, von Atma und Brahman, wie sie im Zustand der Erleuchtung (Moksha) in der mystischen Vereinigung erfahren werden kann. Erstmals erwähnt wird das Tat Tvam Asi im Dialog zwischen Uddalaka und seinem Sohn Shvetaketu im Chandogya Upanishad 6.8.7.:

1. Uddalaka Aruni sprach zu seinem Sohne Shvetaketu: „Lass dir von mir, o Teurer, den Zustand des Schlafes erklären. Wenn es heißt, dass der Mensch schlafe, dann ist er mit dem Seienden, o Teurer, zur Vereinigung gelangt. Zu sich selbst ist er eingegangen, darum sagt man von ihm „er schläft“ (svapiti), denn zu sich selbst eingegangen (svam apita) ist er. –

2. Gleichwie ein Vogel, der an einen Faden gebunden wurde, nach dieser und jener Seite fliegt, und nachdem er anderweit einen Stützpunkt nicht gefunden, sich an der Bindungsstelle niederlässt, so auch, o Teurer, fliegt das Manas nach dieser und jener Seite, und nachdem es anderweit einen Stützpunkt nicht gefunden, so lässt es sich in dem Prana nieder, denn der Prana , o Teurer, ist die Bindungsstelle des Manas.

3. Lass dir von mir, o Teurer, den Hunger und den Durst erklären. Wenn es heißt, ein Mensch hungert, so kommt das, weil die Wasser das von ihm Gegessene hinwegführen (ashitam nayante). Und wie man von einem Kuhführer, Rossführer, Menschenführer spricht, so bezeichnet man dann die Wasser als „Nahrungsführer“ (ashanaya der Hunger, spielend zerlegt in asha-naya). Hierbei (beim Hinwegführen der Nahrung durch die Wasser zum Aufbau des Leibes) erkenne dieses (d. h. diesen Leib), o Teurer, als den daraus entsprungenen Schössling (als die Wirkung): derselbe wird nicht ohne Wurzel (Ursache) sein;

4. aber wo anders könnte dessen Wurzel sein als in der Nahrung? Und in derselben Weise, o Teurer, gehe von der Nahrung als Schössling zurück zu dem Wasser als Wurzel, von dem Wasser, o Teurer, als Schössling gehe zurück zu der Glut als Wurzel, von der Glut, o Teurer, als Schössling gehe zurück zu dem Seienden als Wurzel; das Seiende, o Teurer, haben alle diese Geschöpfe als Wurzel, das Seiende als Stützpunkt, das Seiende als Grundlage.

5. Ferner, wenn es heißt, ein Mensch dürstet, so kommt das, weil die Glut das von ihm Getrunkene hinwegführt. Und wie man von einem Kuhführer, Rossführer, Menschenführer spricht, so bezeichnet man dann die Glut als „Wasserführer“ (udanya der Durst, zerlegt in uda-nya). Hierbei (bei Hinwegführen des Wassers durch die Glut zum Aufbau des Leibes) erkenne dieses (diesen Leib), o Teurer, als den daraus entsprungenen Schössling (als die Wirkung); derselbe wird nicht ohne Wurzel (Ursache) sein;

6. aber wo anders könnte dessen Wurzel sein als in dem Wasser? Von dem Wasser, o Teurer, als Schössling gehe zurück zu der Glut als Wurzel, von der Glut, o Teurer, als Schössling gehe zurück zu dem Seienden als Wurzel; das Seiende, o Teurer, haben alle diese Geschöpfe als Wurzel, das Seiende als Stützpunkt, das Seiende als Grundlage.

Wie aber, o Teurer, von diesen drei Gottheiten, wenn sie in den Menschen gelangen, jede einzelne dreifach wird, das ist vorher auseinandergesetzt worden.

Bei diesem Menschen, o Teurer, wenn er dahinscheidet, geht die Rede ein in das Manas , das Manas in den Prana , der Prana in die Glut, die Glut in die höchste Gottheit. – Was jene Feinheit (Unerkennbarkeit) ist,

7. ein Bestehen aus dem ist dieses Weltall, das ist das Reale, das ist die Seele, das bist du, o Shvetaketu!“ - „Noch weiter, o Ehrwürdiger, belehre mich!“ sprach er. – „So sei es“, sprach er. (Lit.: Deussen)

In den feinen Details wird das Tat Tvam Asi von den drei großen Schulen des Vedanta unterschiedlich interpretiert. Nach der Schule des Advaita-Vedanta bedeutet es die Identität des eigenen Selbst mit Brahman, während man im Vishishtadvaita davon ausgeht, dass des Selbst nur ein Teil des umfassenden Seins ist. Die Schule des Dvaita-Vedanta behauptet sogar, dass die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes 'Atat Tvam Asi' - "Das bist nicht Du" - gewesen sei.

Rudolf Steiner gab dazu folgende Erläuterungen:

"In der indischen Vedantaphilosophie wird besonders geübt ein Spruch, den sich die Mystiker immer wieder und wieder sagten. Dieser Spruch wird in den entsprechenden Sprachen überall geübt, und dieser Spruch heißt: Das bist du. - Wenn der Mystiker sich das immer und immer wieder sagt, so meint er damit, daß der Mensch wahrhaft nicht bloß das ist, was in seiner Haut physisch eingeschlossen ist. Der Mensch könnte nicht als Einzelwesen im Universum bestehen; er hängt zusammen mit Kräften und Daseinsstufen, die außerhalb seines physischen Leibes liegen, so daß, wo er auch hinsieht, eine Wirklichkeit ist, zu der er gehört. Und wie er selbst von dieser Wirklichkeit abgegliedert ist, so ist jeder andere Mensch von dieser Wirklichkeit abgegliedert. Da erlebt der Mensch, daß er im Grunde genommen nichts anderes ist als ein Blatt von einem großen Baume. Und dieser Baum bedeutet die Menschheit. Wie das eine Blatt verdorrt, wenn es vom Baume abfällt, so müßte der einzelne Mensch zugrunde gehen, wenn er sich trennen wollte von dem Baume der Menschheit. Aber das kann er ja nicht! Der physische Mensch weiß das nur nicht; auf dieser Ebene wird es ihm aber Wirklichkeit." (Lit.: GA 053, S. 157)

"Der Inder empfand: Ich stehe hier auf der Erde; ich als Mensch habe mich entwickelt durch lange, lange Zeiträume hindurch von dem ersten menschlichen Wesenskeim des alten Saturn bis herein zur Erdenzeit. Ich mußte in die dichte physische Materie heruntersteigen, um innerhalb dieser mir das Selbstbewußtsein zu erobern. Indem ich zu mir selber spreche, spreche ich von mir als einer Ich-Wesenheit. Ich war ein Genosse all der geistigen Wesenheiten, die da um mich herum sichtbar sind für den schauenden Blick von der ätherischen Welt aufwärts. Aus denen bin ich herausgewachsen nach unten und habe mich entsprechend verdichtet. Es finden sich alle, alle Vollkommenheiten der Menschen in diesen Welten, in die ich dahineinblicke; und nicht nur die, welche die Menschen haben; es finden sich dort auch Vollkommenheiten und Eigenschaften, welche die Menschen sich erst erringen müssen. Aber eines kann keine Wesenheit sich erringen, die nicht heruntersteigt zum physischen Plan. Es gibt ja noch andere hohe Vollkommenheiten im Weltenall, als die Erinnerung gerade eines menschlichen Bewußtseins; es gibt andere Arten des Bewußtseins. Um aber jene Eigenartigkeit des Bewußtseins zu entwickeln, die der Mensch auf der Erde entwickelt, dazu muß ein Wesen auf diese Erde heruntersteigen und durch eine Anzahl von Inkarnationen in dichter Materie verkörpert werden. Mögen daher, so sagte sich das indische Bewußtsein, diese geistigen Wesenheiten, in deren Welt ich hineinschaue, unendlich höhere Vollkommenheiten haben als die Menschen, die auf der Erde stehen: eines haben sie nicht in ihrer Welt, denn dazu war die Erdenwelt da, um es einer Wesensart, dem Menschen, zu geben; eines haben sie nicht: das menschliche Ich-Bewußtsein. So zu sich «Ich» zu sagen, wie es der Mensch tut, das ist nicht heimisch in diesen Welten, in die ich da hineinsehe. Ich bin selbst aus dieser Welt heraus; es lebt alles, was in dieser geistigen Welt da draußen lebt, auch in mir, nur summiert es sich in mir zu meinem menschlichen Ich-Bewußtsein. Daher hat es keinen Sinn, zu sagen: Da draußen in der geistigen Welt sei ein menschliches Ich-Bewußtsein. Das Wort Ich im menschlichen Sinne anzuwenden auf das, was da in diesen Welten ist, das hat keine Bedeutung, keinen Inhalt. Es kann nur ein Wort, welches ausschließt dieses Ich, angewendet werden auf all das, was sich geistig ausbreitet in der Umwelt, ein Wort, das von diesem Ich nicht berührt wird, welches man so gebraucht, daß man sagen kann: In dieser Welt ist alles, was in mir ist, aber ich darf das, was da draußen ist, nicht mit meinem Ich bezeichnen; ich muß es mit einem Wort bezeichnen, welches das Ich ausschließt.

Und das indische Bewußtsein nannte das, was da draußen sich ausbreitet, das «Tat», das «Das», im Gegensatz zum «Ich». Und um auszudrücken, daß der Mensch von derselben Wesensart ist, wie dieses «Tat», wie dieses «Jenes», wie dieses «Es» - daß er nur durch sein Heruntersteigen auf die Erde sich bis zum Ich entwickelt hat -, sprach er dieses Urteil aus: Ich bin dieses «Tat» - Du bist es [Tat twam asi]. Das da draußen, das bist du selbst. - So hat der Mensch seine Beziehung zur geistigen Umwelt, zu dieser schauenden Durchdringung unserer Welt im höchsten Sinne zusammengefaßt in die Worte: Es ist, aber das da draußen, das bist du selbst.

Aber es wußte diese alte indische Seele zu gleicher Zeit, daß dieselbe Wesenheit, die sich draußen ausbreitet, und die sie als «Tat» bezeichnete, auffindbar ist, wenn man in das eigene Innere hineinschaut, daß sie nur das eine Mal von außen, das andere Mal durch das Innere erscheint. Steige ich also in meine Seele hinunter, so finde ich dieselbe ursprungsgeistige Wesenheit, die ich draußen als «Tat» bezeichne. Dann aber stelle ich mich zu dem, was da drinnen in mir lebt als mein Urgrund, der verschleiert wird durch das physische Seelenleben, in richtige Beziehung, wenn ich das Urteil jetzt anders ausspreche, wenn ich sage statt: Das bist du selbst - Ich bin Brahman, Ich bin das All [Aham brahma asmi]. - Und die beiden Urteile: Das Es bin Ich und Ich bin das All, sagten im Grunde genommen, wenn man, sie zusammenstellte: Schaue ich hinaus in die Welt des «Tat», so finde ich eine geistige Welt; tauche ich unter in mein eigenes Seelenerlebnis, so finde ich eine geistige Welt; und die beiden sind eins. - Das war die Grundempfindung in der ersten Epoche der nachatlantischen Geisteskultur. Ganz einheitlich empfand man die beiden Geisteswelten." (Lit.: GA 113, S. 110ff)

Literatur

  1. Paul Deussen: Sechzig Upanishads des Veda, F.A. Brockhaus, Leipzig, 1897
  2. Rudolf Steiner: Ursprung und Ziel des Menschen, GA 53 (1981), ISBN 3-7274-0532-5 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  3. Rudolf Steiner: Der Orient im Lichte des Okzidents, GA 113 (1982), ISBN 3-7274-1130-9 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

  1. Die Chandogya Upanishad - aus „Sechzig Upanishads des Veda“ von Paul Deussen, Leipzig 1897
  2. Die Chândogya-Upanishad des Sâmaveda - Übersetzung von Paul Deussen (Kiel 1897/19052)
  3. Chandogya Upanishad - Translation by Swami Nikhilananda (englisch)