Bekenntnis von Nicäa und Bernhard von Chartres: Unterschied zwischen den Seiten

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[[Bild:Nicaea icon.jpg|thumb|Ikone: Erstes Konzil von Nicäa. Kaiser [[Wikipedia:Konstantin der Große|Konstantin]] entrollt den Text der ersten Hälfte des Nicänischen Glaubensbekenntnis]]
'''Bernhard von Chartres''' († nach [[Wikipedia:1124|1124]]) war ein Gelehrter und stark vom [[Platonismus]] geprägter Philosoph der [[Scholastik|frühscholastischen]] Zeit.


Das '''Bekenntnis von Nicäa''' wurde vom [[erstes Konzil von Nicäa|ersten Konzil von Nicäa]] 325, dem ersten [[Wikipedia:ökumenisches Konzil|ökumenischen Konzil]] herausgegeben.
== Biographische Daten ==


Es ist nicht zu verwechseln mit dem bekannteren und nahe verwandten [[Nicäno-Konstantinopolitanum]], dem Bekenntnis des [[Erstes Konzil von Konstantinopel|ersten Konzils von Konstantinopel]], das ebenfalls oft als ''Nicäisches Glaubensbekenntnis'' oder ''Nizänisches Glaubensbekenntnis'' bezeichnet wird. Im Gegensatz zu diesem wird das hier beschriebene Bekenntnis auch von allen [[Wikipedia:altorientalische Kirchen|alt-orientalischen Kirchen]] anerkannt und ist somit das meistanerkannte [[Glaubensbekenntnis]] im [[Christentum]].
Aus Bernhards Leben ist nur wenig bekannt. Lange nahm man an, dass er ein Bruder des [[Thierry von Chartres]] war und ebenso wie dieser aus der [[Wikipedia:Bretagne|Bretagne]] stammte. Neuerdings ist die Forschung aber von dieser Meinung abgerückt.<ref>Dutton S. 40-42.</ref> Jedenfalls taucht er erstmals 1108 in der Zeugenliste einer Urkunde aus [[Wikipedia:Chartres|Chartres]] als [[Wikipedia:Subdiakon|Subdiakon]] auf; als Kleriker blieb er bis zu seinem Lebensende bei diesem bescheidenen Weihegrad. Ab ca. 1110/1115 nannte er sich ''magister'' (Lehrer), unterrichtete also an der [[Schule von Chartres]]. Spätestens 1124 stieg er zum Kanzler auf; in diesem Jahr ist er letztmals als lebend bezeugt. Seine Bibliothek vermachte er der Kathedrale.<ref>Zu den Daten siehe Dutton S. 25-44, 239f.</ref>


== Geschichtlicher Hintergrund ==
== Lehrtätigkeit ==
Mit dem Bekenntnis zur Wesenseinheit von Christus und dem Vater bezog das erste nicht-lokale Konzil der Kirchengeschichte Stellung gegen den [[Arianismus]], dessen Lehre auf dem Konzil von [[Wikipedia:Nicäa|Nicäa]] (Nicäa entspricht dem heutigen [[Wikipedia:İznik|İznik]]/Türkei) abgelehnt wurde.


In der Folge wurde das Bekenntnis von Nicäa oft als ''der Glaube der 318 heiligen Väter'' (318 Bischöfe, die am [[Erstes Konzil von Nicäa|ersten Konzil von Nicäa]] teilgenommen haben sollen nach der Anzahl der Knechte mit denen [[Abraham]] in [[Wikipedia:1. Buch Mose|Genesis]] 14,14 auszieht) bezeichnet – sowohl die wörtliche Form, als auch verschiedene orthodoxe Glaubensbekenntnisse, die nach dem Prinzip von Nicäa formuliert wurden (z.&nbsp;B. das [[Nicäno-Konstantinopolitanum]]).
Seine kulturhistorische Bedeutung liegt vor allem in seiner Lehrtätigkeit, die ihm hohes Ansehen verschaffte. Einige der führenden Persönlichkeiten im Kulturleben der Epoche, darunter [[Wikipedia:Guillaume de Conches|Wilhelm von Conches]] und [[Wikipedia:Gilbert von Poitiers|Gilbert von Poitiers]], waren seine Schüler und empfingen von ihm prägende Eindrücke. [[John of Salisbury|Johannes von Salisbury]], der bereits der Enkelgeneration angehörte, hat Bernhard nicht mehr persönlich erlebt, sondern bei dessen Schülern studiert. Er war aber von Bernhards überragender Bildung und Unterrichtsmethode begeistert und bezeichnete ihn als größten Platoniker seiner Zeit.<ref>Die Quellenzeugnisse sind zusammengestellt bei Dutton S. 241-248.</ref> Daran lässt sich die Nachhaltigkeit von Bernhards Wirken ermessen. So hat Bernhard bei der Herausbildung der Eigenart der berühmten sogenannten „Schule von Chartres“ eine Schlüsselrolle gespielt. Mit diesem Begriff bezeichnet man eine insbesondere von Gelehrten der Domschule von Chartres vertretene philosophische und theologische Richtung, die das platonische Gedankengut pflegte und bestrebt war, besonders in der [[Kosmologie]] platonische mit biblischen Vorstellungen in Übereinstimmung zu bringen. Bernhard hat die Blütezeit dieser Strömung vorbereitet. Berühmt ist sein Ausspruch, dass er und seine Zeitgenossen Zwerge seien, die auf den Schultern von Riesen (den antiken Gelehrten) sitzen und diese dadurch an Weitblick überragen, obwohl ihre Eigenleistung vergleichsweise gering ist (siehe [[Wikipedia:Auf den Schultern von Giganten|Auf den Schultern von Giganten]]). Das war seine Stellungnahme zur Frage des Verhältnisses zwischen ''antiqui'' und ''moderni'', zwischen antiker und mittelalterlicher Wissenschaft und Bildung. Darin zeigt sich die typische Haltung der Gelehrten von Chartres, die die nichtchristlichen Schriften der Antike eifrig studierten und sie trotz des religiösen Gegensatzes unbefangen zu würdigen wussten. Wegen dieses Verhältnisses zur Antike taucht in der Forschung öfters der (allerdings sehr umstrittene) Begriff einer „Renaissance des 12. Jahrhunderts“ auf.<ref>Speer S. 6-8, 76-79.</ref>


Auf dem [[Konzil von Ephesos]] im Jahre [[Wikipedia:431|431]] wurde dann das wörtliche Glaubenbekenntnis von Nicäa ausdrücklich bestätigt und erklärt, dass es nicht verändert werden dürfe.
Neben der platonischen Naturphilosophie bildete der Grammatikunterricht einen weiteren Schwerpunkt von Bernhards Tätigkeit. Er betrachtete eine gründliche Grammatikausbildung anhand der antiken Werke als Voraussetzung für jedes Studium. Den Lernenden empfahl er sechs Grundsätze: demütigen Geist, Eifer im Fragen, ruhiges Leben, schweigsame Untersuchung, äußere Bedürfnislosigkeit und Aufenthalt fern von der Heimat. Als idealen Lehrer betrachtete er einen, „der es liebt, so zu lehren, dass er vollkommen verstanden wird“. Darin zeigt sich das Gewicht, das er auf die Didaktik legte.<ref>Dutton S. 57; Speer S. 83-85.</ref>


== Text ==
== Philosophie ==
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In der [[Wikipedia:Naturphilosophie|Naturphilosophie]] verzichtete Bernhard darauf, sich wie damals üblich auf theologische Autoritäten zu verlassen und die [[Wikipedia:Heilsgeschichte|heilsgeschichtliche]] Perspektive des Christentums ins Spiel zu bringen. Hinsichtlich des Wahrheitsgehalts philosophischer Aussagen über den Kosmos vertrat er einen [[Skeptizismus|skeptischen]] Standpunkt, indem er nur Wahrscheinlichkeitsaussagen akzeptierte.
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:Wir glauben an einen Gott,
:den Vater, den Allmächtigen,
:den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren.  


:Und an den einen Herrn Jesus Christus,
Eine wesentliche Neuerung im Platonismus brachte sein Konzept der ''formae nativae''. So bezeichnete er [[Form|Formen]], die er als aktiv vermittelndes Prinzip zwischen der [[Ideenlehre|Ideenwelt]] und der Materie einführte. Sie sind Abbilder der unwandelbaren [[Idee|Ideen]], welche nur indirekt über die ''formae nativae'' auf die Materie einwirken. Im Unterschied zu den Ideen sind die ''formae nativae'' veränderlich. Durch ihr Hineinwirken in die materielle Welt ermöglichen sie die Entstehung aller konkreten Einzeldinge und verleihen diesen die artspezifischen Eigenschaften, beginnend mit den noch nicht sinnlich wahrnehmbaren vier Elementen. Dadurch wird das zuvor formlose Weltall "ausgeschmückt".<ref>Speer S. 89-129.</ref> Dies geschieht naturgesetzlich: „Alles was ist, ist entweder geworden oder ungeworden; alles aber, was entsteht, besitzt eine gesetzmäßige, und das heißt vernünftige Ursache.“<ref>Bernhard von Chartres, ''Glosae super Platonem'', hrsg. Dutton S. 159 Z. 62-64; Übersetzung nach Speer S. 102.</ref>  Die Seele, die Bernhard mit Berufung auf Aristoteles als [[Entelechie]] bezeichnet, besteht aus ''formae nativae''.<ref>Bernhard von Chartres, ''Glosae super Platonem'', hrsg. Dutton S. 175 Z. 69-74.</ref>
:den Sohn Gottes,
:der als Einziggeborener aus dem Vater gezeugt ist, ''das heißt: aus dem Wesen des Vaters'',
:Gott aus Gott, Licht aus Licht,
:wahrer Gott aus wahrem Gott,
:''gezeugt, nicht geschaffen'',
:''eines Wesens mit dem Vater (homoousios tou patri)'';
:durch den alles geworden ist, was im Himmel und was auf Erden ist;
:der für uns Menschen und wegen unseres Heils herabgestiegen und Fleisch geworden ist,
:Mensch geworden ist,
:gelitten hat und am dritten Tage auferstanden ist,
:aufgestiegen ist zum Himmel,
:kommen wird um die Lebenden und die Toten zu richten;


:Und an den Heiligen Geist.
== Werke ==
Bernhard verfasste einen verschollenen Kommentar zur ''[[Wikipedia:Isagoge|Isagoge]]'', dem Logik-Handbuch des antiken Neuplatonikers [[Wikipedia:Porphyrios|Porphyrios]]. Ein paar Verse, Aussprüche und Briefe von ihm sind überliefert; bis ins späte 20. Jahrhundert war das alles, was von seinem Werk bekannt war. Erst 1984 konnte Paul Edward Dutton zeigen, dass ein anonym überlieferter Kommentar zu [[Platon]]s ''[[Timaios]]'' von Bernhard stammt. 1991 hat Dutton diesen Kommentar unter dem (nicht handschriftlich überlieferten) Titel ''Glosae super Platonem'' herausgegeben. Das für den Unterricht konzipierte Werk zeigt das Bemühen des Autors um ein genaues Textverständnis und seine intensive, eigenständige Auseinandersetzung mit dem Inhalt des ''Timaios''.<ref>Dutton S. 56; Speer S. 87f.</ref>


:''Diejenigen aber, die da sagen „es gab eine Zeit, da er nicht war“ und „er war nicht, bevor er gezeugt wurde“, und er sei aus dem Nichtseienden geworden, oder die sagen, der Sohn Gottes stamme aus einer anderen [[Hypostase]] oder Wesenheit, oder er sei geschaffen oder wandelbar oder veränderbar, die verdammt die katholische Kirche.'' [richtig: ''die belegt die katholische Kirche mit dem [[Anathema]]'']
Hin und wieder wird für einen ursprünglich [[Bernardus Silvestris]] zugeschriebenen Vergilkommentar die Urheberschaft Bernhards von Chartres diskutiert.<ref>''The commentary on the first six books of the Aeneid of Vergil commonly attributed to Bernardus Silvestris'', hrsg. von J. W. und E. F. Jones, Lincoln/London 1977. Vgl. Fritz Peter Knapp: ''Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik: sieben Studien und ein Nachwort'', Heidelberg 1997, S. 108.</ref>
|}


Heutige Übersetzungen und die lateinische Version enthalten ''eingeboren'' oder ''einziggeboren'', ''unigenitum'', davon ausgehend, dass <span lang="el" xml:lang="el">γενή</span> von <span lang="el" xml:lang="el">γενναω</span> ''geboren'' kommt. Allerdings übersetzen ältere [[latein]]ische Manuskripte des neuen Testaments <span lang="el" xml:lang="el">μονογενή</span> als ''unicus'', ''einzigartig''. So bleibt der Urtext mehrdeutig.
== Ausgabe ==
* ''The Glosae super Platonem of Bernard of Chartres'', hrsg. Paul Edward Dutton, Toronto 1991. ISBN 0-88844-107-X (lateinischer Text mit ausführlicher Einleitung des Herausgebers)


== Vergleich mit älteren Bekenntnissen ==
== Literatur ==
Literarisch lässt sich das Bekenntnis von Nizäa auf ältere östliche Glaubensbekenntnisse zurückführen. Da jedoch von Jerusalem, Cäsarea, Antiochia und Alexandria sehr ähnliche Bekenntnisse überliefert sind, lässt sich nicht eindeutig feststellen, welches dieser Bekenntnisse die Grundlage für das nizäanische war.
* Andreas Speer: ''Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer „scientia naturalis“ im 12. Jahrhundert'', Leiden 1995. ISBN 90-04-10345-7 (S. 76-129 über Bernhard)
* Gangolf Schrimpf: ''Bernhard von Chartres, die Rezeption des Timaios und die neue Sicht der Natur'', in: ''Aufbruch - Wandel - Erneuerung. Beiträge zur "Renaissance" des 12. Jahrhunderts'', hrsg. von Georg Wieland, Stuttgart 1995, S. 181-210


Die [[Trinität|trinitarische]] Formulierung des Bekenntnisses (''Wir glauben an einen Gott … Und an den einen Herrn Jesus Christus … Und an den Heiligen Geist …'') ist sowohl im [[Apostolisches Glaubensbekenntnis|Apostolikum]] als auch in vielen anderen Taufbekenntnissen der damaligen Zeit zu finden. Dieser Aufbau des Bekenntnisses war am Konzil kein Thema.
== Anmerkungen ==
 
<references/>
Die oben kursiv gesetzten Teile sind Zusätze des Konzils, die sich in keinem früheren Bekenntnis finden. In ihnen hat die Kirche Formeln gesucht, die die christologische Lehre der Kirche so ausdrückten, dass der Arianismus sie nicht arianisch interpretieren konnte – ältere Bekenntnisse wurden auch von den Arianern akzeptiert, da sie sie in ihrem Sinn auslegen konnten.
 
Strittig war am Konzil der Begriff [[Homoousios|homoousios]] (dt.''[[Wesensgleichheit|wesensgleich]] / wesenseins''), der in der Bibel nicht vorkommt – er wurde von Kaiser [[Wikipedia:Konstantin I. (Rom)|Konstantin I.]] oder dessen Berater [[Wikipedia:Ossius von Córdoba|Ossius von Córdoba]] vorgeschlagen. Da jedoch gerade dieser Ausdruck für die [[Arianer]] in einem Glaubensbekenntnis inakzeptabel war, entschied sich das Konzil trotz Bedenken dafür.
 
== Literatur ==
* Hubert Jedin (Hrsg.): ''Die Reichskirche nach Konstantin dem Großen.'' Herder, Freiburg im Breisgau 1973, ISBN 3-451-14024-1 (Handbuch der Kirchengeschichte,  Bd. 2, erster Halbband).
* John Norman Davidson Kelly: ''Early Christian Creeds.'' 3. Auflage. Longman, London 1972, ISBN 0-582-48931-8.
* Renate Riemeck: ''Glaube - Dogma - Macht. Geschichte der Konzilien'', Urachhaus Vlg., Stuttgart 1985, ISBN 3-87838-433-5.


== Weblinks ==
[[Kategorie:Mann]]
* [http://www.creeds.net/ancient/niceneg.htm Griechischer Text]
[[Kategorie:Grammatiker]]
[[Kategorie:Franzose]]
[[Kategorie:Philosoph des Mittelalters]]
[[Kategorie:Katholischer Theologe (12. Jahrhundert)]]
[[Kategorie:Schule von Chartres]]


[[Kategorie:Alte Kirche|Nizäa]]
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Version vom 26. Juni 2011, 23:51 Uhr

Bernhard von Chartres († nach 1124) war ein Gelehrter und stark vom Platonismus geprägter Philosoph der frühscholastischen Zeit.

Biographische Daten

Aus Bernhards Leben ist nur wenig bekannt. Lange nahm man an, dass er ein Bruder des Thierry von Chartres war und ebenso wie dieser aus der Bretagne stammte. Neuerdings ist die Forschung aber von dieser Meinung abgerückt.[1] Jedenfalls taucht er erstmals 1108 in der Zeugenliste einer Urkunde aus Chartres als Subdiakon auf; als Kleriker blieb er bis zu seinem Lebensende bei diesem bescheidenen Weihegrad. Ab ca. 1110/1115 nannte er sich magister (Lehrer), unterrichtete also an der Schule von Chartres. Spätestens 1124 stieg er zum Kanzler auf; in diesem Jahr ist er letztmals als lebend bezeugt. Seine Bibliothek vermachte er der Kathedrale.[2]

Lehrtätigkeit

Seine kulturhistorische Bedeutung liegt vor allem in seiner Lehrtätigkeit, die ihm hohes Ansehen verschaffte. Einige der führenden Persönlichkeiten im Kulturleben der Epoche, darunter Wilhelm von Conches und Gilbert von Poitiers, waren seine Schüler und empfingen von ihm prägende Eindrücke. Johannes von Salisbury, der bereits der Enkelgeneration angehörte, hat Bernhard nicht mehr persönlich erlebt, sondern bei dessen Schülern studiert. Er war aber von Bernhards überragender Bildung und Unterrichtsmethode begeistert und bezeichnete ihn als größten Platoniker seiner Zeit.[3] Daran lässt sich die Nachhaltigkeit von Bernhards Wirken ermessen. So hat Bernhard bei der Herausbildung der Eigenart der berühmten sogenannten „Schule von Chartres“ eine Schlüsselrolle gespielt. Mit diesem Begriff bezeichnet man eine insbesondere von Gelehrten der Domschule von Chartres vertretene philosophische und theologische Richtung, die das platonische Gedankengut pflegte und bestrebt war, besonders in der Kosmologie platonische mit biblischen Vorstellungen in Übereinstimmung zu bringen. Bernhard hat die Blütezeit dieser Strömung vorbereitet. Berühmt ist sein Ausspruch, dass er und seine Zeitgenossen Zwerge seien, die auf den Schultern von Riesen (den antiken Gelehrten) sitzen und diese dadurch an Weitblick überragen, obwohl ihre Eigenleistung vergleichsweise gering ist (siehe Auf den Schultern von Giganten). Das war seine Stellungnahme zur Frage des Verhältnisses zwischen antiqui und moderni, zwischen antiker und mittelalterlicher Wissenschaft und Bildung. Darin zeigt sich die typische Haltung der Gelehrten von Chartres, die die nichtchristlichen Schriften der Antike eifrig studierten und sie trotz des religiösen Gegensatzes unbefangen zu würdigen wussten. Wegen dieses Verhältnisses zur Antike taucht in der Forschung öfters der (allerdings sehr umstrittene) Begriff einer „Renaissance des 12. Jahrhunderts“ auf.[4]

Neben der platonischen Naturphilosophie bildete der Grammatikunterricht einen weiteren Schwerpunkt von Bernhards Tätigkeit. Er betrachtete eine gründliche Grammatikausbildung anhand der antiken Werke als Voraussetzung für jedes Studium. Den Lernenden empfahl er sechs Grundsätze: demütigen Geist, Eifer im Fragen, ruhiges Leben, schweigsame Untersuchung, äußere Bedürfnislosigkeit und Aufenthalt fern von der Heimat. Als idealen Lehrer betrachtete er einen, „der es liebt, so zu lehren, dass er vollkommen verstanden wird“. Darin zeigt sich das Gewicht, das er auf die Didaktik legte.[5]

Philosophie

In der Naturphilosophie verzichtete Bernhard darauf, sich wie damals üblich auf theologische Autoritäten zu verlassen und die heilsgeschichtliche Perspektive des Christentums ins Spiel zu bringen. Hinsichtlich des Wahrheitsgehalts philosophischer Aussagen über den Kosmos vertrat er einen skeptischen Standpunkt, indem er nur Wahrscheinlichkeitsaussagen akzeptierte.

Eine wesentliche Neuerung im Platonismus brachte sein Konzept der formae nativae. So bezeichnete er Formen, die er als aktiv vermittelndes Prinzip zwischen der Ideenwelt und der Materie einführte. Sie sind Abbilder der unwandelbaren Ideen, welche nur indirekt über die formae nativae auf die Materie einwirken. Im Unterschied zu den Ideen sind die formae nativae veränderlich. Durch ihr Hineinwirken in die materielle Welt ermöglichen sie die Entstehung aller konkreten Einzeldinge und verleihen diesen die artspezifischen Eigenschaften, beginnend mit den noch nicht sinnlich wahrnehmbaren vier Elementen. Dadurch wird das zuvor formlose Weltall "ausgeschmückt".[6] Dies geschieht naturgesetzlich: „Alles was ist, ist entweder geworden oder ungeworden; alles aber, was entsteht, besitzt eine gesetzmäßige, und das heißt vernünftige Ursache.“[7] Die Seele, die Bernhard mit Berufung auf Aristoteles als Entelechie bezeichnet, besteht aus formae nativae.[8]

Werke

Bernhard verfasste einen verschollenen Kommentar zur Isagoge, dem Logik-Handbuch des antiken Neuplatonikers Porphyrios. Ein paar Verse, Aussprüche und Briefe von ihm sind überliefert; bis ins späte 20. Jahrhundert war das alles, was von seinem Werk bekannt war. Erst 1984 konnte Paul Edward Dutton zeigen, dass ein anonym überlieferter Kommentar zu Platons Timaios von Bernhard stammt. 1991 hat Dutton diesen Kommentar unter dem (nicht handschriftlich überlieferten) Titel Glosae super Platonem herausgegeben. Das für den Unterricht konzipierte Werk zeigt das Bemühen des Autors um ein genaues Textverständnis und seine intensive, eigenständige Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Timaios.[9]

Hin und wieder wird für einen ursprünglich Bernardus Silvestris zugeschriebenen Vergilkommentar die Urheberschaft Bernhards von Chartres diskutiert.[10]

Ausgabe

  • The Glosae super Platonem of Bernard of Chartres, hrsg. Paul Edward Dutton, Toronto 1991. ISBN 0-88844-107-X (lateinischer Text mit ausführlicher Einleitung des Herausgebers)

Literatur

  • Andreas Speer: Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer „scientia naturalis“ im 12. Jahrhundert, Leiden 1995. ISBN 90-04-10345-7 (S. 76-129 über Bernhard)
  • Gangolf Schrimpf: Bernhard von Chartres, die Rezeption des Timaios und die neue Sicht der Natur, in: Aufbruch - Wandel - Erneuerung. Beiträge zur "Renaissance" des 12. Jahrhunderts, hrsg. von Georg Wieland, Stuttgart 1995, S. 181-210

Anmerkungen

  1. Dutton S. 40-42.
  2. Zu den Daten siehe Dutton S. 25-44, 239f.
  3. Die Quellenzeugnisse sind zusammengestellt bei Dutton S. 241-248.
  4. Speer S. 6-8, 76-79.
  5. Dutton S. 57; Speer S. 83-85.
  6. Speer S. 89-129.
  7. Bernhard von Chartres, Glosae super Platonem, hrsg. Dutton S. 159 Z. 62-64; Übersetzung nach Speer S. 102.
  8. Bernhard von Chartres, Glosae super Platonem, hrsg. Dutton S. 175 Z. 69-74.
  9. Dutton S. 56; Speer S. 87f.
  10. The commentary on the first six books of the Aeneid of Vergil commonly attributed to Bernardus Silvestris, hrsg. von J. W. und E. F. Jones, Lincoln/London 1977. Vgl. Fritz Peter Knapp: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik: sieben Studien und ein Nachwort, Heidelberg 1997, S. 108.


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