Reduktionismus

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Schema von Oppenheim und Putnam, 1958. Die obere Schicht soll sich vollständig auf die jeweils darunter liegende reduzieren lassen.

Der Reduktionismus (von lat. reducere = zurückführen), der heute immer noch die wesentliche Grundlage des modernen naturwissenschaftlichen Denkens bildet, vertritt den erkenntnistheoretischen Standpunkt, dass ein strukturiertes System vollständig durch seine Teile bestimmt wird und aus diesen rational und streng deterministisch erklärt werden kann. Dahinter steht das Ideal einer monistischen Einheitswissenschaft, in der alle Phänomene der Psychologie, Biologie und Chemie, ja sogar des sozialen Lebens, letztlich auf die elementare Physik reduziert werden können, wobei die Elementarbausteine der Physik zwar nicht notwendigerweise, aber doch meist als materiell aufgefasst werden. Klassisch formuliert wurden die Prinzipien dieses einheitswissenschaftlichen Reduktionismus in dem 1958 von Paul Oppenheim und Hilary Putnam veröffentlichten Aufsatz The Unity of Science as a Working Hypothesis.

So einseitig die reduktionistische Haltung auch ist, so kann sie dennoch, wenn sie an ihre Grenzen stößt, zugleich die beste Grundlage dafür schaffen, klar und deutlich jene Erscheinungen zu identifizieren die eine irreduzible starken Form der Emergenz zeigen. Damit wird der Blick auf neue Seinsebenen mit eigenständigen Gesetzmäßigkeiten eröffnet, die grundsätzlich nicht auf jene der darunterliegenden Ebenen reduziert werden können. Ziel der Wissenschaft muss es dann sein, die eigenständigen Gesetzmäßigkeiten der höheren Seinsebenen mit ihnen gemäßen, noch zu entwickelnden bzw. weiterzuentwickelnden Methoden zu erforschen und ihren ideellen Bezug zu den unteren Daseinsebenen aufzuklären.

Damit wird keinesfall ein mit Recht als problematisch angesehener Dualismus begründet. Den verschiedenen Daseinsebenen sind vielmehr völlig unterschiedliche Erscheinungsbereiche zugeordnet, zwischen denen keine kausale, sehr wohl aber eine ideelle, durch das Denken einsehbare, begrifflich fassbare Verbindung besteht. Der Fehler entsteht, weil man die Erscheinungen an sich schon als fertige Wirklichkeit ansieht, was aber nicht der Fall ist. Erscheinungen können daher prinzipiell nicht aufeinander einwirken. Erst durch den entsprechenden Begriff wird die wahrgenommene Erscheinung zur Wirklichkeit erhoben. Dem Pluralismus der Erscheinungswelt steht damit ein geistiger Monismus gegenüber, der auch die Grundlage der anthroposophischen Geisteswissenschaft bildet.

„Erst im Begriffe also bekommt die Welt ihren vollen Inhalt. Nun haben wir aber gefunden, dass uns der Begriff über die einzelne Erscheinung hinaus auf den Zusammenhang der Dinge verweist. Somit stellt sich das, was in der Sinnenwelt getrennt, vereinzelt auftritt, für den Begriff als einheitliches Ganzes dar. So entsteht durch unsere naturwissenschaftliche Methodik als Endziel die monistische Naturwissenschaft; aber sie ist nicht abstrakter Monismus, der die Einheit schon vorausnimmt, und dann die einzelnen Tatsachen des konkreten Daseins in gezwungener Weise darunter subsummiert, sondern der konkrete Monismus, der Stück für Stück zeigt, dass die scheinbare Mannigfaltigkeit des Sinnendaseins sich zuletzt nur als eine ideelle Einheit erweist. Die Vielheit ist nur eine Form, in der sich der einheitliche Weltinhalt ausspricht. Die Sinne, die nicht in der Lage sind, diesen einheitlichen Inhalt zu erfassen, halten sich an die Vielheit; sie sind geborene Pluralisten. Das Denken aber überwindet die Vielheit und kommt so durch eine lange Arbeit auf das einheitliche Weltprinzip zurück.“ (Lit.:GA 1, S. 282)

Wäre alles Geschehen innerhalb der physischen Welt streng determiniert, so wäre diese allerdings vollkommen in sich abgeschlossen und ausschließlich durch sich selbst bestimmt. Die starke Form der Emergenz wäre dann unmöglich. Nach den Ergebnissen der Quantentheorie ist aber ein durchgängiger Determinismus innerhalb der physikalisch fassbaren Welt nicht gegeben. Im Rahmen der Quantenmechanik sind nur Wahrscheinlichkeitsaussagen über künftige Beobachtungen möglich, was nach der Kopenhager Deutung bedeutet, dass das raum-zeitliche Verhalten eines mikrophysikalischen Systems grundsätzlich indeterminiert ist, dafür aber ein streng gesetzmäßig geordnetes Feld von Möglichkeiten eröffnet. Auch für die moderne Evolutionstheorie ist der - quantentheoretisch zu rechtfertigende - Zufall ein wesentlicher Faktor. Gerade dadurch eröffnet sich aber der Ausblick auf höhere „emergente“ Weltebenen, die gesetzmäßig mit den untergeordneten Ebenen verbunden sind.

In der Anthroposophie werden folgende vier grundlegenden Weltebenen unterschieden:

Eine dem Reduktionsmus entgegengesetzte Haltung kennzeichnet den Holismus, der davon ausgeht, dass das Ganze mehr ist als seine Teile und die Teile vom Ganzen her bestimmt werden. Diese Anschauung macht sich seit der Entwicklung der Quantentheorie die Physik immer mehr zueigen und widerspricht damit selbst dem reduktionistischen Konzept. Hans-Peter Dürr hat es so formuliert:

"Der Bruch in unserem Verständnis der Wirklichkeit, den die neue Physik fordert, ist radikal. Deutet diese Physik doch darauf hin, daß die eigentliche Wirklichkeit, was immer wir darunter verstehen, im Grunde keine Realität im Sinne einer dinghaften Wirklichkeit ist...

Die <Unschärfe> (d.h. die nichtkausale Natur der atomaren Phänomene) ist Ausdruck einer holistischen, einer ganzheitlichen Struktur der Wirklichkeit...

So steht das Getrennte (etwa durch die Vorstellung isolierter Atome) nach neuer Sichtweise nicht am Anfang der Wirklichkeit, sondern näherungsweise Trennung ist mögliches Ergebnis einer Strukturbildung, nämlich: Erzeugung von Unverbundenheit durch Auslöschung im Zwischenbereich (Dürr 1992). Die Beziehungen zwischen Teilen eines Ganzen ergeben sich also nicht erst sekundär als Wechselwirkung von ursprünglich Isoliertem, sondern sind Ausdruck einer primären Identität von allem. Eine Beziehungsstruktur entsteht also nicht nur durch Kommunikation, einem wechselseitigen Austausch von Signalen, verstärkt durch Resonanz, sondern gewissermaßen auch durch Kommunion, durch Identifizierung...

Die holistischen Züge der Wirklichkeit, wie sie in der neuen fundamentalen Struktur der Materie zum Ausdruck kommen, bieten hierbei die entscheidende Voraussetzung dafür, daß die für uns wesentlichen Merkmale des Lebendigen dabei nicht zu mechanistischen Funktionen verstümmelt werden." (Lit.: Dürr 1997)

Und für Werner Heisenberg, der maßgeblich an der Entwicklung der Quantentheorie beteiligt war, sind die elementaren Bausteine der Physik ideeller, d.h. geistiger Natur:

"Die Elementarteilchen können mit den regulären Körpern in Platos "Timaios" verglichen werden. Sie sind die Urbilder, die Ideen der Materie." (Lit.: Heisenberg, S 281)

Literatur

  1. Hans-Peter Dürr (Hrsg.): Rupert Sheldrake in der Diskussion, Scherz-Verlag, Bern München Wien 1997, S 227ff
  2. Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze, 7. Aufl. München: Piper, 2002, ISBN 3492222978