Apollinisch-dionysisch

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Apollinisch-dionysisch ist ein bipolares, philosophisches Begriffspaar, welches zwei gegensätzliche Charakterzüge des Menschen beschreibt und sich dazu der Eigenschaften bedient, die den griechischen Göttern Apollon und Dionysos zugeschrieben werden. Hierbei steht apollinisch für Form und Ordnung und dionysisch für Rauschhaftigkeit und einen alle Formen sprengenden Schöpfungsdrang. Der Mythos vom Musikwettstreit zwischen Pan und Apollo wurde wirkungsgeschichtlich zu einer Illustration des Gegensatzpaars.

Das Begriffspaar wurde im Bereich der Philosophie ursprünglich von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) aufgestellt und später durch Friedrich Nietzsche (1844–1900) ausgebaut und popularisiert. Nietzsche verwendete das Begriffspaar erstmals in seinem 1872 veröffentlichten Werk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Ferner benutzte er dieses Begriffspaar in zahlreichen Werken als wichtiges Element und trug damit wesentlich zur Popularisierung der Begriffe bei. Allerdings wurde es außerhalb der Philosophie schon vor Schelling verwendet, so insbesondere von Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) in der Kunstgeschichte, von Friedrich Schlegel (1772–1829) in der Literaturgeschichte und Bereich der Mythologie und Religionswissenschaften von Friedrich Creuzer (1771–1858), Friedrich Gottlieb Welcker (1784–1868) und Johann Jakob Bachofen (1815–1887).

Bezüglich Nietzsche bemerkte Rudolf Steiner dazu:

„Der psychologische Prozeß, durch den Nietzsche zu dem Inhalte seiner Anschauungen kommt, ist nicht derjenige, den ein Mensch durchmacht, der auf objektive Wahrheit ausgeht. Man kann das bereits an der Art beobachten, wie er zu den grundlegenden Ideen seines ersten Werkes «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» kommt. Nietzsche nimmt an, daß der alten griechischen Kunst zwei Triebe zugrunde liegen: Der apollinische und der dionysische. Durch den apollinischen Trieb liefert der Mensch ein schönes Abbild der Welt, ein Werk der ruhigen Betrachtung. Durch den dionysischen Trieb versetzt sich der Mensch in einen Äöznrfeustand ; er betrachtet nicht allein die Welt ; er durchdringt sich mit den ewigen Mächten des Seins und bringt diese selbst in seiner Kunst zum Ausdrucke. Das Epos, das plastische Bildwerk, sind Erzeugnisse der apollinischen Kunst. Das lyrische, das musikalische Kunstwerk entspringen dem dionysischen Triebe. Der dionysisch gestimmte Mensch durchdringt sich mit dem Weltgeiste und bringt dessen Wesen durch seine eigenen Äußerungen zum Vorschein. Er wird selbst Kunstwerk. «Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: Er hat das Gehen und Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung». («Geburt der Tragödie», § I.) In diesem dionysischen Zustande vergißt der Mensch sich selbst, er fühlt sich nicht mehr als Individuum, sondern als ein Organ des allgemeinen Weltwillens. In den Festspielen, die zu Ehren des Gottes Dionysus veranstaltet wurden, sieht Nietzsche dionysische Äußerungen des menschlichen Geistes. Er stellt sich nun vor, daß die dramatische Kunst bei den Griechen aus solchen Spielen entstanden ist. Eine höhere Vereinigung des Dionysischen mit dem Apollinischen habe sich vollzogen. Im ältesten Drama wurde ein apollinisches Abbild des dionysisch erregten Menschen geschaffen.

Zu solchen Vorstellungen ist Nietzsche durch die Schopenhauersche Philosophie gekommen. Er hat einfach die «Welt als Wille und Vorstellung» in das Künstlerische umgesetzt. Die Welt der Vorstellung ist nicht die wirkliche; sie ist nur ein subjektives Abbild, das unsere Seele von den Dingen erschafft. Durch Betrachtung kommt der Mensch nach Schopenhauers Meinung überhaupt nicht zu dem eigentlichen Wesen der Welt. Dieses enthüllt sich ihm in seinem Willen. Die Kunst der Vorstellung ist die apollinische; die des Willens die dionysische. Nietzsche brauchte nur einen kleinen Schritt über Schopenhauer hinauszugehen, und er war dort angelangt, wo er in der «Geburt der Tragödie» steht. Schopenhauer selbst hat der Musik schon eine Ausnahmestellung unter den Künsten angewiesen. Er nennt alle anderen Künste bloße Abbilder des Willens; die Musik nennt er eine unmittelbare Äußerung des Urwillens selbst. “ (Lit.:GA 5, S. 130f)

„... Nietzsche hat eigentlich prophetisch vorausgelebt manches von dem, was später in die Tiefen der Menschenseele gekommen ist. Und eine von den lebenslangen Unterscheidungen von Nietzsche war «dio nysisch» und «apollinisch». Unter dem Dionysischen hat er verstanden ein Erleben der Welt in einer Art von rauschhafter Schwärmerei im Sinne von Tanz. Und unter dem Apollinischen [verstand er] ein Erleben der Welt [im Sinne von] einer starken Harmonie, mehr in Plastik und [in] ruhiger Betrachtung. Er kam immer mehr dazu, das Dionysische zu erleben; und sein Zarathustra wird zuletzt ein Tänzer. [Nietzsche] ist daran zugrunde gegangen seelisch. Die Dinge haben sich ihm verwehrt, er war wahnsinnig geworden. Das ist ein tragisches Schicksal. Nietzsche[s Karma nimmt sich aus] wie eine Seele, die hätte im 20. Jahrhundert leben und da jung sein sollen.“ (Lit.:GA 244, S. 765)

Quellen

  • Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. Bd. 3, Nachdruck der 3. verbesserten Ausg. Leipzig und Darmstadt 1842.
  • Friedrich Schelling: Philosophie der Offenbarung. Bd. II. Darmstadt 1966.
  • Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung, in: Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hrsg.): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1. München 1980.
  • Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hrsg.): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1. München 1980

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

 Wiktionary: apollinisch – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
 Wiktionary: dionysisch – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
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