Averroismus

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Als Averroismus bezeichnet man eine auf Ibn Rushd (Averroës) zurückgehende philosophische Richtung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Sie erregte wegen der theologischen Konsequenzen ihrer philosophischen Thesen großes Aufsehen. Da Averroës konsequenter Aristoteliker war, handelt es sich um eine Strömung innerhalb des Aristotelismus.

Obwohl Averroës Muslim und Araber war, fand seine Philosophie, die mit dem Koran schwer zu vereinbaren ist, in der islamischen Welt wenig Widerhall. Einige seiner umfangreichen Aristoteleskommentare (Physik, Metaphysik, Seelenlehre, Über den Himmel) sowie kleinere Kommentare zu den Parva naturalia und anderen Werken des Aristoteles wurden aber von Michael Scotus ins Lateinische übersetzt und standen seit den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts den christlichen Gelehrten zur Verfügung. Die Wirkung in der lateinischsprachigen Geisteswelt war gewaltig. Daher spricht man von „lateinischem Averroismus“. Daneben gab es auch einen jüdischen Averroismus in Spanien und Südfrankreich auf der Basis hebräischer Averroës-Übersetzungen. Seit dem 13. Jahrhundert war es unter den Scholastikern üblich, von Aristoteles als "dem Philosophen" schlechthin zu sprechen und von Averroës als "dem Kommentator" schlechthin. Mit "Commentator" war immer nur er gemeint.

Definition

Die Begriffe "Averroismus" und "Averroist" sind etwas schwammig, da eine klare Abgrenzung schwierig ist. Alle scholastischen Gelehrten (d.h. die gesamte spätmittelalterliche Universitätswissenschaft) waren in gewissem Sinne Aristoteliker, weil die Schriften des Aristoteles überall die grundlegenden Lehrbücher im Universitätsbetrieb waren (ab 1255 an der damals führenden Pariser Universität verbindlich als Lehrstoff vorgeschrieben). Die Kommentare des Averroës waren ebenfalls als grundlegend anerkannt und wurden von allen studiert. Auch Nichtaverroisten und Antiaverroisten arbeiteten mit diesen Kommentaren. Daher waren auch sie davon beeinflusst, denn große Teile waren unstrittig. Der Gegensatz zwischen Averroisten und Nicht- bzw. Antiaverroisten betraf nur einzelne Punkte in der Lehre des Averroës, und zwar diejenigen, die aus theologischen Gründen damals anstößig waren. In einem weiten Sinne des Begriffs Averroismus waren daher alle Scholastiker mehr oder weniger "Averroisten".

Im engeren Sinne versteht man unter einem Averroisten einen Philosophen, der die Lehre des Averroës konsequenterweise auch in denjenigen Punkten vertrat, in welchen sie mit der katholischen Theologie nicht oder nur sehr schwer vereinbar war. Daher bezeichnet man den Averroismus auch als "heterodoxen" (nicht mit dem Katholizismus vereinbaren) Aristotelismus.

Der Begriff "Averroismus" wurde im 19. Jahrhundert von Ernest Renan geprägt. Diese Begriffsbildung ist nicht unumstritten, da Renan zwar einzelne Lehrsätze als spezifisch averroistisch bezeichnet hat, aber kein mittelalterlicher Denker alle diese Lehrsätze gemeinsam vertrat, so dass man kaum von einer einheitlichen Lehre sprechen kann. Renan wurde vorgeworfen, er wolle "die Moderne im Mittelalter finden" [1]. Seine Kritiker empfehlen, anstelle von "Averroismus" lieber die Formulierung "radikaler Aristotelismus" zu verwenden. Im Mittelalter wurde die Bezeichnung "Averroist" als Kampfbegriff von Gegnern der "Averroisten" eingeführt und nur in diesem Sinne verwendet.

Merkmale

Die Unterschiede zwischen den averroistischen Aristotelikern und den "normalen", ebenfalls von der Lehre des Aristoteles ausgehenden Gelehrten betrafen folgende Punkte:

  • die averroistische Lehre von der Einheit und Einzigkeit des Intellekts. Die Averroisten meinten, dass der Intellekt (sowohl der tätige als auch der aufnehmende) nur ein einziger ist, d.h. in allen Menschen derselbe. Er befasst sich ja mit Allgemeinbegriffen, Naturgesetzen und Logik, die immer und überall dieselben sind. Man müsste also eigentlich nicht sagen "Dieser konkrete Mensch Sokrates erkennt etwas", sondern "In diesem Menschen Sokrates manifestiert sich ebenso wie in allen anderen der allgemeine Intellekt, indem er eine Erkenntnis herbeiführt". Von dem tätigen Intellekt hatten die Averroisten eine sehr hohe Meinung. Manche identifizierten ihn sogar mit Gott.
  • die individuelle Unsterblichkeit der Seele. Nach katholischer Auffassung war die individuelle Seele unsterblich und das Individuum als solches für sein Verhalten vor Gott persönlich verantwortlich. Insoweit der Mensch als rationales Wesen aufgefasst wurde, war für die Steuerung seines Verhaltens der Intellekt zuständig. Wenn dieser aber - wie die Averroisten meinten - ein und derselbe ist, der in allen Menschen gleichermaßen tätig ist (soweit die körperlichen Gegebenheiten das im Einzelfall zulassen), wie haftet dann das Individuum persönlich vor Gott für das, was es tut oder unterlässt? Stirbt die Person, so bleibt nur der tätige Intellekt übrig, der aber schon vor der Zeugung dieses Menschen genauso existiert hat. Also vergeht das Individuum als solches, und nur der allgemeine Intellekt dauert fort. Also gibt es kein persönliches Überleben des Todes und damit auch keine jenseitige Belohnung oder Strafe. Averroës hatte die Ansicht vertreten, dass Gott sich um Gattungen und Arten, nicht um einzelne Individuen kümmert.
  • die Ewigkeit der Welt. So wie Aristoteles meinte auch Averroës, dass das physikalische Universum keinen Anfang und kein Ende hat. Dieser Standpunkt kollidierte mit der biblischen Lehre von Schöpfung und künftigem Weltuntergang.
  • Autonomie der Vernunft. Die Vernunft darf in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich durch nichts in ihren Folgerungen beschränkt werden, und sie ist für alles zuständig, was ihr zugänglich ist. Diese Ansicht war nicht speziell averroistisch, wurde aber im Averroismus besonders scharf formuliert. Theologen waren ganz anderer Meinung.
  • die Averroisten neigten mehr oder weniger zur Auffassung, dass das Weltgeschehen notwendig (determiniert) ist und dass es Naturnotwendigkeiten gibt, an die sogar Gott gebunden ist. Das brachte sie in Konflikt mit der Vorstellung von Gottes Allmacht und der Lehre vom freien Willen des Menschen. Letztere war aber theologisch sehr wichtig, denn ohne sie fehlte die Basis für eine jenseitige Belohnung oder Strafe. Zwar vertraten die Averroisten keinen strengen, völlig konsequenten Determinismus, aber sie diskutierten solche Ideen.

Geschichte

Als die Werke des Averroës bekannt wurden, nahmen die christlichen Gelehrten sie zunächst unbefangen und mit großer Wertschätzung auf. Erst nach der Mitte des 13. Jahrhunderts begannen die Theologen die Brisanz dieser Lehren in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen. Der Franziskaner Johannes Peckham und der Dominikaner Robert Kilwardby griffen den Averroismus scharf an, und auch Albertus Magnus wandte sich gegen die averroistische Intellektlehre. 1270 verfasste Thomas von Aquin seine Kampfschrift Über die Einheit des Intellekts gegen die Averroisten, in der erstmals der Begriff "Averroist" auftaucht. Thomas, der selbst Aristoteliker war, wurde damit zum wichtigsten Vorkämpfer gegen die Averroisten, die immer mehr in den Verdacht gerieten, Häretiker zu sein.

Die Kirche war ohnehin schon seit langem misstrauisch gegen die aristotelische Naturphilosophie. 1277 verurteilte der Pariser Bischof zahlreiche aristotelische und averroistische Thesen, die nunmehr an der dortigen Universität nicht mehr gelehrt werden durften. Dennoch gab es auch dort weiterhin Averroisten, die mehr oder weniger offen für ihre Ansichten eintraten, und der Streit um den Averroismus bewegte in Frankreich und England bis tief ins 14. Jahrhundert die Gemüter. Man warf den Averroisten vor, eine "doppelte Wahrheit" zu lehren - eine philosophische, die nach ihrer Ansicht die realen Verhältnisse beschreibt, und eine damit unvereinbare theologische, die sie nur wegen der Kirche offiziell vertreten mussten, obwohl sie nicht wirklich daran glaubten. Zwar hat kein Averroist ausdrücklich von einer "doppelten Wahrheit" gesprochen, aber in der Praxis lief es doch weitgehend darauf hinaus.

Typisch für die Averroisten des 13. Jahrhunderts war ihre außerordentliche Begeisterung für die Philosophie, die sie nicht nur als Lehre, sondern vor allem auch als Lebensweise auffassten. In der intellektuellen Betätigung sahen sie den (einzigen) Sinn und Zweck des Lebens, das höchste Gut und Glück, und in den Philosophen die Elite der Menschheit. Daran nahmen Theologen Anstoß, denn damit wurde Theologie faktisch überflüssig.

Als prominenteste Averroisten des 13. Jahrhunderts gelten Siger von Brabant und Boethius von Dacien. Siger berief sich allerdings mehr direkt auf Aristoteles als auf Averroes. Als radikaler Averroist trat im frühen 14 Jahrhundert Johann von Jandun hervor, der auch aus anderen Gründen mit der Kirche in offenen Konflikt geriet. Sein Zeitgenosse Thomas Wilton war ein weiterer führender Repräsentant der averroistischen Ideen. Manche Magister vertraten einen gemäßigten Averroismus.

Italien

In Italien fasste der scholastische Aristotelismus erst relativ spät Fuß, nämlich gegen Ende des 13. Jahrhunderts, und mit ihm tauchten auch averroistische Ideen auf. Die aristotelische Philosophie fand dann zahlreiche Anhänger, besonders in Bologna und Padua, aber nur einige von ihnen übernahmen die averroistische Intellektlehre. Die Intellektlehre und die Frage der Unsterblichkeit der Seele wurden noch bis ins frühe 17. Jahrhundert diskutiert. Der Averroismus hatte nicht nur die kirchliche Hierarchie zum Gegner, sondern auch wichtige Teile der humanistischen Bewegung. Die Humanisten waren nämlich zum Teil (neu)platonisch und antiaristotelisch gesinnt und betrachteten ohnehin den ganzen scholastischen Wissenschaftsbetrieb sehr skeptisch. Die Aristoteliker unter ihnen suchten den direkten Zugang zu den Werken des Aristoteles und misstrauten der mittelalterlichen Kommentierung (zumal Averroës über keine Griechischkenntnisse verfügt hatte, also auf arabische Übersetzungen angewiesen war). Die Averroisten bildeten in Italien keine homogene Gruppe. Es waren gewöhnlich weltlich gesinnte Aristoteliker, die unterschiedliche Ansichten vertraten und Averroës nicht als besondere Autorität verehrten, sondern nur in einzelnen wichtigen Fragen mehr oder weniger seine Ansichten teilten. Die in der Forschung oft gebrauchten Bezeichnungen "Paduaner Averroismus" und "Schule von Padua" sind daher fragwürdig.

Anmerkungen

Literatur

  • Ludwig Hödl: Über die averroistische Wende der lateinischen Philosophie des Mittelalters im 13. Jahrhundert, in: Recherches de théologie ancienne et médiévale 39 (1972) S. 171-204
  • Luca Bianchi: Der Bischof und die Philosophen, in: Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter (hrsg. von Kurt Flasch und Udo Reinhold Jeck), München 1997, S. 70-83, ISBN 3-406-42310-8

Weblinks


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