Anschauung

Aus AnthroWiki
Version vom 2. April 2013, 01:35 Uhr von imported>Odyssee

Anschauung ist ein erkenntnistheoretischer Begriff, der in seiner heutigen Verwendung meist auf Immanuel Kant bezogen ist. Mit ihm wird auf den sinnlich-rezeptiven Anteil in der Erkenntnis Bezug genommen. Der Begriff wurde allerdings auch schon vor Kant in der Philosophie verwendet, etwa bei Notker (althochdeutsch anascouunga) und Meister Eckhart (mittelhochdeutsch anschauunge), bei denen der Begriff primär eine religiöse Bedeutung hatte. In der heutigen Erkenntnistheorie werden jedoch meist die verwandten Begriffe „Wahrnehmung“ und „Erfahrung“ verwendet.

Kants in der Kritik der reinen Vernunft entwickelte Erkenntnistheorie unterscheidet zwischen empirischen Anschauungen, die uns durch Sinnesorgane gegeben werden, und reinen Anschauungen, die a priori vor jeder Erfahrung gegeben sind. Die beiden von Kant angenommenen reinen Anschauungen sind Raum und Zeit. Reine Anschauungen als solche sind frei von jeglicher sinnlichen Wahrnehmung, können aber auf sinnliche Wahrnehmungen bezogen werden. Eine Anschauung im Sinne Kants ist rein, „wenn der Vorstellung keine Empfindung beigemischt ist“ (KrV B 74).

Kant geht zudem davon aus, dass jede Erkenntnis auf das Zusammenspiel von Anschauungen und Begriffen angewiesen ist. „Das Mannigfaltige“, das in der Anschauung gegeben werde, brauche einer begrifflichen Ordnung, um zu Erkenntnis führen zu können. Andererseits bräuchten Begriffe Anschauungen, um nicht vollkommen leer zu sein. Begriffsverwendungen ohne Anschauungsmaterial führten zu den sinnlosen Spekulationen der traditionellen Metaphysik, die Kant in der transzendentalen Dialektik widerlegen möchte. Dennoch ist nach Kant reine apriorische Erkenntnis im Wechselspiel von reinen Anschauungen und reinen Begriffen möglich.

„Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. B75, A51

Eine unmittelbare intellektuellen Anschauung, einen intellectus archetypus, als Ausdruck der göttlichen Vernunft, hatte Kant zwar grundsätzlich für möglich gehalten, dem Menschen hatte er ein derartiges Vermögen kategorisch abgesprochen. Dem widersprach schon Goethe energisch:

"Als ich die Kantische Lehre, wo nicht zu durchdringen, doch möglichst zu nutzen suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre schalkhaft ironisch, in dem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete. Er mochte freilich bemerkt haben, wie anmaßend und naseweis der Mensch verfährt, wenn er behaglich, mit wenigen Erfahrungen ausgerüstet, sogleich unbesonnen abspricht und voreilig etwas festzusetzen, eine Grille, die ihm durchs Gehirn läuft, den Gegenständen aufzuheben trachtet. Deswegen beschränkt unser Meister seinen Denkenden auf eine reflektierende diskursive Urteilskraft, untersagt ihm eine bestimmende ganz und gar. Sodann aber, nachdem er uns genugsam in die Enge getrieben, ja zur Verzweiflung gebracht, entschließt er sich zu den liberalsten Äußerungen und überläßt uns, welchen Gebrauch wir von der Freiheit machen wollen, die er einigermaßen zugesteht. In diesem Sinne war mir folgende Stelle höchst bedeutend:

«Wir können uns einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besondern geht, das ist, von dem Ganzen zu den Teilen: Hierbei ist gar nicht nötig zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee eines intellectus archetypus geführt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte.»

Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen: so dürft' es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen." (Goethe: Anschauende Urteilskraft)

Im geisteswissenschaftlichen Sinn muss man von höheren, übersinnlichen Anschauungsformen sprechen, etwa von der imaginativen Anschauung.

"Es ist ja so, daß, wenn der Mensch mit seinem physischen Auge hinschaut, seine andern physischen Sinne in Regsamkeit hat und aufmerksam wird auf dasjenige, was in seiner Weltumgebung ist, er da wahrnimmt die physische Atmosphäre der Erde, in ihr eingebettet die Wesenheitender verschiedenen Reiche, innerhalb dieses ganzenMilieus sich zutragend alles dasjenige, was in Wind und Wetter im Laufe der Jahreserscheinungen vor sich geht. Daß also der Mensch das alles vor sich hat, das ist der äußere Tatsachenbestand, wenn der Mensch seine Sinne der Außenwelt exponiert.

Aber hinter der Atmosphäre, hinter der sonnendurchleuchteten Atmosphäre liegt, wahrnehmbar für dasjenige, was man Geistorgane nennen kann, eben eine andere Welt, man darf sagen eine gegenüber der Sinnenwelt höhere Welt, eine Welt, in der auch in einer Art Licht, in einer Art geistigen Lichtes, in einer Art Astrallichtes, geistig Wesenhaftes und geistige Tatsachen erglänzen und sich abspielen, die wahrhaftig für das Gesamtwerden der Welt und des Menschen nicht weniger bedeutsam sind als dasjenige, was in der äußeren Atmosphäre auf der äußeren Erdoberfläche geschichtlich sich abspielt." (Lit.: GA 229, S. 9f)

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Das Miterleben des Jahreslaufes in vier kosmischen Imaginationen, GA 229 (1999), ISBN 3-7274-2290-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks


Dieser Artikel basiert (teilweise) auf dem Artikel Anschauung aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Lizenz Creative Commons Attribution/Share Alike. In Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.