Die schöne Lilie

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Die schöne Lilie ist eine Gestalt aus Goethes Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie. Sie repräsentiert die reine begierdenfreie Seele, das Ewig-Weibliche, in der das Bewusstsein für die geistige Welt erwacht. In Rudolf Steiners Mysteriendramen, die auf der Grundlage von Goethes Märchen geschrieben wurden, entspricht ihr die Gestalt der Maria.

"Das Märchen beginnt gleich in geheimnisvoller Weise. Drei Gebiete werden uns vorgeführt, ein Diesseitiges, ein Jenseitiges und dazwischen ist der Fluß. Die Welt von Leib, Seele und Geist, und den Weg des Menschen in die übersinnliche Welt stellt es uns dar. Das diesseitige Ufer ist die physische, das jenseitige, das Land der schönen Lilie, ist die Welt des Geistes; dazwischen ist der Strom, die astrale Welt, die Welt des Verlangens. Die Theosophie spricht vom Leben der Seele in der physischen Welt, dem Diesseits, dann vom Devachan, in dem die Seele sich erlebt nach dem Tode, aber auch, wenn sie sich durch eine okkulte Entwickelung schon hier in der physischen Welt frei gemacht hat von allem Persönlichen. Dann kann sie aufsteigen in das Jenseits, in das Reich der schönen Lilie; sie findet dann den Weg zum jenseitigen Ufer, dahin, wohin der Mensch immerfort strebt, den Weg zur Heimat seiner Seele und seines Geistes. Der Strom dazwischen, die Astralwelt, der Strom der Begierden und Leidenschaften, die den Menschen trennen von der geistigen Welt, muß überwunden werden.

Eine Brücke wird nun über den Fluß gebaut und der Mensch gelangt in das Reich der schonen Lilie. Das ist das Ziel, wohin der Mensch strebt. Was die Lilie in der mittelalterlichen Mystik bedeutete, war Goethe genau bekannt. Er hatte sich praktisch einweihen lassen in die Geheimnisse mystischer Weltanschauung und war bekannt mit den alchimistischen Bestrebungen des Mittelalters. Nachdem er auf der einen Seite die Tiefe der Mystik erkannt hatte, begegnete er auch dem trivialen Abglanz davon in den Zerrbildern der Literatur.

Im ersten Teil des «Faust» zeigt er uns noch in humoristischer Weise, daß das Problem des Zusammenhanges des Menschen mit der schönen Lilie ihm vor Augen stand. Da heißt es im Osterspaziergang - ehe er die Bekanntschaft mit Mephistopheles macht - von den Bestrebungen des Menschen in einer verzerrten Alchimie:

Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann,
der über die Natur und ihre heilgen Kreise,
in Redlichkeit, jedoch auf seine Weise,
mit grillenhafter Mühe sann;
. . . da ward ein roter Leu, ein kühner Freier,
im lauen Bad der Lilie vermählt.

Es ist dies ein technischer Ausdruck der Alchimie: Lilie bedeutet Merkur. Im Sinne der theosophischen Weltanschauung ist Merkur das Sinnbild der Weisheit, welcher der Mensch zustrebt, und Lilie jener Bewußtseinszustand, in dem der Mensch sich befindet, wenn er das Höchste erreicht, sich selbst gefunden hat. Die Vermählung des Männlichen mit dem Weiblichen in der menschlichen Seele ist hier dargestellt. «Im lauen Bad» heißt im Sinne der Alchimie «freigeworden vom Feuer der Begierden». Wir sprechen in der Theosophie von Ahamkara, dem menschlichen Ich-Streben, was das Höchste umfassen will. Dieses zunächst in Selbstheit strebende menschliche Prinzip wird in der Alchimie als Leu dargestellt, der frei geworden von der Selbstheit, von Begierden und Leidenschaften, sich mit der Lilie vereinen darf. Wenn man auch nicht mehr viel wußte im Mittelalter von der wahren Alchimie, so hatte man doch die Bezeichnungen konserviert. Alle höheren Wahrheiten stehen im Ätherglanz vor uns, wenn wir, freigeworden von stürmischen Begierden, von dem Leu der Begierden, die abgekühlt sind im lauen Bad, uns ihnen nahen. Dann kann der Menschengeist die Lilie finden, das Ewig-Weibliche, das uns hinanzieht; er kann die Vereinigung haben mit diesen Wahrheiten der geistigen Welten. Das ist ein Weg, den die Seelen immer gegangen sind, in vollster Klarheit. Mystiker ist derjenige, der Klarheit, Höhe, Reine der Anschauungen anstrebt." (Lit.: GA 053, S. 332)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.