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=== Johann Wolfgang Goethe ===
=== Johann Wolfgang Goethe ===


=== VON DER PHYSIOGNOMIK ÜBERHAUPT ===
== Von den oft nur scheinbaren Fehlschlüssen des Physiognomisten ==


==== Zugabe ====
==== Zugabe ====


[1775 'Lavaters Physiogn. Fragmente' I 15]
[1775 Lavaters Physiogn. Fragmente I 140]


Man wird sich öfters nicht enthalten können, die Worte Physiognomie, Physiognomik in einem ganz weiten Sinne zu brauchen. Diese Wissenschaft schließt vom Äußern aufs Innere. Aber was ist das Äußere am Menschen? Wahrlich nicht seine nackte Gestalt, unbedachte Gebärden, die seine inneren Kräfte und deren Spiel bezeichnen! Stand, Gewohnheit, Besitztümer, Kleider, alles modifiziert, alles verhüllt ihn. Durch alle diese Hüllen bis auf sein Innerstes zu dringen, selbst in diesen fremden Bestimmungen feste Punkte zu finden, von denen sich auf sein Wesen sicher schließen läßt, scheint äußerst schwer, ja unmöglich zu sein. Nur getrost! Was den Menschen umgibt, wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt auch wieder zurück auf selbiges, und indem er sich modifizieren läßt, modifiziert er wieder rings um sich her. So lassen Kleider und Hausrat eines Mannes sicher auf dessen Charakter schließen. Die Natur bildet den Menschen, er bildet sich um, und diese Umbildung ist doch wieder natürlich; er, der sich in die große weite Welt gesetzt sieht, umzäunt, ummauert sich eine kleine drein, und staffiert sie aus nach seinem Bilde.
Mit physiognomischen Gefühlen und Urteilen geht es wie mit allen Gefühlen und Urteilen. Wenn man Mißverstand verhüten, keinen Widerspruch dulden wollte, müßte man damit sich gar nicht an Laden legen.
 
Keinem Menschen kann die Allgemeinheit zugestanden werden, sie wird keinem zugestanden. Das, was ein Teil Menschen als göttlich, herrlich, überschwenglich anbeten, wird von andern als kalt, als abgeschmackt verworfen. Nicht aber, daß ich dadurch wieder in die alte Nacht mich schlafen legen und so eindämmernd hinlallen wollte: Also hält einer das für schön und gut, der andere das; also ist alles unbestimmt, also packt ein mit eurer Physiognomik. Nicht so! Wie die Sachen eine Physiognomie haben, so haben auch die Urteile die ihrige, und eben daß die Urteile verschieden sind, beweist noch nicht, daß ein Ding bald so, bald so ist. Nehmen wir zum Beispiel ein Buch, das die Freuden und das Elend der Liebe mit den lebhaftesten Farben schildert. Alle jungen Leute fallen drüber her, erheben, verzehren, verschlingen es; und ein Alter, dems unter die Hände kommt, machts gelassen oder unwillig zu und sagt: «Das verliebte Zeug! Leider, daß es in der Welt so ist, was braucht mans noch zu schreiben?
 
Lassen Sie nun von jeder Seite einen Kämpfer auftreten! Der eine wird beweisen, daß das Buch vortrefflich ist, der andere, daß es elend ist! Und, welcher hat recht? Wer solls entscheiden? Niemand denn der Physiognomist. Der tritt dazwischen und sagt: Begebt euch zur Ruh, euer ganzer Streit nährt sich mit den Worten vortrefflich und elend. Das Buch ist weder fürtrefflich noch elend. Es hat nur deine ganze Gestalt, guter Jüngling, es enthält alles, was sie bezeichnet: diese blühende Wange, diesen hoffenden Blick, diese vordringende Stirn; und weil dirs gleich sieht, weil es vor dir steht, wie du vor dir selbst oder deinem Spiegel, so nennst dus deinesgleichen, oder, welches eins ist, deinen Freund, oder, welches eins ist, fürtrefflich. Du, Alter, hingegen würdest ein Gleiches tun, wenn diese Blätter so viel Erfahrung, Klugheit, praktischen Sinn enthielten.
 
Sind Sie nun wohl überzeugt, daß wie das Buch seine Physiognomie hatte, also haben auch die Urteile die ihrige, und daß hier nur durch den dritten Ruhigen jedem sein Platz angewiesen werden konnte?
 
Nun aber, ist der Dritte immer ruhig? Neigt er sich nicht auch oft nach seinesgleichen? Gut! dafür ist auch er Mensch, und darum geben wir hier nur Beiträge, nur Fragmente, die auch ihre Physiognomie haben; und wenn die, so darüber urteilen werden, sich auch treu bleiben, so wird jedes Urteil ein Beitrag zu unsern Fragmenten sein.
 
Alles wirkt verhältnismäßig in der Welt, das werden wir noch oft zu wiederholen haben. Das allgemeine Verhältnis erkennt nur Gott; deswegen alles menschliche, philosophische und so auch physiognomische Sinnen und Trachten am Ende auf ein bloßes Stottern hinausläuft. Und wenn zugestanden ist: daß in der Dinge Reihe viel mißlingt, warum sollte man von einer Reihe dargestellter Beobachtungen viel harmonische Konsistenz erwarten? 


Stand und Umstände mögen immer das, was den Menschen umgeben muß, bestimmen, aber die Art, womit er sich bestimmen läßt, ist höchst bedeutend. Er kann sich gleichgültig einrichten wie andere seinesgleichen, weil es sich nun einmal so schickt; diese Gleichgültigkeit kann bis zur Nachlässigkeit gehen. Ebenso kann man Pünktlichkeit und Eifer darin bemerken, auch ob er vorgreift und sich der nächsten Stufe über ihm gleichzustellen sucht, oder ob er, welches freilich höchst selten ist, eine Stufe zurückzuweichen scheint. Ich hoffe, es wird niemand sein, der mir verdenken wird, daß ich das Gebiet des Physiognomisten also erweitere. Teils geht ihn jedes Verhältnis des Menschen an, teils ist auch sein Unternehmen so schwer, daß man ihm nicht verargen muß, wenn er alles ergreift, was ihn schneller und leichter zu seinem großen Zwecke führen kann.


 


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Aktuelle Version vom 14. Juni 2009, 00:35 Uhr

Johann Wolfgang Goethe

Von den oft nur scheinbaren Fehlschlüssen des Physiognomisten

Zugabe

[1775 Lavaters Physiogn. Fragmente I 140]

Mit physiognomischen Gefühlen und Urteilen geht es wie mit allen Gefühlen und Urteilen. Wenn man Mißverstand verhüten, keinen Widerspruch dulden wollte, müßte man damit sich gar nicht an Laden legen.

Keinem Menschen kann die Allgemeinheit zugestanden werden, sie wird keinem zugestanden. Das, was ein Teil Menschen als göttlich, herrlich, überschwenglich anbeten, wird von andern als kalt, als abgeschmackt verworfen. Nicht aber, daß ich dadurch wieder in die alte Nacht mich schlafen legen und so eindämmernd hinlallen wollte: Also hält einer das für schön und gut, der andere das; also ist alles unbestimmt, also packt ein mit eurer Physiognomik. Nicht so! Wie die Sachen eine Physiognomie haben, so haben auch die Urteile die ihrige, und eben daß die Urteile verschieden sind, beweist noch nicht, daß ein Ding bald so, bald so ist. Nehmen wir zum Beispiel ein Buch, das die Freuden und das Elend der Liebe mit den lebhaftesten Farben schildert. Alle jungen Leute fallen drüber her, erheben, verzehren, verschlingen es; und ein Alter, dems unter die Hände kommt, machts gelassen oder unwillig zu und sagt: «Das verliebte Zeug! Leider, daß es in der Welt so ist, was braucht mans noch zu schreiben?

Lassen Sie nun von jeder Seite einen Kämpfer auftreten! Der eine wird beweisen, daß das Buch vortrefflich ist, der andere, daß es elend ist! Und, welcher hat recht? Wer solls entscheiden? Niemand denn der Physiognomist. Der tritt dazwischen und sagt: Begebt euch zur Ruh, euer ganzer Streit nährt sich mit den Worten vortrefflich und elend. Das Buch ist weder fürtrefflich noch elend. Es hat nur deine ganze Gestalt, guter Jüngling, es enthält alles, was sie bezeichnet: diese blühende Wange, diesen hoffenden Blick, diese vordringende Stirn; und weil dirs gleich sieht, weil es vor dir steht, wie du vor dir selbst oder deinem Spiegel, so nennst dus deinesgleichen, oder, welches eins ist, deinen Freund, oder, welches eins ist, fürtrefflich. Du, Alter, hingegen würdest ein Gleiches tun, wenn diese Blätter so viel Erfahrung, Klugheit, praktischen Sinn enthielten.

Sind Sie nun wohl überzeugt, daß wie das Buch seine Physiognomie hatte, also haben auch die Urteile die ihrige, und daß hier nur durch den dritten Ruhigen jedem sein Platz angewiesen werden konnte?

Nun aber, ist der Dritte immer ruhig? Neigt er sich nicht auch oft nach seinesgleichen? Gut! dafür ist auch er Mensch, und darum geben wir hier nur Beiträge, nur Fragmente, die auch ihre Physiognomie haben; und wenn die, so darüber urteilen werden, sich auch treu bleiben, so wird jedes Urteil ein Beitrag zu unsern Fragmenten sein.

Alles wirkt verhältnismäßig in der Welt, das werden wir noch oft zu wiederholen haben. Das allgemeine Verhältnis erkennt nur Gott; deswegen alles menschliche, philosophische und so auch physiognomische Sinnen und Trachten am Ende auf ein bloßes Stottern hinausläuft. Und wenn zugestanden ist: daß in der Dinge Reihe viel mißlingt, warum sollte man von einer Reihe dargestellter Beobachtungen viel harmonische Konsistenz erwarten?