Tabakabhängigkeit

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Klassifikation nach ICD-10
F17 Psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak
F17.2 Abhängigkeitssyndrom
ICD-10 online (WHO-Version 2016)

Tabakabhängigkeit bezeichnet die Abhängigkeit von Nicotin, einem Alkaloid der Tabakpflanze, in Wechselwirkung mit verschiedenen weiteren Inhaltsstoffen des Tabaks oder des Tabakrauchs. Tabakabhängigkeit entsteht meistens und in besonders ausgeprägter Weise durch das Rauchen von nicotinhaltigem Tabak. Allerdings kann Nicotin in jeder Applikationsform abhängig machen, wobei es jedoch erhebliche Unterschiede gibt, ob es geraucht, gekaut oder geschnupft wird.

Wirkung von Tabakrauch

Tabakrauch stellt mit Nicotin in Verbindung mit anderen Stoffen eine schnell süchtig machende Substanz dar. Sie besitzt nicht nur psychostimulierende Wirkungen wie Kokain oder Amphetamin, sondern stößt auch im Gehirn die gesamte Breite der Neuromodulatoren an.[1]

Nicotin greift in Verbindung mit anderen Stoffen an zwei verschiedenen Kompartimenten an, den präsynaptischen und postsynaptischen Acetylcholinrezeptoren („Nicotinrezeptoren“). Bei Bindung an die Rezeptoren kommt es zur Ausschüttung unterschiedlicher Neurotransmitter (chemische Stoffe, die dem Informationsaustausch zwischen den einzelnen Nervenzellen dienen) wie Dopamin, Serotonin, Noradrenalin und Endorphinen. Diese beeinflussen verschiedene funktionale Strukturen des Gehirns, wobei es individuelle Variationen gibt. Die nicotinischen Acetylcholinrezeptoren haben einen sehr engen Bezug zum präfrontalen Cortex. Dadurch werden womöglich zeitweise Hirnfunktionen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Lernen durch Nicotin verbessert. Wird jedoch Nicotin in Verbindung mit Tabakrauch betrachtet, kommen Untersuchungen zu dem Schluss, dass Gedächtnisleistungen durch Tabakmissbrauch nachlassen.[2]

Abhängigkeitspotenzial

Vergleiche von Tierstudien und Studien über menschlichen Drogenkonsum zeigen auf, dass pures Nicotin nur wenig Suchtpotenzial, Tabakzigarettenrauch jedoch ein sehr hohes Suchtpotenzial aufweist.[3][4][5] Nicotin ist mitverantwortlich für die Abhängigkeit von Tabakerzeugnissen und hat in Verbindung mit anderen Stoffen im Tabakrauch ein hohes Abhängigkeitspotenzial und kann sehr schnell zu einem abhängigen Verhalten führen.[6][7][8] Laut einem im Jahr 2007 veröffentlichten Papier von D. Nutt et al. liegt das Abhängigkeitspotenzial von Tabakrauch zwischen Alkohol und Kokain. Genauer gesagt, liegt das physische Abhängigkeitspotential bei dem von Alkohol oder Barbituraten und das psychische Abhängigkeitspotenzial bei dem von Kokain.[9] Es reichen wenige Zigaretten oder wenige Tage mit kleinem Zigarettenkonsum bis zum Eintritt der körperlichen Abhängigkeit. Das Abhängigkeitspotenzial von oral aufgenommenem Nicotin ist deutlich geringer, Pflaster haben fast kein Abhängigkeitspotenzial.[10]

Studien zu der Frage, ob schon der Konsum einer einzigen Zigarette genügt, um typische Abhängigkeitssymptome, wie innere Unruhe, Reizbarkeit und Konzentrationsschwierigkeiten hervorzurufen und einen Verlust der persönlichen Selbstbestimmung (Autonomie) herbeizuführen, führten bisher zu keinen zuverlässigen Ergebnissen, da sie teils unhaltbare oder eigenwillige Suchtdefinitionen und oberflächliche Kriterien für die Diagnose „Nikotinabhängigkeit“ zugrundelegten, und die Daten voreingenommen interpretiert wurden.[11]

Vor allem ist von Bedeutung, dass Nicotin, in Verbindung mit anderen Stoffen im Tabakrauch, unterschwellig das Verlangen nach einem Tabakerzeugnis erzeugt und durch das immer kürzer werdende gewöhnungsbedingte Reiz-Reaktions-Intervall eine immer stärker ausgeprägte Abhängigkeit in Form von erhöhtem Tabakkonsum entsteht. Mögliche Entzugssymptome können Gereiztheit, Unruhe, Kreislaufbeschwerden, Kopfschmerzen und Schweißausbrüche sein. Die Symptome verschwinden jedoch in 5–30 Tagen.

Man weiß heute, dass bereits nach drei Wochen Abstinenz keine messbare Veränderung der Acetylcholinrezeptoren mehr vorhanden ist – sie sich also wieder auf Normal-Niveau eingestellt haben. Während dieser Zeit kann es zu Unruhe und Gereiztheit bis hin zu Aggressivität sowie zu Depressionen kommen. Das Nicotin selbst ist zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr im Gehirn nachweisbar (bis max. drei Tage nach Beendigung des Nicotinkonsums).

Im Ergebnis ist festzustellen, dass während des Entzugs weniger die Abhängigkeit von der vom Tabakrauch erzeugten Wirkung von Bedeutung ist, was viele gescheiterte Therapien mit Nicotinsubstituten zeigen, sondern vielmehr der durch die nicotinerge Stimulation des Nucleus accumbens induzierte Lernprozess. In geeigneter Weise kann dieser Lernprozess nur durch starke Selbstmotivation oder professionelle Verhaltenstherapien beeinflusst oder umgekehrt werden. Nicotinersatzpräparate und andere Medikamente können den Entzug unterstützen.

Die psychische Abhängigkeit durch eingeprägte Verhaltensmuster, die sich im Laufe einer „Raucherkarriere“ entwickeln, kann nach dem körperlichen Entzug auch nach Jahren noch vorhanden sein.

Die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Rauchern, die ohne Hilfsmittel mit dem Tabakkonsum aufhören, liegt bei 97 % innerhalb von sechs Monaten nach dem Rauchstopp. Bis 2012 ging man davon aus, dass Nicotinersatzpräparate bei korrekter Dosierung und weiterer fachlicher Anleitung die Erfolgschancen um drei Prozent steigern können.[12] Neuere Studien nach 2013 sagen aus, dass die Rückfallrate bei denen, die Nicotinersatzpräparate zum Aufhören verwendet haben, genau so hoch war wie bei denen, die ohne Hilfsmittel aufgehört haben.[13][14]

Zusatzstoffe als Abhängigkeitsverstärker

Zahlreiche Substanzen, die das Abhängigkeitspotenzial des Tabakrauchs erhöhen, können dem Tabak beigemischt werden.[15]

Eine wissenschaftliche Studie des niederländischen RIVM (Rijksinstituut voor Volksgezondheid en Milieu – Nationales Institut für Volksgesundheit und Umwelt) untersuchte zwei Zigarettenmarken mit deutlich differierenden Ammoniumgehalten im Tabak (Marke 1 enthielt 0,89 mg Ammonium/g Tabak; Marke 2 enthielt 3,43 mg Ammonium/g Tabak), aber gleichem Nikotingehalt im Rauch. 51 Studienteilnehmer rauchten je eine der Zigaretten (morgens Marke 1 und nachmittags Marke 2). Beide Marken mussten nach einem identischen Zugprotokoll geraucht werden. Die individuellen Zugvolumina wurden für jeden Teilnehmer bestimmt. Nach dem Rauchen wurden die Nikotinaufnahme sowie die Nikotinausscheidung im Blut gemessen. Es wurden keine Unterschiede in der Nikotinaufnahme zwischen den beiden Zigarettenmarken gefunden.[16] Der Ammoniumgehalt im Tabak hat demnach keinen Einfluss auf die Nikotinaufnahme.

Ökonomische Aspekte des Tabakrauchens

Je nach Einbeziehung und Betrachtung der Tabaksteuer sowie der Folgen für das Gesundheits- und Sozialsystem (Arbeitsausfälle, Behandlungskosten, früheres Sterben, geringere Rentenzahlungen, sinkende[17] Tabaksteuereinnahmen …) schwanken die Berechnungen der durch Tabakkonsum verursachten Kosten erheblich.[18]

Therapiemöglichkeiten

Als Möglichkeiten zur Raucherentwöhnung gelten:[19]

Für die medikamentöse Therapie stehen derzeit drei Wirkstoffe zur Verfügung (Nikotinpräparate, Bupropion, Vareniclin), welche bei der Entwöhnung helfen können. Bei allen wurden Fälle von unerwünschten Wirkungen auf das Herz-Kreislauf-System dokumentiert. Bei Vareniclin wurden Fälle von Depression, Gedanken an Selbsttötung und vollzogener Selbsttötung, Aggressivität und auffälligem Verhalten dokumentiert. Dies führte in den USA dazu, dass das Medikament mit Warnhinweisen versehen werden muss.[20][21] Eine neue Studie konnte nun bezüglich des Herz-Kreislauf-Risikos Entwarnung geben.[22]

Wenn die Gewohnheit stärker ist als die reine Nikotinabhängigkeit (die Sekundärfolgen des Rauchens gelten aber auch bei Ersatzstoffen):

Siehe auch

Weblinks

  • Rauchen: Zahlreiche Giftstoffe Zug um Zug. Im Rauch gibt es etwa 4000 chemische Substanzen, im Tabak 600 Zusatzstoffe. 3sat, 28. Mai 2004, abgerufen am 14. September 2011.
  • Tabakentwöhnung. In: Lungeninformationsdienst. Helmholtz Zentrum München, abgerufen am 14. September 2011.
  •  Anil Batra: Therapie der Tabakabhängigkeit. In: Deutsches Ärzteblatt. Nr. 108(33), 4. Juli 2011, S. 555 ff. (Artikel, abgerufen am 14. September 2011).
  • Peter Spork: Tabak als Einstiegsdroge Berliner Zeitung, 15. Februar 2012 (peter-spork.de)

Einzelnachweise

  1. Lutz Schmidt auf der 2. Nikotin-Konferenz der Deutschen Gesellschaft für Nikotinforschung in Erfurt.
  2.  Tom Heffernan und weitere: Self-rated everyday and prospective memory abilities of cigarette smokers and non-smokers: a web-based study. In: Drug and Alcohol Dependence. 3. Auflage. Bd. 78, 1. Juni 2005, S. 235 ff. (Abruf kostenpflichtig, sciencedirect.com).
  3. James D Belluzzi et al.: Acetaldehyde Enhances Acquisition of Nicotine Self-Administration in Adolescent Rats,(20. Oktober 2004), abgerufen am 1. August 2013.
  4. J. E. Rose, W. A. Corrigall: Nicotine self-administration in animals and humans: similarities and differences. In: Psychopharmacology. Band 130, Nummer 1, März 1997, S. 28–40, ISSN 0033-3158. PMID 9089846. (Review).
  5. SCENIHR: Fragen zu Tabakzusatzstoffen: Ist die Entwicklung von Nicotinsucht dosisabhängig?,(2010), abgerufen am 29. Juli 2013.
  6. Determinants of Tobacco Use and Renaming the FTND to the Fagerström Test for Cigarette Dependence, abgerufen am 28. Juli 2013.
  7. James D Belluzzi et al.: Monoamine Oxidase Inhibitors Allow Locomotor and Rewarding Responses to Nicotine,(14. Dezember 2005), abgerufen am 1. August 2013.
  8. Surgeon General (US): How Tobacco Smoke Causes Disease: The Biology and Behavioral Basis for Smoking-Attributable Disease: A Report of the Surgeon General, Nicotine Addiction: Past and Present,(2010), abgerufen am 29. Juli 2013.
  9. Development of a rational scale to assess the harm of drugs of potential misuse. (PDF; 127 kB) 2007, abgerufen am 9. März 2013.
  10. Harm reduction on nicotin addiction (Seite 98/99)
  11. Reuven Dar, Hanan Frenk: Can one puff really make an adolescent addicted to nicotine? A critical review of the literature. In: Harm Reduction Journal. 7, Nr. 28, 2010. PMID 21067587.
  12. Lindsay F. Stead, Rafael Perera, Chris Bullen, David Mant, Tim Lancaster: Nicotine replacement therapy for smoking cessation. Cochrane Tobacco Addiction Group, 2008, doi:10.1002/14651858.CD000146.pub3
  13. H. R. Alpert et al.: A prospective cohort study challenging the effectiveness of population-based medical intervention for smoking cessation. Center for Global Tobacco Control, Januar 2013, doi:10.1136/tobaccocontrol-2011-050129, PMID 22234781.
  14. D. Kotz, J. Brown, R. West: ‘Real-world’ effectiveness of smoking cessation treatments: a population study Addiction, Bd. 109, Nr. 3, S. 491–499, März 2014, doi:10.1111/add.12429.
  15. Chemische Veränderungen der Zigaretten. Abhängigkeitspotenzial von Zigaretten (DKFZ). Nichtraucherkids – online, abgerufen am 29. September 2011 (Auszüge aus der roten Reihe des DKFZ Heidelberg, Tabakprävention und Tabakkontrolle. Die DKFZ-Website ist allerdings falsch, was Ammoniumverbindungen angeht; die dürfen in Deutschland dem Rauchtabak nicht zugesetzt werden (siehe Tabakverordnung).)
  16. Artikel aus der Zeitschrift Food Chemical Toxicology, abgerufen am 29. November 2011.
  17. Statistik über das Steueraufkommen vom Statistischen Bundesamt. Abgerufen am 23. Februar 2013.
  18. Hanno Charisius: Wer früher stirbt, ist länger günstig, sueddeutsche.de, 1. September 2015, abgerufen am 6. Dezember 2015.
  19. Kombinierte Strategiemodule der Raucherentwöhnung (PDF; 131 kB).
  20. FDA: Safety review update of Chantix (varenicline) and risk of cardiovascular adverse events
  21. A. M. Joseph, S. M. Norman, L. H. Ferry, A. V. Prochazka, E. C. Westman, B. G. Steele, S. E. Sherman, M. Cleveland, D. O. Antonuccio, D. O. Antonnucio, N. Hartman, P. G. McGovern: The safety of transdermal nicotine as an aid to smoking cessation in patients with cardiac disease. In: The New England journal of medicine. Band 335, Nummer 24, Dezember 1996, S. 1792–1798, ISSN 0028-4793. doi:10.1056/NEJM199612123352402. PMID 8943160.
  22. E. J. Mills, K. Thorlund, S. Eapen, P. Wu, J. J. Prochaska: Cardiovascular Events Associated with Smoking Cessation Pharmacotherapies: A Network Meta-Analysis. In: Circulation., S. , doi:10.1161/CIRCULATIONAHA.113.003961.
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