Anarchie

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Anarchie bezeichnet einen Zustand der Abwesenheit von Herrschaft. Er findet hauptsächlich in der politischen Philosophie Verwendung, wo der Anarchismus für eine solche soziale Ordnung wirbt.

Landläufig wird Anarchie auch mit einem durch die Abwesenheit von Staat und institutioneller Gewalt bedingten Zustand gesellschaftlicher Unordnung, Gewaltherrschaft und Gesetzlosigkeit beschrieben und vor allem in den Medien häufig im Schlagwort „Chaos und Anarchie“ verwendet. Die tatsächliche Bezeichnung für einen solchen Zustand ist jedoch Anomie.

Übersicht

Die Staatslehre von Polybios in erweiterter Form:

Anzahl der Herrscher Gemeinwohl Eigennutz
Einer Monarchie Diktatur
Einige Demokratie, Aristokratie Oligarchie
Alle Direkte Demokratie Ochlokratie
Keiner Anarchie Anomie

Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs in der Antike wurde im Laufe der letzten Jahrhunderte in verschiedenartigen philosophischen und humanwissenschaftlichen Denkschulen überformt, die vielgestaltige Gesellschaftsordnungen mit dem Wort „Anarchie“ benennen. Hier sind vor allem die Denkschulen des Anarchismus, in der Anarchie als politische Utopie entwickelt und umzusetzen versucht wird, sowie Vertreter der Sozialanthropologie und der politischen Anthropologie zu nennen, die Gesellschaftsordnungen von bestimmten indigenen Völkern als Anarchien charakterisieren. Entsprechende Kulturen indigener Völker werden von Ethnologen wie Marshall Sahlins als gleichwertig zur westlichen Kultur angesehen.

Allen obigen Anarchien gemeinsam ist per Definition die Abwesenheit von Herrschaft, die als repressiver Modus von Macht verstanden werden kann.[1] Demnach sind bestimmte Machtverhältnisse wie die Beeinflussung durch freiwillig angenommene Autoritäten (Mentoren, Trainer, Berater, etc.) mit Anarchie vereinbar, werden aber nicht durch Repression erzwungen. Insbesondere existiert in Anarchien keine lenkende Zentralgewalt, also kein Staat. Bekannte Anarchien sind dennoch von sozialen Normen und Regeln geprägt, unter anderem zur institutionalisierten Abwehr der Entstehung von Herrschaft.

Neben der Politischen Theorie ist der Begriff der Anarchie als Beschreibung in die Internationalen Beziehungen eingegangen. Alle Metatheorien dieser Disziplin nehmen in unterschiedlichem Maße an, dass Anarchie in den Internationalen Beziehungen bestehe, da es keine weltweite Regulierungsinstanz gebe.

Begriffsgeschichte

Etymologisch wird der Begriff zurückgeführt auf altgr. ἀναρχία anarchía ‚Herrschaftslosigkeit‘; einer Wortbildung aus verneinendem Alpha privativum und ἀρχία archía ‚Herrschaft‘.

Im Laufe der Zeit wurde das Wort „Anarchie“ neutral zur Beschreibung eines Zustandes und zuweilen abwertend zur Beschreibung eines unerwünschten Sachverhaltes verwendet, bevor es schließlich zur Beschreibung eines erwünschten Gesellschaftsmodells diente.

Die Gedankengänge zur Anarchie entstanden bereits im Altertum. Der eigentliche Begriff „Anarchie“ entstand erst im 19. Jahrhundert als Gegenbewegung und politisches Gegenkonzept zur Monarchie und zur Demokratie. Ursprünglich bedeutete Anarchie in der griechischen Antike die Abwesenheit des Alleinherrschers (Archon).

Die Dichter Homer (8. Jahrhundert v. Chr.) und Herodot (490 bis etwa 420/25 v. Chr.) nennen Anarchia eine Gruppe Menschen oder Soldaten „ohne Anführer“. Bei Xenophon (um 580 bis 480 v. Chr.) wird der Begriff erstmals für Herrscherlosigkeit verwendet: die „Anarchia“ ist ein Zeitraum ohne obersten Staatsbeamten, den Archon.[2] Euripides (480-407 v. Chr.) bezeichnet damit Seeleute ohne Leiter. Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) beschrieb Anarchie als „Situation von Sklaven ohne Herren“. Max Nettlau sieht hingegen die bloße Existenz des Wortes „An-Archia“ als Beleg, „dass Personen vorhanden waren, die bewusst die Herrschaft, den Staat verwarfen“, und „erst als dieselben bekämpft und verfolgt wurden, haftete diese Bezeichnung an ihnen im Sinn der der bestehenden Ordnung gefährlichsten Rebellen“.[3]

Das lateinische Lehnwort „anarchia“, das dem antiken Rom nicht bekannt war, taucht zum ersten Mal im Mittelalter auf und wird in seiner negativen Bedeutung verwendet: Niccolò Machiavelli nutzt den Begriff Anarchie zur Beschreibung von Degenerationserscheinungen der Demokratie. Machiavellis Staatstheorie unterscheidet in Anlehnung an Aristoteles zwischen drei positiven (Monarchie, Aristokratie und Demokratie) und drei negativen Herrschaftsformen (Tyrannei, Oligarchie und Anarchie).[2]

Im deutschen Sprachraum wurde Anarchie wahrscheinlich erstmals im „Lexicon Philosophicon“ mit folgender Definition verwendet:

„ANARCHIA est, quando in civitate nullus senatus, judicia, leges. Majus est malum, quam tyrannis“

„ANARCHIE existiert, wenn es keinen Senat, kein Recht und kein Gesetz gibt. Sie ist von größerem Übel als die Tyrannei.“

– Lexicon Philosophicum Terminorum Philosophis Usitatorum[4][5]

Schon im 18. Jahrhundert wurde Anarchie in Lexika zur Beschreibung einer nicht deutlich ablehnend gewerteten Urform von vorstaatlicher Gemeinschaft und Gesellschaft herangezogen. Immanuel Kant definierte Anarchie als „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“. Während der Französischen Revolution wird die Personenbezeichnung „Anarchist“ erstmals mit negativer Wikipedia:Konnotation versehen: Allem Anschein nach ist es der Girondist Jacques Pierre Brissot, der ihn in einer Wahlrede vom 23. Mai 1793 zur Diskreditierung des politischen Gegners benutzt. Im gleichen Jahr formuliert William Godwin in seinem Werk „Enquiry concerning political justice“, dass jedwede obrigkeitliche Gewalt als ein Eingriff in die private Urteilskraft anzusehen sei. Seine Ideen werden lange Zeit nicht aufgenommen. Erst Pierre-Joseph Proudhon bezeichnet sich selbst in positivem Sinne als Anarchist und stellt die wesentlichen Elemente des Anarchismus in seinem Werk „Qu’est-ce que la propriété?“ zusammen. Er formuliert: „Eigentum ist Diebstahl.[6]

Im deutschsprachigen Raum sprach sich Ludwig Börne als erster für Anarchie in der Gesellschaft aus:

„Nicht darauf kommt es an, daß die Macht in dieser oder jener Hand sich befinde: die Macht selbst muß vermindert werden, in welcher Hand sie sich auch befinde. Aber noch kein Herrscher hat die Macht, die er besaß, und wenn er sie auch noch so edel gebrauchte, freiwillig schwächen lassen. Die Herrschaft kann nur beschränkt werden, wenn sie herrenlos – Freiheit geht nur aus Anarchie hervor. Von dieser Notwendigkeit der Revolution dürfen wir das Gesicht nicht abwenden, weil sie so traurig ist. Wir müssen als Männer der Gefahr fest ins Auge blicken und dürfen nicht zittern vor dem Messer des Wundarztes. Freiheit geht nur aus Anarchie hervor – das ist unsere Meinung, so haben wir die Lehren der Geschichte verstanden.“

nach Gustav Landauer: „Börne und der Anarchismus“[7]

Der wissenschaftstheoretische Anarchismus von Paul Feyerabend

In seinen Werken "Wider den Methodenzwang" und "Erkenntnis für freie Menschen" entwickelte Paul Feyerabend eine Position des wissenschaftstheoretischen Anarchismus, welcher vor allem für im Wissenschaftsmainstream unterrepräsentierte Positionen, wie auch etwa die Anthroposophie eine eminente Bedeutung hat.

Siehe auch

Literatur

  • Achim von Borries, Ingeborg Weber-Brandies (Hrsg.): ANARCHISMUS - Theorie, Kritik, Utopie. Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2007, ISBN 978-3-939045-00-7. (Textsammlung). Buchvorstellung auf graswurzel.net.
  • Harold Barclay, Jochen Schmück, Cornelia Krasser, Cornelia Kasteleiner: Völker ohne Regierung: Eine Anthropologie der Anarchie. Libertad Verlag, 1985. ISBN 3-922226-10-8.
  • Pierre Clastres, Karl Markus Michel, Jürgen Habermas, Dieter Henrich, Jacob Taubes, Eva Moldenhauer: Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie. 1. Auflage. Suhrkamp Verlag, 1976, ISBN 3-518-06397-9.
  • Bernd Drücke: Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland. Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998, ISBN 3-932577-05-1.
  • Meyer Fortes, Edward E. Evans-Pritchard (Hrsg.): African Political Systems. Oxford 1940.
  • Gruppe Gegenbilder: Autonomie und Kooperation. SeitenHieb-Verlag, Reiskirchen 2005, ISBN 3-86747-001-4.
  • Robert Graham (Hrsg.): ANARCHISM. A Docoumentray History of Libertarian Ideas.
    • Volume 1: From Anarchy to Anarchism (300CE to 1939). Black Rose Books, Montreal/ New York/ London 2005, ISBN 1-55164-250-6. Inhaltsübersicht auf blackrosebooks.net.
    • Volume 2: The Emergence of the New Anarchism (1939–1977). Inhaltsübersicht Black Rose Books, Montreal/ New York/ London 2008, ISBN 978-1-55164-310-6.
    • Volume 3: The Birth of 21st Century Anarchism (1977–2009).
  • Gustav Landauer: Internationalismus. Ausgewählte Schriften Band 1. Hg. Siegbert Wolf. Verlag Edition AV, Lich 2008, ISBN 978-3-936049-96-1.
  • Rüdiger Haude, Thomas Wagner: Herrschaftsfreie Institutionen: Studien zur Logik ihrer Symbolisierungen und zur Logik ihrer theoretischen Leugnung. Nomos, Baden-Baden 1999, ISBN 3-7890-5955-2.
  • Fritz Kramer, Christian Sigrist: Gesellschaften ohne Staat I. Gleichheit und Gegenseitigkeit. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1983, ISBN 3-434-46006-3.
  • Fritz Kramer, Christian Sigrist: Gesellschaften ohne Staat II. Genealogie und Solidarität. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1987, ISBN 3-434-46020-9.
  • Silke Lohschelder (Hrsg.): AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie. Münster 2000, ISBN 3-89771-200-8.
  • Thomas Paine: Common Sense. Verlag Reclam, Ditzingen 1982, ISBN 3-15-007818-0.
  • Michel Ragon: Das Gedächtnis der Besiegten. (Roman), Verlag Edition AV, Lich 2006, ISBN 3-936049-66-1.
  • Christian Sigrist: Regulierte Anarchie: Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas. 3. Auflage. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1994, ISBN 3-434-46216-3.
  • Was ist eigentlich Anarchie? – Einführung in Theorie und Geschichte des Anarchismus. Karin Kramer Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-87956-700-X.
  • Horst Stowasser: ANARCHIE! Idee, Geschichte, Perspektiven. Edition Nautilus, Hamburg 2007, ISBN 978-3-89401-537-4.
  • Horst Stowasser: Freiheit pur. Die Idee der Anarchie, Geschichte und Zukunft. Eichborn Verlag, Frankfurt (Main) 1995, ISBN 3-8218-0448-3 „Freiheit pur“ als 2007 überarbeitete und erweiterte pdf
  • Nicolas Walter: Betrifft: Anarchismus. Leitfaden in die Herrschaftslosigkeit. (mit Bibliographie anarchistischer Literatur), Libertad Verlag, Berlin (jetzt: Potsdam) 1984, ISBN 3-922226-03-5.
  • Michael Wilk: Macht, Herrschaft, Emanzipation. Trotzdem Verlag, 1999, ISBN 3-931786-16-1.

Weblinks

 Wikiquote: Anarchie – Zitate
 Wiktionary: Anarchie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Commons: Anarchismus - Weitere Bilder oder Audiodateien zum Thema
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Einzelnachweise

  1. Haude/Wagner: Herrschaftsfreie Institutionen, S. 58.
  2. 2,0 2,1 Jochen Schmück: „Anarchie – Zur Geschichte eines Reiz- und Schlagwortes“ im Lexikon der Anarchie, abgerufen 30. April 2008
  3. Jochen Schmück: Anarchie- Zur Geschichte eines Reiz- und Schlagwortes Zit. n. Max Nettlau: „Geschichte der Anarchie“, Bd. I: „Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864“ Berlin 1925 [erw. Reprint o.O.: Bibliothek Thélème 1993], S. 17. Christian Meier ist der Ansicht, dass die negative Bedeutung, die der Begriff „Anarchie“ schon in der griechischen Antike erlangte, sich auf die Existenz „konkreter anarchistischer Gruppen“ zurückführen lässt. Diese Gruppen vertraten jedoch nach seiner Auffassung keine erklärt anti-etatistischen Auffassungen, vielmehr handelte es sich bei ihnen um die „wild brüllende Herrenlosigkeit eines Volksauflaufs“ oder um die „freche Unbeherrschtheit eines Matrosenlagers“. Vgl. Ludz/Meier: „Anarchie, Anarchismus, Anarchist“, S. 50.
  4. Digitalisat, S. 69 | Joh. Micraelii Lexicon Philosophicum Terminorum Philosophis Usitatorum (…) Stetini 1661, Sp. 113
  5. Übersetzung nach Jochen Schmück: Anarchie.
  6. Pierre Joseph Proudhon: Was ist das Eigentum. Erste Denkschrift. Untersuchungen über den Ursprung und die Grundlagen des Rechts und der Herrschaft, aus d. Frz. v. Alfons Feder Cohn, dt. Erstveröfftl. Berlin 1896 Neuveröffentlichung Monte Verita (1992), ISBN 978-3-900434-30-4, S. 219.
  7. Jochen Schmück: Anarchie- Zur Geschichte eines Reiz- und Schlagwortes Zit. n. Gustav Landauer: „Börne und der Anarchismus“ (Erstveröffentlichung in: Sozialistische Monatshefte, Nr. 2, 1900), in: ders.: Erkenntnis und Befreiung. Ausgewählte Reden und Aufsätze, Frankfurt a. M. 1976, S. 20)


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