Legende und Marxistische Wirtschaftstheorie: Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:Landschaft mit Geschichte des Wilhelm Tell.jpg|thumb|Wilhelm Tell. Gemälde, Öl auf Leinwand, Umkreis Paul Bril]]
Die '''marxistische Wirtschaftstheorie''' – die [[Wikipedia:politische Ökonomie|politische Ökonomie]] auf der Grundlage von ''[[Wikipedia:Das Kapital|Das Kapital]]'' von [[Karl Marx]] – bildet sowohl ihrem Umfang als auch ihrem Inhalt nach den Hauptteil der [[Marxismus|marxistischen]] Gesellschaftstheorie ([[Wikipedia:Historischer Materialismus|Historischer Materialismus]]). Sie untersucht die ökonomische Funktionsweise der „bürgerlichen“, „[[Kapitalismus|kapitalistischen]]“ Gesellschaft gemäß der Ansicht von der historischen Begrenztheit einer jeden [[Wikipedia:Gesellschaftsformation|Gesellschaftsformation]]. Diese werden seiner Meinung nach wesentlich durch die Entwicklung der [[Wikipedia:Produktiovkräfte|Produktivkräfte]] vorangetrieben und durch spezifische [[Wikipedia:Produktionsverhältnisse|Produktionsverhältnisse]] gekennzeichnet. Im Besonderen setzt sich Marx mit den theoretischen Ansätzen der [[Klassische Nationalökonomie|klassischen Nationalökonomie]] auseinander, insbesondere mit [[Adam Smith]] und [[David Ricardo]]. Von diesen unterscheidet er die „[[Wikipedia:Vulgärökonomie|Vulgärökonomie]]“, die er im Gegensatz dazu wegen deren oberflächlichen Anschauungen vom Wirtschaften und der Apologetik der bestehenden Verhältnisse grundsätzlich ablehnt. Die marxistische Wirtschaftstheorie selbst weist, wie jede groß-angelegte ökonomische Theorie, noch viele ungeklärte Fragen und umstrittene Punkte auf.


Die '''Legende''' ist eine dem [[Märchen]] und der [[Sage]] verwandte [[Wikipedia:Textsorte|Textsorte]] bzw. [[Wikipedia:Gattung (Literatur)|literarische Gattung]].
== „Kritik der politischen Ökonomie“ ==
Der Begriff leitet sich von dem mittelalterlich-lateinischen Ausdruck ''legenda'' ab, was so viel bedeutet wie „das, was zu lesen ist“,<ref>Harald-Martin Wahl: ''Die Jakobserzählungen. Studien zu ihrer mündlichen Überlieferung, Verschriftung und Historizität.'' Berlin / New York 1997, S. 87 f., ISBN 3-11-015758-6.</ref> „das Vorzulesende“<ref name="Vollmann1109f">Benedikt Konrad Vollmann: ''Sage und Legende.'' In: Volker Drehsen, Hermann Häring u. a. (Hrsg.): ''Wörterbuch des Christentums''. 1500 Stichwörter von A-Z. München 2001, S. 1109 f., ISBN 3-572-01248-1.</ref> bzw. „die zu lesenden Stücke“.<ref>Silke Müller, Susanne Wess: ''Studienbuch neuere deutsche Literaturwissenschaft 1720-1848'' (= Lern- und Arbeitshilfen für Schule und Universität). 2., durchges. Aufl., Würzburg 1999, S. 151, ISBN 3-8260-1713-7.</ref> Die Herkunft des Begriffs deutet somit – im Unterschied zur [[Sage]] – eine enge Beziehung zur literarischen Tradition an. Bereits in der [[Antike]] entstanden literarische [[Erzählung]]en über [[Person]]en, die als überragende religiös-sittliche Persönlichkeiten und „[[Wikipedia:Heiliger|Heilige]]“ wahrgenommen wurden.<ref name="Vollmann1109f" />


== Allgemeines ==
[[Datei:Zentralbibliothek Zürich Das Kapital Marx 1867.jpg|mini|Der erste Band der Trilogie Das Kapital]][[Datei:Kapital manuskript.jpg|mini|Manuskriptseite des Kapitals]]


In der [[Wikipedia:Hagiographie|Hagiographie]] werden derartige [[Wikipedia:Heiligenlegende|Heiligenlegende]]n neben [[Wikipedia:Märtyrerberichte|Märtyrerakten]] und anderen überlieferten Texten als [[Wikipedia:Vita|Vita]] untersucht.<ref>Christina Adenna: ''Heiligenviten als stabilisierende Gedächtnisspeicher in Zeiten religiösen Wandels.'' In: Peter Strohschneider (Hrsg.): ''Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit.'' Berlin / New York 2009, S. 526, ISBN 978-3-11-020061-4.</ref> Solche hagiographischen Texte werden auch heute noch von einigen Gelehrten unter Absehung ihres besonderen Charakters der [[Wikipedia:Geschichtsschreibung|Geschichtsschreibung]] zugerechnet,<ref>Meinolf Vielberg, Jürgen Dummer: ''Zwischen Historiographie und Hagiographie. Ausgewählte Beiträge zur Erforschung der Spätantike.'' Stuttgart 2005, S. 7, ISBN 3-515-08661-7.</ref> wobei allerdings zwischen „Heiligenlegende“ und „Heiligenbiographie“ zu unterscheiden wäre. Nicht zuletzt bei den politischen Legenden ist indessen die Vorstellung verbreitet, dass es sich um „unzutreffende Tatsachenbehauptungen“ handele.  Dennoch können einzelne Legenden einen Kern von historischer Wahrheit enthalten, indem sie in bildhafter oder szenischer Erzählform den Kern eines Faktums oder den Sinn eines Geschehens zu vermitteln suchen, auch wenn die jeweils erzählte Geschichte [[Wikipedia:Quelle (Geschichtswissenschaft)|quellenmäßig]] unverbürgt ist.<ref>Gerd Krumeich: ''Die Dolchstoßlegende.'' In: Étienne François, Hagen Schulze (Hrsg.): ''Deutsche Erinnerungsorte.'' 4., durchges. Aufl., München 2002, S. 586, ISBN 3-406-47222-2.</ref>
=== Ziel, Methode und Konzept des ''Kapital'' ===


In der Form der Heiligenlegende zielt die Legende aber überhaupt nicht auf die für sie nur vordergründige historische Wahrheit, sondern auf  die Verkündigung einer Glaubenswahrheit.<ref>Siehe Ringler (s. o.: Literatur), S. 260f.; 267.</ref> Es geht in ihr zentral um die Offenbarung des göttlichen [[Wikipedia:Heilsgeschichte|Heilswirkens]], das in der Person eines Heiligen zur Erscheinung kommt, zeichenhaft beglaubigt vor allem durch das Signum des [[Wunder]]s.<ref name="Reichertz77f">Jo Reichertz: ''Die Macht der Worte und der Medien.'' 2. Auflage, Wiesbaden 2008, S. 77f., ISBN 978-3-531-16307-9; Ringler (s. o.: Literatur), S. 257–259.</ref> Bekannteste Beispiele sind die Christophorus- und Georgslegende, die als eine Art narrativer Theologie gelten können. Hierbei bleibt der Erzählrahmen der Legende, ebenso wie bei der Sage, dem Mythos und [[Märchen]], im [[Wikipedia:Fiktion|fiktionalen]] Bereich.<ref name="Reichertz77f" />
Schon mit dem Titel „[[Das Kapital]]“ bringt Karl Marx deutlich zum Ausdruck, was seit der [[François Quesnay|Quesnayschen]] Revolution in der ökonomischen Theorie deren zentrale Kategorie darstellt: das [[Kapital]].<ref>Robert E. Eagly: ''The Structure of Classical Economic Theory.'' Oxford University Press, New York London Toronto 1974, S. 3.</ref> Marx integriert in seine theoriegeleitete Darstellung zwar auch die geschichtliche Dimension, so etwa die „[[ursprüngliche Akkumulation]]“ oder das Arbeitsrecht in England im 19. Jahrhundert und die Problemgeschichte der ökonomischen Theorien. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, das ''Kapital'' sei „wesentlich ein historisches Werk“.<ref>[[Karl Kautsky]]: ''Karl Marx’ ökonomische Lehren.'' 20. Auflage. 1921, S. VIII, zit. nach [[Henryk Grossman]]: ''Aufsätze zur Krisentheorie.'' S. 13.</ref> Denn Marx sieht dessen Schwerpunkt in der Analyse und theoretischen Darstellung der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft:


Im Medien-Sprachgebrauch wird der Begriff auch häufig in der allgemeinen Bedeutung „[[Wikipedia:Ruhm|Ruhm]]“ und „[[Wikipedia:Berühmtheit|Berühmtheit]]“ verwendet.<ref>Peter Tepe: ''Mythos & Literatur.'' Selbstanzeige. In: ''Archiv für Begriffsgeschichte'' 44, Ausg. 25-26, Hamburg 2002, S. 258. (Quelle: Peter Tepe: ''Mythos & Literatur.'' Würzburg 2001, ISBN 3-8260-2136-3.)</ref>
: „Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. (…) An und für sich handelt es sich nicht um den höheren oder niederen Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen“ [= Gegensätze], „welche aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion entspringen. Es handelt sich um diese <''Natur-''> Gesetze selbst.“<ref>Karl Marx: ''Das Kapital.'' Band I (MEW 23), S. 12, in spitzen Klammern Einfügung.</ref>
 
Daher sagt er auch im Band I des ''Kapital'':
 
: „… es ist der letzte Endzweck dieses Werkes, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen.“<ref>a. a. O., S. 15f., Text redigiert.</ref>
 
Dabei ging es ihm um einen
 
: „… wissenschaftlichen Versuch zur Revolutionierung einer Wissenschaft.“<ref>Karl Marx: „Zur Kritik der politischen Ökonomie.“ (MEW 13), S. 21.</ref>
 
Seine grundsätzliche Methode bezeichnete er in der ''Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie'' als von den einzelnen Bestimmungen der Ökonomie (wie Ware, Tauschwert usw.) zu den komplexen Zusammenhängen aufsteigend:
 
: „Die Ökonomen des 17. Jahrhunderts z. B. fangen immer mit dem lebendigen Ganzen, der Bevölkerung, der Nation, Staat, mehreren Staaten etc. an; sie enden aber immer damit, daß sie durch Analyse einige bestimmende abstrakte, allgemeine Beziehungen, wie Teilung der Arbeit, Geld, Wert etc. herausfinden. Sobald diese einzelnen Momente mehr oder weniger festgestellt und abstrahiert waren, begannen die ökonomischen Systeme, die von den einfachen <''Momenten''>, wie Arbeit, Teilung der Arbeit, Bedürfnis, Tauschwert, aufsteigen bis zum Staat, Austausch der Nationen und Weltmarkt. Das letztere ist offenbar die wissenschaftlich richtige Methode.“<ref>Karl Marx: ''Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie.'' (MEW 13) S. 632, Text redigiert und in spitzen Klammern Einfügung.</ref>
 
[[Datei:Marx - Theorien über den Mehrwert, 1956 - 5708926.tif|mini|''Theorien über den Mehrwert'', 1956]]
 
Diese Konzeption der Darstellung lag auch dem ursprünglichen Plan für sein ökonomisches Werk zugrunde, das mit der „Kritik der politischen Ökonomie“ beginnen und in sechs Teilen die Themen „Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, auswärtiger Handel, Weltmarkt“ umfassen sollte,<ref>siehe Karl Marx ''„[[Zur Kritik der politischen Ökonomie]]“'' (MEW 13), S. 7.</ref> wobei er den ersten Band des ''Kapital'' anfänglich noch als Fortsetzung seiner Schrift ''„[[Zur Kritik der politischen Ökonomie]]“'' ansah. Später änderte er dieses Konzept seines Werkes zugunsten der jetzigen vierbändigen Darstellung des ''Kapital'' ab (Produktionsprozess des Kapital im Band I, Zirkulationsprozess des Kapitals in Band II, Gesamtprozess des Kapitals im Band III und Theoriegeschichte in den „[[Theorien über den Mehrwert]]“ als Band IV des ''Kapital''), behielt aber die Methode bei. Die historischen Darstellungen dienten ihm dabei zur Illustration, so wie er bereits in der ''Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie'' geschrieben hatte, dass das Abstrakte zum Konkreten entwickelt werden muss.
 
Dieser [[Dialektik bei Marx und Engels#Dialektik als die Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten|Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten]] resultiert aus der dialektischen Darstellungsmethode [[Georg Wilhelm Friedrich Hegel|Hegels]]. Dessen Kategorienlehre übertrug Marx auf die Ökonomie, in der es um ökonomische [[Kategorie (Philosophie)|Kategorien]], d. h. ökonomische ''Formen'', gehe, wie es [[Helmut Reichelt]] in einem bekannten Zitat formulierte:
 
: [W]as – so könnte man den Marxschen Ansatz in Form einer Frage zusammenfassen – verbirgt sich in den Kategorien selbst; was ist der eigentümliche Gehalt der ökonomischen Formbestimmtheiten, also der Waren''form'', der Geld''form'', der Kapital''form'', der ''Form'' des Profits, des Zinses usw.? Während die bürgerliche politische Ökonomie generell dadurch charakterisiert ist, daß sie die Kategorien äußerlich aufgreift, besteht Marx auf einer strengen Ableitung der Genesis dieser Formen – eine Programmatik, die unmittelbar an Hegels Kritik der Kantischen Transzendentalphilosophie erinnert.“<ref>Helmut Reichelt, zitiert in: Ken Kubota: ''Die dialektische Darstellung des allgemeinen Begriffs des Kapitals im Lichte der Philosophie [[Georg Wilhelm Friedrich Hegel|Hegels]]. Zur logischen Analyse der politischen Ökonomie unter besonderer Berücksichtigung [[Theodor W. Adorno|Adornos]] und der Forschungsergebnisse von [[Isaak Iljitsch Rubin|Rubin]], [[Hans-Georg Backhaus|Backhaus]], [[Helmut Reichelt|Reichelt]], [[Kōzō Uno|Uno]] und [[Thomas T. Sekine|Sekine]].'' In: ''Beiträge zur Marx-Engels-Forschung''. Neue Folge 2009, S. 199–224, hier S. 199.</ref>
 
=== Die Neuerungen gegenüber der klassischen Ökonomie ===
1.) In seinem Brief an Engels vom 8. Januar 1868 bezeichnet Marx als erstes der „drei grundneuen Elemente des Buches“ [= des 1. Bandes des „[[Das Kapital|Kapital]]“], dass alle frühere Ökonomie die Teile, in die sich der Mehrwert als „Profit“, „Rente“ und „Zins“ teilt, als gegeben betrachtet hat, während sie von ihm erst in der allgemeinen Form des Mehrwerts behandelt wurden.<ref name="ReferenceA">''Marx Engels Briefwechsel.'' Band IV, S. 9.</ref>
 
2.) In seiner Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ schrieb Marx bereits 1859:
 
: „Die Analyse der Ware auf Arbeit in Doppelform:
:* des Gebrauchswertes auf reale Arbeit oder zweckmäßig produktive Tätigkeit,
:* des Tauschwertes auf Arbeitszeit oder gleiche gesellschaftliche Arbeit,
: ist das Endergebnis der Kritik<ref>Bei Marx: „das kritische Endergebnis“</ref> der mehr als anderthalbhundertjährigen Forschungen der klassischen politischen Ökonomie, die in England mit William Petty, in Frankreich mit Boisgilbert beginnt, in England mit Ricardo, in Frankreich mit Sismondi abschließt.<ref>Karl Marx: ''Zur Kritik der politischen Ökonomie.'' (MEW 13) S. 37, Text redigiert.</ref>
 
Und in Band 1 des „Kapital“ führt er 1867 weiter aus:
 
: „Diese zwieschlächtige Natur der in der Ware enthaltenen Arbeit ist zuerst von mir kritisch nachgewiesen worden.“<ref>Karl Marx: ''[[Das Kapital]].'' Band I (MEW 23), S. 56.</ref>
 
Diese Unterscheidung wird auch in seinem bereits angeführten Brief an Engels vom 8. Januar 1868 als zweites der „drei grundneuen Elemente“ des [[Das Kapital|Kapital]] bezeichnet.<ref name="ReferenceA" /> Er betrachtete dies also als eine wesentliche Neuerung gegenüber der klassischen politischen Ökonomie, die er sich selbst zurechnete. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung formte Marx die von der klassischen politischen Ökonomie übernommenen Kategorien um und betrachtete sie jeweils getrennt unter ihrer Wert- und ihrer Stoffseite. Hierin liegt nach Henryk Grossmann Marx’ eigene Neuerung gegenüber seinen Vorgängern.<ref>Henryk Grossmann: ''Marx, die klassische Nationalökonomie und das Problem der Dynamik.'' S. 22ff.</ref>
 
3.) Als dritte der drei Neuerungen gegenüber der klassischen Ökonomie gibt Marx in dem genannten Brief an Engels vom 8. Januar 1868 an, „zum erstenmal“ an den „beiden Formen des Arbeitslohns: Zeitlohn und Stücklohn“ den Arbeitslohn als eine „irrationale Erscheinungsform eines dahinter versteckten Verhältnisses“ dargestellt zu haben.<ref name="ReferenceA" />
 
4.) Im Unterschied zur klassischen Ökonomie unterscheidet Marx die Begriffe Arbeit und [[Wikipedia:Arbeitskraft|Arbeitskraft]]. Die Arbeit hat keinen Wert oder Preis, sondern die Arbeiter verkaufen an die Kapitalisten ihre Arbeitskraft als eine Ware, deren Wert durch die [[Wikipedia:Arbeitswertlehre|Arbeitswertlehre]] bestimmt wird.<ref>Vgl. Kapital Band I, 2. Abschnitt, 4. Kapitel.</ref><ref name="MH">Vgl. z.B. Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. 3. Auflage. 2003, Münster, S. 258.</ref> Der Kapitalist setzt die von ihm gekaufte Arbeitskraft im Produktionsprozess ein, und zwar nicht nur solange, bis der Wert der Arbeitskraft erstattet ist, sondern länger, so dass ihm ein [[Wikipedia:Mehrwert (Marxismus)|Mehrwert]] entsteht.
 
5.) Eine weder von Marx noch von Engels besonders hervorgehobene, aber auf Marx zurückgehende Neuerung besteht in seiner Erkenntnis im Band I des „Kapital“, dass kapitalistische Gesellschaften zu großen Teilen von einem [[Wikipedia:Warenfetisch|Warenfetisch]] bestimmt werden.<ref>Siehe Karl Marx: ''Das Kapital.'' Band I (MEW 23), S. 86f.:
: „Dies nenne ich“ (!) „den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt …“</ref> [[Wikipedia:Analogie (Philosophie)|Analog]] zur [[Wikipedia:Projektionstheorie|Projektionstheorie]] ist damit der Umstand gemeint, dass gesellschaftliche Produktionsverhältnisse als stoffliche Eigenschaften der Arbeitsgegenstände und daher historische und durch gesellschaftliche Umstände geschaffene Kategorien wie Ware und [[Wikipedia:Tauschwert|(Tausch-) Wert]] als natürliche und unabänderliche Tatsachen erscheinen.
 
6.) Nach Marx gebe es bei den Ökonomen die Tendenz, die herrschenden Produktionsverhältnisse als natürliche Gesetze aufzufassen und darzustellen, dem entgegnet er mit der Theorie, dass die ökonomischen Kategorien der Analyse nur theoretische, abstrakte Ausdrücke der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse darstellen und daher ebenso wenig ewig seien wie die Produktionsverhältnisse selbst, sie sind „historische, vergängliche, vorübergehende Produkte.“<ref>Marx: ''Elend der Philosophie.'' MEW 4: 130; vgl. auch Marx: ''Das Kapital.'' MEW 23: 95 f., speziell auch Fußnote 33.</ref>
 
7.) Im Band I des „Kapital“ nimmt Marx die Bildung der „Kategorien: variables und konstantes Kapital“ ausdrücklich für sich in Anspruch. Sie waren zwar schon vorher von der klassischen Ökonomie inhaltlich beschrieben, aber nicht benannt und mit den von Adam Smith gebildeten Kategorien „fixes“ und „zirkulierendes Kapital“ durcheinandergebracht worden.<ref>Karl Marx: ''Das Kapital.'' Band I (MEW 23), S. 638, Fußnote 67.</ref>
 
8.) In seinem Nachwort zur zweiten Auflage von Band I des „Kapital“ weist Marx noch darauf hin, dass der Professor der politischen Ökonomie an der Universität Kiew, N. Sieber, 1871 in seiner Schrift „D. Ricardos Theorie des Werts und des Kapitals etc.“ ihm für seine „Theorie des Wertes, des Geldes und des Kapitals“ bescheinigte und „nachgewiesen“ habe, „in ihren Grundzügen“ eine „notwendige Fortbildung der Smith-Ricardoschen Lehre“ zu sein.<ref>A. a. O., S. 22, Text redigiert.</ref>
 
9.) In Band III des „Kapital“ führt Marx dann an, dass es „aller bisherigen Ökonomie“ nicht gelungen sei, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate „zu entdecken“,<ref>Karl Marx: ''Das Kapital.'' Band III (MEW 25), S. 233.</ref> beziehungsweise dass sie es „nicht zu erklären wusste“.<ref>A. a. O., S. 233.</ref> Es handelt sich also ebenfalls um eine Neuerung von Marx gegenüber der klassischen Ökonomie, die er für sich in Anspruch nahm.
 
10.) Friedrich Engels führt in „Ergänzung und Nachtrag zum III.Buche des Kapital“ 1895 Conrad Schmidt an, der in einem Artikel über den 3.Band des „Kapital“ in Nr.22 von „Sozialpolitisches Centralblatt“ vom 25. Februar 1895 den Nachweis führte, dass die
: „… Marxsche Ableitung des Durchschnittsprofits vom Mehrwert zum ersten Mal eine Antwort auf die von der bisherigen Ökonomie nicht einmal aufgeworfene Frage gibt, wie denn die Höhe dieser Durchschnittsprofitrate bestimmt werde<ref>vergleiche dazu Marx’ Angabe in ''Das Kapital'' Band III (MEW 25), S. 224.</ref> und wie es komme, dass sie sage<''n wir''> 10 oder 15 Prozent und nicht 50 oder 100 Prozent <''gross''> ist.“<ref>A. a. O., S. 904, Text redigiert, in spitzen Klammern Einfügung.</ref>
 
11.) Zu den Neuerungen von Marx gehört schließlich auch die Kritik der Ricardo’schen Grundrententheorie im Band III des „Kapital“ und ihre Weiterentwicklung. Lenin weist in seiner etwa 1913 geschriebenen Arbeit „Karl Marx (Kurzer biographischer Abriss mit einer Darlegung des Marxismus)“ darauf hin, dass Marx „restlos den Irrtum Ricardos“ aufgedeckt habe, die Differentialrente setze eine allmähliche Bodenverschlechterung voraus.<ref>Lenin: ''Karl Marx (Kurzer biographischer Abriss mit einer Darlegung des Marxismus).'' LW 21, S. 56f.</ref> In diesem Zusammenhang entwickelte Marx seine Darstellung der absoluten Rente als Folge des Monopols des Bodeneigentums.


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Marxistische Wirtschaftstheorie}}
== Literatur ==
=== Klassische Darstellungen ===


* {{WikipediaDE|Sage}}
* Karl Marx: ''Das Kapital''. Band I – III (MEW 23–25), Dietz Verlag, Berlin 1975.
* {{WikipediaDE|Legende}}
* Karl Marx: ''Theorien über den Mehrwert''. Band I–III (MEW 26.1–26.3), Dietz Verlag Berlin 1965.
* {{WikipediaDE|Märchen}}


== Literatur ==
=== Weiterführung und Vertiefung ===
* Hans-Peter Ecker: ''Die Legende. Kulturanthropologische Annäherung an eine literarische Gattung'' (= ''Germanistische Abhandlungen'', Band 76), Metzler, Stuttgart / Weimar 1993, ISBN 3-476-00899-1 (Habilitation Universität Passau 1991, XI, 397 Seiten).  
* Hans-Georg Backhaus: ''Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik'', Freiburg i. Br. 1997.
* Hubertus Halbfas: ''Die Wahrheit der Legende''. In: Ewald Volgger (Hrsg.): ''Sankt Georg und sein Bilderzyklus in Neuhaus, Böhmen (Jindřichův Hradec). Historische, kunsthistorische und theologische Beiträge'' (= ''Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens'', Band 57). Elwert, Marburg 2002, ISBN 3-7708-1212-3.
* Henryk Grossmann: ''Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems''. Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1967.
* Siegfried Ringler: ''Zur Gattung Legende. Versuch einer Strukturbestimmung der christlichen Heiligenlegende des Mittelalters.'' In: Peter Kesting (Hrsg.): ''Würzburger Prosastudien II. Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters. Festschrift für Kurt Ruh zum 60. Geburtstag.'' München 1975 (''Medium Aevum'' 31), S. 255–270.
* Henryk Grossmann: ''Aufsätze zur Krisentheorie''. Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1971.
* Hellmut Rosenfeld: ''Legende.'' 4., verbesserte Auflage. Metzler, Stuttgart 1982, ISBN 3-476-14009-1.
* Henryk Grossmann: ''Marx, die klassische Nationalökonomie und das Problem der Dynamik''. Europäische Verlagsanstalt Frankfurt, Europa Verlag, Wien 1969.
* Herbert Walz (Hrsg.): ''Legende'' (= ''Themen, Texte, Interpretationen'', Band 7). Buchner, Bamberg 1986, {{falsche ISBN|3-7661-4337-6}}  (Aufsätze zur Gattungstheorie sowie beispielhafte Texte).
* Michael Heinrich: ''Kritik der politischen Ökonomie : eine Einführung''. Schmetterling Verlag, Stuttgart, 2004.
* Rosa Luxemburg: ''Die Akkumulation des Kapitals''. (Gesammelte Werke V) Dietz Verlag, Berlin 1975.
* Rosa Luxemburg: ''Die Akkumulation des Kapitals oder was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik''. (Gesammelte Werke V) Dietz Verlag, Berlin 1975.
* Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967
* Ernest Mandel: ''Marxistische Wirtschaftstheorie.'' Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967.
* Helmut Reichelt: ''Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx.'' Freiburg i. Br. 2001. Ursprünglich erschienen 1970 in Frankfurt am Main und Wien mit einem Vorwort von Iring Fetscher, zugl. Diss. Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
* {{Literatur
|Autor = Roman Rosdolsky
|Titel = Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital‘. Der Rohentwurf des Kapital 1857–1858
|Verlag = Europäische Verlagsanstalt (EVA)/Europa Verlag
|Ort = Frankfurt am Main/Wien
|Jahr = 1968
|Kommentar = Posthum veröffentlicht. Band 1, ISBN 3-434-45003-3; Band 2, ISBN 3-434-45004-1; Band 3, ISBN 3-434-45041-6.
}}
* Thomas T. Sekine: ''The Dialectic of Capital. A Study of the Inner Logic of Capitalism.'' 2 Bände, Tokio 1986.
* Dieter Wolf: [http://www.dieterwolf.net/pdf/DialekWid(Teil2x,223).pdf Auswahl aus: ''Der dialektische Widerspruch im Kapital.''] (PDF; 478&nbsp;kB) ''Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie.'' Hamburg 2002, ISBN 3-87975-889-1.
* Ansgar Knolle-Grothusen, Stephan Krüger, Dieter Wolf: ''Geldware, Geld und Währung. Grundlagen zur Lösung des Problems der Geldware.'' Hamburg 2009, ISBN 978-3-88619-345-5.
 
=== Sonstiges ===
 
* ''Politische Ökonomie Kapitalismus Sozialismus''. Dietz Verlag Berlin 1977.
* Platon: ''Der Staat''. (Werke Band III) Akademie Verlag, Berlin 1987.
* ''Karl Marx und Friedrich Engels: Briefwechsel''. Band II + IV, Dietz Verlag, Berlin 1950.
* Karl Marx, Friedrich Engels: ''Manifest der kommunistischen Partei''. (MEW 4) Dietz Verlag, Berlin.
* Lenin: ''Offener Brief an Boris Souvarine''. (LW 23) Dietz Verlag, Berlin 1972.
* Fred Moseley (Hrsg.): ''Marx’s Method in ''Capital'' – A Reexamination.'' Humanities Press, New Jersey 1993.


== Weblinks ==
== Weblinks ==
{{Wiktionary}}
* [http://marxmyths.org/chris-arthur/article2.htm The Myth of ‚Simple Commodity Production‘], Christopher J. Arthur, 2005.
{{Wiktionary|Märchen}}
* [http://www.trend.infopartisan.net/litlisten/poloek/index.html Linksammlung von Überblickstexten zur Kritik der Politischen Ökonomie]
{{Wiktionary|Sage}}
{{Wikiquote|Legende}}
{{commonscat|Legends|Legende}}


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
<references />
<references />


[[Kategorie:Sage]]
[[Kategorie:Wirtschaftswissenschaft]]
[[Kategorie:Legende|!]]
[[Kategorie:Wirtschaftstheorie]]
[[Kategorie:Märchen]]
[[Kategorie:Fiktionale Literatur]]
 
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{{Wikipedia}}
{{Wikipedia}}

Version vom 10. September 2017, 22:20 Uhr

Die marxistische Wirtschaftstheorie – die politische Ökonomie auf der Grundlage von Das Kapital von Karl Marx – bildet sowohl ihrem Umfang als auch ihrem Inhalt nach den Hauptteil der marxistischen Gesellschaftstheorie (Historischer Materialismus). Sie untersucht die ökonomische Funktionsweise der „bürgerlichen“, „kapitalistischen“ Gesellschaft gemäß der Ansicht von der historischen Begrenztheit einer jeden Gesellschaftsformation. Diese werden seiner Meinung nach wesentlich durch die Entwicklung der Produktivkräfte vorangetrieben und durch spezifische Produktionsverhältnisse gekennzeichnet. Im Besonderen setzt sich Marx mit den theoretischen Ansätzen der klassischen Nationalökonomie auseinander, insbesondere mit Adam Smith und David Ricardo. Von diesen unterscheidet er die „Vulgärökonomie“, die er im Gegensatz dazu wegen deren oberflächlichen Anschauungen vom Wirtschaften und der Apologetik der bestehenden Verhältnisse grundsätzlich ablehnt. Die marxistische Wirtschaftstheorie selbst weist, wie jede groß-angelegte ökonomische Theorie, noch viele ungeklärte Fragen und umstrittene Punkte auf.

„Kritik der politischen Ökonomie“

Der erste Band der Trilogie Das Kapital
Manuskriptseite des Kapitals

Ziel, Methode und Konzept des Kapital

Schon mit dem Titel „Das Kapital“ bringt Karl Marx deutlich zum Ausdruck, was seit der Quesnayschen Revolution in der ökonomischen Theorie deren zentrale Kategorie darstellt: das Kapital.[1] Marx integriert in seine theoriegeleitete Darstellung zwar auch die geschichtliche Dimension, so etwa die „ursprüngliche Akkumulation“ oder das Arbeitsrecht in England im 19. Jahrhundert und die Problemgeschichte der ökonomischen Theorien. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, das Kapital sei „wesentlich ein historisches Werk“.[2] Denn Marx sieht dessen Schwerpunkt in der Analyse und theoretischen Darstellung der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft:

„Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. (…) An und für sich handelt es sich nicht um den höheren oder niederen Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen“ [= Gegensätze], „welche aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion entspringen. Es handelt sich um diese <Natur-> Gesetze selbst.“[3]

Daher sagt er auch im Band I des Kapital:

„… es ist der letzte Endzweck dieses Werkes, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen.“[4]

Dabei ging es ihm um einen

„… wissenschaftlichen Versuch zur Revolutionierung einer Wissenschaft.“[5]

Seine grundsätzliche Methode bezeichnete er in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie als von den einzelnen Bestimmungen der Ökonomie (wie Ware, Tauschwert usw.) zu den komplexen Zusammenhängen aufsteigend:

„Die Ökonomen des 17. Jahrhunderts z. B. fangen immer mit dem lebendigen Ganzen, der Bevölkerung, der Nation, Staat, mehreren Staaten etc. an; sie enden aber immer damit, daß sie durch Analyse einige bestimmende abstrakte, allgemeine Beziehungen, wie Teilung der Arbeit, Geld, Wert etc. herausfinden. Sobald diese einzelnen Momente mehr oder weniger festgestellt und abstrahiert waren, begannen die ökonomischen Systeme, die von den einfachen <Momenten>, wie Arbeit, Teilung der Arbeit, Bedürfnis, Tauschwert, aufsteigen bis zum Staat, Austausch der Nationen und Weltmarkt. Das letztere ist offenbar die wissenschaftlich richtige Methode.“[6]
Theorien über den Mehrwert, 1956

Diese Konzeption der Darstellung lag auch dem ursprünglichen Plan für sein ökonomisches Werk zugrunde, das mit der „Kritik der politischen Ökonomie“ beginnen und in sechs Teilen die Themen „Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, auswärtiger Handel, Weltmarkt“ umfassen sollte,[7] wobei er den ersten Band des Kapital anfänglich noch als Fortsetzung seiner Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie ansah. Später änderte er dieses Konzept seines Werkes zugunsten der jetzigen vierbändigen Darstellung des Kapital ab (Produktionsprozess des Kapital im Band I, Zirkulationsprozess des Kapitals in Band II, Gesamtprozess des Kapitals im Band III und Theoriegeschichte in den „Theorien über den Mehrwert“ als Band IV des Kapital), behielt aber die Methode bei. Die historischen Darstellungen dienten ihm dabei zur Illustration, so wie er bereits in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie geschrieben hatte, dass das Abstrakte zum Konkreten entwickelt werden muss.

Dieser Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten resultiert aus der dialektischen Darstellungsmethode Hegels. Dessen Kategorienlehre übertrug Marx auf die Ökonomie, in der es um ökonomische Kategorien, d. h. ökonomische Formen, gehe, wie es Helmut Reichelt in einem bekannten Zitat formulierte:

„[W]as – so könnte man den Marxschen Ansatz in Form einer Frage zusammenfassen – verbirgt sich in den Kategorien selbst; was ist der eigentümliche Gehalt der ökonomischen Formbestimmtheiten, also der Warenform, der Geldform, der Kapitalform, der Form des Profits, des Zinses usw.? Während die bürgerliche politische Ökonomie generell dadurch charakterisiert ist, daß sie die Kategorien äußerlich aufgreift, besteht Marx auf einer strengen Ableitung der Genesis dieser Formen – eine Programmatik, die unmittelbar an Hegels Kritik der Kantischen Transzendentalphilosophie erinnert.“[8]

Die Neuerungen gegenüber der klassischen Ökonomie

1.) In seinem Brief an Engels vom 8. Januar 1868 bezeichnet Marx als erstes der „drei grundneuen Elemente des Buches“ [= des 1. Bandes des „Kapital“], dass alle frühere Ökonomie die Teile, in die sich der Mehrwert als „Profit“, „Rente“ und „Zins“ teilt, als gegeben betrachtet hat, während sie von ihm erst in der allgemeinen Form des Mehrwerts behandelt wurden.[9]

2.) In seiner Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ schrieb Marx bereits 1859:

„Die Analyse der Ware auf Arbeit in Doppelform:
  • des Gebrauchswertes auf reale Arbeit oder zweckmäßig produktive Tätigkeit,
  • des Tauschwertes auf Arbeitszeit oder gleiche gesellschaftliche Arbeit,
ist das Endergebnis der Kritik[10] der mehr als anderthalbhundertjährigen Forschungen der klassischen politischen Ökonomie, die in England mit William Petty, in Frankreich mit Boisgilbert beginnt, in England mit Ricardo, in Frankreich mit Sismondi abschließt.“[11]

Und in Band 1 des „Kapital“ führt er 1867 weiter aus:

„Diese zwieschlächtige Natur der in der Ware enthaltenen Arbeit ist zuerst von mir kritisch nachgewiesen worden.“[12]

Diese Unterscheidung wird auch in seinem bereits angeführten Brief an Engels vom 8. Januar 1868 als zweites der „drei grundneuen Elemente“ des Kapital bezeichnet.[9] Er betrachtete dies also als eine wesentliche Neuerung gegenüber der klassischen politischen Ökonomie, die er sich selbst zurechnete. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung formte Marx die von der klassischen politischen Ökonomie übernommenen Kategorien um und betrachtete sie jeweils getrennt unter ihrer Wert- und ihrer Stoffseite. Hierin liegt nach Henryk Grossmann Marx’ eigene Neuerung gegenüber seinen Vorgängern.[13]

3.) Als dritte der drei Neuerungen gegenüber der klassischen Ökonomie gibt Marx in dem genannten Brief an Engels vom 8. Januar 1868 an, „zum erstenmal“ an den „beiden Formen des Arbeitslohns: Zeitlohn und Stücklohn“ den Arbeitslohn als eine „irrationale Erscheinungsform eines dahinter versteckten Verhältnisses“ dargestellt zu haben.[9]

4.) Im Unterschied zur klassischen Ökonomie unterscheidet Marx die Begriffe Arbeit und Arbeitskraft. Die Arbeit hat keinen Wert oder Preis, sondern die Arbeiter verkaufen an die Kapitalisten ihre Arbeitskraft als eine Ware, deren Wert durch die Arbeitswertlehre bestimmt wird.[14][15] Der Kapitalist setzt die von ihm gekaufte Arbeitskraft im Produktionsprozess ein, und zwar nicht nur solange, bis der Wert der Arbeitskraft erstattet ist, sondern länger, so dass ihm ein Mehrwert entsteht.

5.) Eine weder von Marx noch von Engels besonders hervorgehobene, aber auf Marx zurückgehende Neuerung besteht in seiner Erkenntnis im Band I des „Kapital“, dass kapitalistische Gesellschaften zu großen Teilen von einem Warenfetisch bestimmt werden.[16] Analog zur Projektionstheorie ist damit der Umstand gemeint, dass gesellschaftliche Produktionsverhältnisse als stoffliche Eigenschaften der Arbeitsgegenstände und daher historische und durch gesellschaftliche Umstände geschaffene Kategorien wie Ware und (Tausch-) Wert als natürliche und unabänderliche Tatsachen erscheinen.

6.) Nach Marx gebe es bei den Ökonomen die Tendenz, die herrschenden Produktionsverhältnisse als natürliche Gesetze aufzufassen und darzustellen, dem entgegnet er mit der Theorie, dass die ökonomischen Kategorien der Analyse nur theoretische, abstrakte Ausdrücke der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse darstellen und daher ebenso wenig ewig seien wie die Produktionsverhältnisse selbst, sie sind „historische, vergängliche, vorübergehende Produkte.“[17]

7.) Im Band I des „Kapital“ nimmt Marx die Bildung der „Kategorien: variables und konstantes Kapital“ ausdrücklich für sich in Anspruch. Sie waren zwar schon vorher von der klassischen Ökonomie inhaltlich beschrieben, aber nicht benannt und mit den von Adam Smith gebildeten Kategorien „fixes“ und „zirkulierendes Kapital“ durcheinandergebracht worden.[18]

8.) In seinem Nachwort zur zweiten Auflage von Band I des „Kapital“ weist Marx noch darauf hin, dass der Professor der politischen Ökonomie an der Universität Kiew, N. Sieber, 1871 in seiner Schrift „D. Ricardos Theorie des Werts und des Kapitals etc.“ ihm für seine „Theorie des Wertes, des Geldes und des Kapitals“ bescheinigte und „nachgewiesen“ habe, „in ihren Grundzügen“ eine „notwendige Fortbildung der Smith-Ricardoschen Lehre“ zu sein.[19]

9.) In Band III des „Kapital“ führt Marx dann an, dass es „aller bisherigen Ökonomie“ nicht gelungen sei, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate „zu entdecken“,[20] beziehungsweise dass sie es „nicht zu erklären wusste“.[21] Es handelt sich also ebenfalls um eine Neuerung von Marx gegenüber der klassischen Ökonomie, die er für sich in Anspruch nahm.

10.) Friedrich Engels führt in „Ergänzung und Nachtrag zum III.Buche des Kapital“ 1895 Conrad Schmidt an, der in einem Artikel über den 3.Band des „Kapital“ in Nr.22 von „Sozialpolitisches Centralblatt“ vom 25. Februar 1895 den Nachweis führte, dass die

„… Marxsche Ableitung des Durchschnittsprofits vom Mehrwert zum ersten Mal eine Antwort auf die von der bisherigen Ökonomie nicht einmal aufgeworfene Frage gibt, wie denn die Höhe dieser Durchschnittsprofitrate bestimmt werde[22] und wie es komme, dass sie sage<n wir> 10 oder 15 Prozent und nicht 50 oder 100 Prozent <gross> ist.“[23]

11.) Zu den Neuerungen von Marx gehört schließlich auch die Kritik der Ricardo’schen Grundrententheorie im Band III des „Kapital“ und ihre Weiterentwicklung. Lenin weist in seiner etwa 1913 geschriebenen Arbeit „Karl Marx (Kurzer biographischer Abriss mit einer Darlegung des Marxismus)“ darauf hin, dass Marx „restlos den Irrtum Ricardos“ aufgedeckt habe, die Differentialrente setze eine allmähliche Bodenverschlechterung voraus.[24] In diesem Zusammenhang entwickelte Marx seine Darstellung der absoluten Rente als Folge des Monopols des Bodeneigentums.

Siehe auch

Literatur

Klassische Darstellungen

  • Karl Marx: Das Kapital. Band I – III (MEW 23–25), Dietz Verlag, Berlin 1975.
  • Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. Band I–III (MEW 26.1–26.3), Dietz Verlag Berlin 1965.

Weiterführung und Vertiefung

  • Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg i. Br. 1997.
  • Henryk Grossmann: Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems. Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1967.
  • Henryk Grossmann: Aufsätze zur Krisentheorie. Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1971.
  • Henryk Grossmann: Marx, die klassische Nationalökonomie und das Problem der Dynamik. Europäische Verlagsanstalt Frankfurt, Europa Verlag, Wien 1969.
  • Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie : eine Einführung. Schmetterling Verlag, Stuttgart, 2004.
  • Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. (Gesammelte Werke V) Dietz Verlag, Berlin 1975.
  • Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals oder was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik. (Gesammelte Werke V) Dietz Verlag, Berlin 1975.
  • Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967
  • Ernest Mandel: Marxistische Wirtschaftstheorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967.
  • Helmut Reichelt: Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx. Freiburg i. Br. 2001. Ursprünglich erschienen 1970 in Frankfurt am Main und Wien mit einem Vorwort von Iring Fetscher, zugl. Diss. Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
  •  Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital‘. Der Rohentwurf des Kapital 1857–1858. Europäische Verlagsanstalt (EVA)/Europa Verlag, Frankfurt am Main/Wien 1968 (Posthum veröffentlicht. Band 1, ISBN 3-434-45003-3; Band 2, ISBN 3-434-45004-1; Band 3, ISBN 3-434-45041-6.).
  • Thomas T. Sekine: The Dialectic of Capital. A Study of the Inner Logic of Capitalism. 2 Bände, Tokio 1986.
  • Dieter Wolf: Auswahl aus: Der dialektische Widerspruch im Kapital. (PDF; 478 kB) Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie. Hamburg 2002, ISBN 3-87975-889-1.
  • Ansgar Knolle-Grothusen, Stephan Krüger, Dieter Wolf: Geldware, Geld und Währung. Grundlagen zur Lösung des Problems der Geldware. Hamburg 2009, ISBN 978-3-88619-345-5.

Sonstiges

  • Politische Ökonomie Kapitalismus Sozialismus. Dietz Verlag Berlin 1977.
  • Platon: Der Staat. (Werke Band III) Akademie Verlag, Berlin 1987.
  • Karl Marx und Friedrich Engels: Briefwechsel. Band II + IV, Dietz Verlag, Berlin 1950.
  • Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei. (MEW 4) Dietz Verlag, Berlin.
  • Lenin: Offener Brief an Boris Souvarine. (LW 23) Dietz Verlag, Berlin 1972.
  • Fred Moseley (Hrsg.): Marx’s Method in Capital – A Reexamination. Humanities Press, New Jersey 1993.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Robert E. Eagly: The Structure of Classical Economic Theory. Oxford University Press, New York London Toronto 1974, S. 3.
  2. Karl Kautsky: Karl Marx’ ökonomische Lehren. 20. Auflage. 1921, S. VIII, zit. nach Henryk Grossman: Aufsätze zur Krisentheorie. S. 13.
  3. Karl Marx: Das Kapital. Band I (MEW 23), S. 12, in spitzen Klammern Einfügung.
  4. a. a. O., S. 15f., Text redigiert.
  5. Karl Marx: „Zur Kritik der politischen Ökonomie.“ (MEW 13), S. 21.
  6. Karl Marx: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie. (MEW 13) S. 632, Text redigiert und in spitzen Klammern Einfügung.
  7. siehe Karl Marx Zur Kritik der politischen Ökonomie (MEW 13), S. 7.
  8. Helmut Reichelt, zitiert in: Ken Kubota: Die dialektische Darstellung des allgemeinen Begriffs des Kapitals im Lichte der Philosophie Hegels. Zur logischen Analyse der politischen Ökonomie unter besonderer Berücksichtigung Adornos und der Forschungsergebnisse von Rubin, Backhaus, Reichelt, Uno und Sekine. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2009, S. 199–224, hier S. 199.
  9. 9,0 9,1 9,2 Marx Engels Briefwechsel. Band IV, S. 9.
  10. Bei Marx: „das kritische Endergebnis“
  11. Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. (MEW 13) S. 37, Text redigiert.
  12. Karl Marx: Das Kapital. Band I (MEW 23), S. 56.
  13. Henryk Grossmann: Marx, die klassische Nationalökonomie und das Problem der Dynamik. S. 22ff.
  14. Vgl. Kapital Band I, 2. Abschnitt, 4. Kapitel.
  15. Vgl. z.B. Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. 3. Auflage. 2003, Münster, S. 258.
  16. Siehe Karl Marx: Das Kapital. Band I (MEW 23), S. 86f.:
    „Dies nenne ich“ (!) „den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt …“
  17. Marx: Elend der Philosophie. MEW 4: 130; vgl. auch Marx: Das Kapital. MEW 23: 95 f., speziell auch Fußnote 33.
  18. Karl Marx: Das Kapital. Band I (MEW 23), S. 638, Fußnote 67.
  19. A. a. O., S. 22, Text redigiert.
  20. Karl Marx: Das Kapital. Band III (MEW 25), S. 233.
  21. A. a. O., S. 233.
  22. vergleiche dazu Marx’ Angabe in Das Kapital Band III (MEW 25), S. 224.
  23. A. a. O., S. 904, Text redigiert, in spitzen Klammern Einfügung.
  24. Lenin: Karl Marx (Kurzer biographischer Abriss mit einer Darlegung des Marxismus). LW 21, S. 56f.


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