Giovanni Pico della Mirandola und Wunder: Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:Pico1.jpg|right|miniatur|200px|Pico della Mirandola, [[Wikipedia:Uffizien|Uffizien]]]]
Als '''Wunder''' ({{ELSalt|θαῦμα}} ''thauma'') wird heute gewöhnlich ein Ereignis angesehen, das nicht [[rational]] [[naturgesetz]]lich erklärbar scheint und darum Verwunderung und Erstaunen erregt.  
'''Giovanni Pico (Conte) della Mirandola''' (* [[Wikipedia:24. Februar|24. Februar]] [[Wikipedia:1463|1463]] in [[Wikipedia:Mirandola (Emilia-Romagna)|Mirandola]] in der heutigen Region [[Wikipedia:Emilia-Romagna|Emilia-Romagna]]; † [[Wikipedia:17. November|17. November]] [[Wikipedia:1494|1494]] in [[Wikipedia:Florenz|Florenz]]) war ein italienischer [[Wikipedia:Philosophie der Renaissance und des Humanismus|Philosoph der Renaissance]]. Bekannt ist er heute vor allem durch seine Rede ''Über die [[Wikipedia:Würde|Würde]] des Menschen'', in der er die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Welt stellt und die [[Freier Wille|Willensfreiheit]] als charakteristisches Merkmal des Menschen hervorhebt. Mit seiner außergewöhnlichen Bildung und seiner Beredsamkeit beeindruckte Pico seine Zeitgenossen stark.  


== Leben ==
<div style="margin-left:20px">
"Es ist ein Aberglaube, anzunehmen,
daß in dem gewöhnlichen Gang der Ereignisse dasjenige,
was man als den gesetzmäßigen Zusammenhang erkannt hat, durch
ein Wunder durchbrochen werden könne. Warum? Soviel muß geschehen
nach notwendigen Regeln, als Vergangenes in den Ereignissen
ist. Und würden die Götter in einem Zusammenhang dasjenige
durchbrechen, was gesetzmäßig drinnen ist, so würden die Götter
lügen; sie würden ableugnen das, was sie vor Zeiten festgestellt haben.
Und so wenig wir ein Vergangenes anders machen können durch eine
spätere Behauptung, ebensowenig können wir das Stück Vergangenheit,
das als Notwendiges in den Dingen drinnen ist, ändern. Und
nur das können wir an den Dingen nicht ändern, was an den Dingen
Vergangenheit ist. Der Notwendigkeitsbegriff muß mit dem Vergangenheitsbegriff
zusammenwachsen." {{Lit|{{G|163|69f}}}}
</div>


Giovanni war ein Sohn des Grafen Gianfrancesco Pico della Mirandola. Nach dem Tod seines Vaters (1467) wurde er von seiner Mutter erzogen und auf eine kirchliche Laufbahn vorbereitet. Schon im Alter von 14 Jahren beschäftigte er sich mit [[Philosophie]] und den klassischen Sprachen. 1477 begann er ein juristisches Studium (Kirchenrecht) in [[Wikipedia:Bologna|Bologna]], das er aber abbrach. Nach dem Tod seiner Mutter (1478) wechselte er 1479 nach [[Wikipedia:Ferrara|Ferrara]], wo er sich den ''[[Wikipedia:studia humanitatis|studia humanitatis]]'' zuwandte, und 1480 nach [[Wikipedia:Padua|Padua]] zum Studium der Philosophie. Padua war ein Zentrum des italienischen [[Averroismus]], mit dem sich Pico nun auseinandersetzte. 1483 übersiedelte er nach Florenz und betätigte sich dort in dem Kreis um [[Wikipedia:Lorenzo I. de’ Medici|Lorenzo I. de’ Medici]], dem u.a. [[Wikipedia:Marsilio Ficino|Marsilio Ficino]] und [[Wikipedia:Angelo Poliziano|Angelo Poliziano]] angehörten. Mit Ficino verband ihn seither eine lebenslange enge Freundschaft, die von späteren philosophischen Meinungsverschiedenheiten nicht getrübt wurde. In diesem Zusammenhang bekannte sich Pico ausdrücklich zum Freundschaftsideal der [[Pythagoreer]]. Von Juli 1485 bis März 1486 hielt er sich in Paris auf, wo er sich entschieden zum Averroismus bekannte, kehrte aber bald nach Italien zurück. Er lernte die [[Wikipedia:Arabische Sprache|arabische]], die [[Wikipedia:Hebräische Sprache|hebräische]] und die [[Wikipedia:Aramäische Sprachen|aramäische]] Sprache.<ref>Zu Picos Kenntnis der drei semitischen Sprachen siehe [[Wikipedia:Paul Oskar Kristeller|Paul Oskar Kristeller]]: ''Giovanni Pico della Mirandola and his sources''. In: ''L'opera e il pensiero di Giovanni Pico della Mirandola nella storia dell'umanesimo. Convegno internazionale (Mirandola: 15–18 Settembre 1963)'', Bd. 1: ''Relazioni'', Firenze 1965, S. 35–142, hier: 70–72.</ref> 
Es kann also keine Rede davon sein, dass „Wunder“, wie außergewöhnlich sie auch erscheinen mögen, die naturgesetzliche Ordnung durchbrechen. Sie sind keine ''übernatürlichen'' Ereignisse. Allerdings beschränkt sich die [[Natur]] aus geisteswissenschaftlicher Sicht nicht allein auf die [[Physische Welt|physische Welt]]. Es gibt auch höhere [[Weltebenen]], die die physische Welt durchdringen und auf sie einwirken, nämlich die [[Ätherwelt]], die [[Astralwelt]] und die [[geistige Welt]] im engeren Sinn. Einwirkungen aus diesen Welten sind ein fester Bestandteil des Naturgeschehens. Sie heben die physikalischen Gesetze nicht auf, erweitern sie aber um höhere Gesetzmäßigkeiten. Was aus physischer Perspektive als bloßer [[Zufall]] erscheint, kann im Hinblick auf diese höhere Ordnung [[Verstand|verständlich]] und systematisch [[wissenschaft]]lich [[Forschung|erforschbar]] werden. Bei der bloßen Zufälligkeit des Geschehens stehen zu bleiben, ist wissenschaftlich ebenso unfruchtbar wie der Hinweis auf ein unmittelbares, nicht weiter hinterfragbares Eingreifen Gottes, wie es die [[Kreationismus|Kreationisten]] postulieren. So erscheint etwa das [[Phänomen]] des [[Leben]]s aus [[Anthroposophie|anthroposophischer]] Sicht nur verständlich, wenn man auch ganz konkret die Gesetzmäßigkeiten der Ätherwelt einbezieht, wie es [[Goethe]] mit seiner [[Anschauung]] der [[Urpflanze]] und mit dem Entwurf der [[Metamorphosenlehre]] anfänglich versucht hat. [[Trieb]] und [[Empfindung]] erfordern darüber hinaus die Einbeziehung der Astralwelt und der [[Mensch]] kann nur im Hinblick auf die höheren geistigen Welten verstanden werden. Die wissenschaftlich geforderte Einheitlichkeit der Naturerklärung wird dabei nicht verletzt, wenn man die Gesetzmäßigkeiten der niederen Weltebenen als spezifische Einschränkung bzw. als Grenzfälle der Naturordnung der jeweils höheren Ebene verstehen lernt. So erscheinen etwa die physikalischen Gesetze, die die Welt der toten [[Materie]] bestimmen, als Grenzfall der Lebensgesetze der Ätherwelt, diese wiederum als Einschränkung der [[astral]]en Gesetzmäßigkeiten usw. Da wir als Menschen an all diesen Welten Anteil haben, sind sie auch unserer [[Erkenntnis]] grundsätzlich zugänglich. Der heute wissenschaftlich posulierte [[Reduktionismus]], der alles Weltgeschehen auf rein physikalische Prozesse einengen will, erweist sich dabei als letztlich irrationales, historisch-soziologisch bedingtes Forschungshindernis.  


1486 begann er mit dem Studium der [[Kabbala]] und beauftragte den jüdischen Konvertiten Raimundo Moncada (Flavius Mithridates), kabbalistische Literatur ins Lateinische zu übersetzen. Er war der erste christliche Gelehrte, der sich, ohne selbst jüdischer Abstammung zu sein, intensiv mit der Kabbalah befasste.<ref>Chaim Wirszubski: ''Pico della Mirandola's Encounter with Jewish Mysticism'', Cambridge (Massachusetts) 1989, S. 64; Walter Andreas Euler: ''"Pia philosophia" et "docta religio". Theologie und Religion bei Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola'', München 1998, S. 27.</ref> Zugleich bereitete er eine Reise nach Rom vor, wo er 900 philosophische und theologische Thesen, die er verfasst hatte, öffentlich vor allen interessierten Gelehrten der Welt verteidigen wollte. Zu diesem Zweck beschloss er zu einem großen europäischen Kongress einzuladen, der in Anwesenheit des Papstes und des Kardinalskollegiums stattfinden sollte; die Reisekosten der teilnehmenden Gelehrten wollte er selbst tragen. Sein Ziel war, eine fundamentale Übereinstimmung aller philosophischen und religiösen Lehren aufzuzeigen, die letztlich alle im Christentum enthalten seien, und damit zu einer weltweiten Verständigung und zum Frieden beizutragen.
<div style="margin-left:20px">
"Ein Wunder ist nichts
anderes als das Eingreifen einer höheren Welt in die unsere. Es ist
einfach ein naturgemäßer Vorgang." {{Lit|{{G|093a|145}}}}
</div>


Auf dem Weg nach Rom verliebte er sich in eine verheiratete Frau, die er auf ihren Wunsch entführte. Der Ehemann ließ die Flüchtigen verfolgen und aufspüren; die Frau wurde zurückgebracht, Pico erlitt eine Verletzung und musste sich monatelang verstecken. Lorenzo de' Medici schützte ihn vor der Verhaftung. Nach dieser Verzögerung traf er erst im November 1486 in Rom ein. Dort veröffentlichte er die Thesen am 7. Dezember 1486.<ref>Louis Valcke, Roland Galibois: ''Le périple intellectuel de Jean Pic de la Mirandole'', Sainte-Foy 1994, S. 123.</ref> Die für Januar 1487 geplante öffentliche [[Wikipedia:Disputation|Disputation]] fand jedoch nicht statt, denn Papst [[Wikipedia:Innozenz VIII.|Innozenz VIII.]] setzte eine sechzehnköpfige Kommission ein, welche die Rechtgläubigkeit der in den Thesen vertretenen Auffassungen prüfen sollte. Pico war nicht bereit, vor der Kommission zu erscheinen. Nach heftiger Debatte kam die Kommission zu dem Ergebnis, dreizehn der Thesen seien [[Häresie|häretisch]] und sollten daher verurteilt werden. Dies hatte zunächst keine Maßnahmen gegen Pico zur Folge. Als er sich aber in einer Rechtfertigungsschrift, der ''Apologia'', verteidigte, ohne eine Äußerung des Papstes abzuwarten, wurde ihm dies an der [[Wikipedia:Kurie|Kurie]] verübelt. In einer [[Wikipedia:Päpstliche Bulle|Bulle]] mit dem Datum des 4. August 1487 verurteilte der Papst die Thesen gesamthaft und ordnete die Verbrennung sämtlicher Exemplare an, doch zögerte er die Veröffentlichung der Bulle hinaus. Als er aber erfuhr, dass Pico die ''Apologia'' hatte drucken lassen, fasste er deren Verbreitung als offene Rebellion auf, die er Pico nie verzieh.<ref>Siehe zu diesen Vorgängen Louis Valcke, Roland Galibois: ''Le périple intellectuel de Jean Pic de la Mirandole'', Sainte-Foy 1994, S. 125–129.</ref> In dieser bedrohlichen Lage reiste Pico im November aus Rom ab, was von seinen Kritikern als Flucht gedeutet wurde, denn er stand nun unter Häresieverdacht. Da der Papst seine Festnahme forderte, wurde er auf dem Weg nach Paris in der Nähe von [[Wikipedia:Lyon|Lyon]] verhaftet. Er erlangte jedoch die Gunst König [[Wikipedia:Karl VIII. (Frankreich)|Karls VIII.]], der ihn freiließ und schützte. Daher konnte er 1488 in Freiheit nach Florenz zurückkehren, wo er unter dem Schutz Lorenzos stand. Dort sowie in [[Wikipedia:Fiesole|Fiesole]] und Corbole in der Nähe von [[Wikipedia:Ferrara|Ferrara]] verbrachte er den Rest seines Lebens mit philosophischen und religiösen Studien. Dabei traten religiöse Themen immer mehr in den Vordergrund. In der letzten Phase seines Lebens bekannte er sich zu den Ansichten des radikalen Predigers [[Wikipedia:Girolamo Savonarola|Girolamo Savonarola]], in dessen Dominikanerkloster [[Wikipedia:San Marco (Florenz)|San Marco]] er dann 1494 bestattet wurde. Am 18. Juni 1493 hatte Papst [[Wikipedia:Alexander VI.|Alexander VI.]] alle von seinem Vorgänger Innozenz VIII. gegen Pico verhängten Maßnahmen rückgängig gemacht. Pico starb an einem Fieber; der überraschende Tod des vielversprechenden Gelehrten rief große Bestürzung hervor, und es verbreitete sich bald das Gerücht, er sei von seinem Sekretär vergiftet worden.
<div style="margin-left:20px">
"Wenn wir unseren Blick hinauswenden zum Gang von
Sonne und Mond, wenn wir die sich bewegenden Wolken sehen,
wenn wir die sich bewegende Luft im Winde wahrnehmen, dann
sehen wir nicht mehr so etwas, wie der alte Grieche gesehen hat,
was gleichsam Handbewegungen, äußere Gesten von göttlichgeistigen
Wesenheiten sind, sondern wir sehen etwas, was wir nach
äußeren, abstrakten, rein mathematisch-mechanischen Gesetzen
betrachten. Solch eine Natur, die nach rein äußeren, mathematisch-mechanischen
Gesetzen betrachtet wird, die nicht bloß die äußere
Physiognomie des göttlich-geistigen Handelns darstellt, kannte der
alte Grieche nicht. Wir werden hören, wie der Begriff Natur, so wie
ihn der heutige moderne Mensch hat, erst entstanden ist.


== Werke und Lehre ==
Geist und Natur waren in jenen alten Zeiten also in völligem
Einklang miteinander. Daher gab es für den alten Griechen auch
das noch nicht mit denselben Empfindungswerten wie heute ausgestattet,
was in der heutigen Zeit ein Wunder genannt wird. Wenn
wir jetzt absehen von allen feineren Unterscheidungen, so können
wir heute sagen, ein Wunder würde gesehen, wenn ein Vorgang in
der Außenwelt wahrgenommen würde, der nicht nach den bereits
bekannten oder mit ihnen verwandten Naturgesetzen erklärbar ist,
sondern der voraussetzt, daß der Geist unmittelbar eingreift. Da wo
der Mensch wahrnehmen würde ein unmittelbar Geistiges, was er
nicht bloß nach rein äußerlichen, mathematisch-mechanischen Gesetzen
begreifen und erklären kann, würde er von etwas Wunderbarem
sprechen. In diesem Sinne konnte der alte Grieche nicht von
etwas Wunderbarem sprechen. Denn ihm war klar, daß der Geist
alles macht, was in der Natur geschieht, ob es nun die alltäglichen,
in unsere Naturordnung sich einfügenden Ereignisse waren oder
seltenere Naturzusammenhänge, das machte keinen Unterschied.
Das eine war nur seltener, das andere war das Gewöhnliche, aber
der Geist, das göttlich-geistige Schaffen und göttlich-geistige Wirken,
griff ihm in alles Naturgeschehen ein. So sehen Sie, wie sich
diese Begriffe geändert haben. Daher ist es auch etwas wesentlich
unserer Gegenwart Angehöriges, daß das geistige Eingreifen in die
äußeren Ereignisse des physischen Planes wie etwas Wunderbares
empfunden wird, wie etwas, was herausfällt aus dem gewöhnlichen
Gang der Ereignisse. Es ist nur unserer modernen Empfindung
eigen, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen dem, was man von
Naturgesetzen beherrscht glaubt, und dem, wo man ein unmittelbares
Eingreifen der geistigen Welten anerkennen muß." {{Lit|{{G|129|54f}}}}
</div>


Der früh verstorbene Pico hat kein umfangreiches Werk hinterlassen. Von seinen Schriften hat er nur drei veröffentlicht: die 900 Thesen (''Conclusiones nongentae''), die Apologie und den 1489 verfassten ''Heptaplus'', eine [[Allegorie|allegorische]] Auslegung des Anfangs des biblischen [[Wikipedia:Buch Genesis|Buches Genesis]], in der er auf die mittelalterliche exegetische Tradition zurückgreift und kabbalistisches Gedankengut einbaut. Zwei Jahre nach seinem Tod veröffentlichte sein Neffe [[Wikipedia:Gianfrancesco Pico della Mirandola|Gianfrancesco Pico della Mirandola]] einen Teil der hinterlassenen Schriften, doch erst die Gesamtausgaben von Basel (1557, 1572-73 und 1601) enthielten den ganzen heute bekannten Bestand (einige Werke sind verloren).
<div style="margin-left:20px">
"So weit ist die Wissenschaft erstarkt, in sich sicher und übereinstimmend
in allen Zweigen und Richtungen, Schulen und Parteien,
daß sie dem Wunder in jeder Art und Gestalt unbedingt und ohne
weiteres die Türe weist. Sie erkennt nur das Eine Wunder aller Wunder
an, daß es überhaupt eine Welt gibt und gerade diese, aber innerhalb
des Kosmos verwirft sie schlechthin jeden wie immer formulierten
Anspruch, daß die Durchbrechung seiner Ordnungen und Gesetze
etwas Denkbares oder gar etwas Vorzüglicheres sei als deren unwandelbare
Geltung. Das Wunder ist in ganz gleicher Weise für alle
Natur-, Geschichts- und philosophischen Wissenschaften in eben dem,
was es sein und bedeuten will, ein begriffliches Unding, ein direktes
Attentat auf alle Vernunft und die elementarsten Grundlagen aller
menschlichen Wissenschaften. Wissenschaft und Wunder stehen einander
gegenüber wie Vernunft und Unvernunft.»


Zu den postum erschienenen Werken gehören die 1490 verfasste Abhandlung "Über das Seiende und das Eine" (''De ente et uno''), der 1485/1486 entstandene "Kommentar zu einem Lied der Liebe", worin er die ''Canzona d'amore'' seines Freundes [[Wikipedia:Girolamo Benivieni|Girolamo Benivieni]] kommentiert, eine Auslegung des [[Vaterunser]] (''Expositio in orationem dominicam''), eine Kampfschrift gegen die [[Astrologie]] in zwölf Büchern (''Disputationes adversus astrologiam divinatricem''),<ref>Über dieses Werk fand 2004 in Mirandola und Ferrara ein Kongress statt; Kongressakten: Marco Bertozzi (Hrsg.): ''Nello specchio del cielo. Giovanni Pico della Mirandola e le Disputationes contro l'astrologia divinatoria'', Firenze 2008.</ref> zahlreiche Briefe sowie 19 lateinische und 46 italienische Gedichte. "Über das Seiende und das Eine" war ein Teil eines großen geplanten, aber nicht vollendeten Werks, in dem Pico eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen [[Platon]] und [[Aristoteles]] aufzeigen wollte. Dabei ging er von einer aristotelischen Deutung Platons aus, die sich gegen die neuplatonische Auffassung [[Plotin]]s und Ficinos richtete. Auch die Schrift gegen die Astrologie gehörte in den Zusammenhang eines unvollendet gebliebenen größeren Projekts, einer Verteidigung des christlichen Glaubens gegen sieben Feinde ([[Atheismus]], [[Polytheismus]], Judentum, Islam, Aberglauben, Astrologie und magische Künste, [[Häresie]] und Gleichgültigkeit der Christen).<ref>Louis Valcke, Roland Galibois: ''Le périple intellectuel de Jean Pic de la Mirandole'', Sainte-Foy 1994, S. 161 und Anm. 58.</ref> Dieses Spätwerk, dessen Vollendung Picos Tod verhinderte, lässt mit seiner [[Apologie|apologetischen]] Abgrenzung des spezifisch Christlichen den Einfluss Savonarolas erkennen. Es bildet somit einen Gegenpol zu den Bestrebungen der Frühzeit Picos, als er die prinzipielle Vereinbarkeit aller philosophischen Traditionen nachzuweisen versuchte.
Als ich begann, um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert in öffentlichen
 
Vorträgen gewisse anthroposophische Fragen zu berühren, da
Wegen seines starken Interesses an Metaphysik und Theologie war Pico ebenso wie Ficino kein typischer Renaissance-Humanist, denn gewöhnlich standen die Humanisten den für die [[Scholastik]] typischen metaphysischen Spekulationen sehr distanziert gegenüber, ihr philosophisches Interesse pflegte sich auf die Moralphilosophie zu beschränken. Pico verteidigte sogar – völlig untypisch für einen Humanisten – die scholastischen Philosophen gegen die Kritik von [[Wikipedia:Hermolaus Barbarus|Ermolao Barbaro]] mit dem Argument, der Inhalt philosophischer Texte sei wichtiger als die ästhetische Qualität ihres Stils (die bei den Scholastikern aus humanistischer Sicht höchst mangelhaft war). Der an Ermolao gerichtete Brief ''De genere dicendi philosophorum'', in dem er diese Position vertrat, erregte Aufsehen.
war noch ein letzter Nachklang von dieser Stimmung vorhanden. Und
 
deshalb finden Sie - ich weiß nicht, ob jetzt viele hier versammelt sind,
Picos Verhältnis zu Ficino war keine einseitige Lehrer-Schüler-Beziehung. Pico gehörte zwar zu dem von Ficino inspirierten Kreis von mehr oder weniger [[Neuplatonismus|neuplatonisch]] orientierten Humanisten, betrachtete sich aber nicht als Platoniker; er wollte sich nicht auf Anhängerschaft zu einer bestimmten philosophischen Schulrichtung begrenzen. Seine Eigenständigkeit betonte er, indem er sich gelegentlich nachdrücklich von Auffassungen Ficinos distanzierte. Ein Hauptunterschied bestand im Verständnis von Einheit und Seiendheit; während Ficino das göttliche Eine als überseiend betrachtete, meinte Pico, dass Einheit und Sein nicht zu trennen seien und auch Gott ([[das Eine]] im Sinne des Neuplatonismus) zum Seienden gehöre.
die noch diese ersten Vorträge verfolgt haben - in ziemlich vielen Vorträgen
 
hingewiesen auf das Problem der wiederholten Erdenleben und
=== Oratio de hominis dignitate ===
das Problem von dem Schicksal des Menschen, das sich durch die wiederholten
{{Anker|Oratio de hominis dignitate}}
Erdenleben hindurchzieht. Sie finden bei diesem Problem
Das als "Rede über die Würde des Menschen" bekannte Werk gehört zu den berühmtesten Texten der Renaissance, da es als Programmschrift gilt, welche die Prinzipien einer neuzeitlichen humanistischen [[Anthropologie]] verkündet. In diesem Sinne wurde die Rede von [[Wikipedia:Jacob Burckhardt|Jacob Burckhardt]] gedeutet, der sie als "eines der edelsten Vermächtnisse der Kulturepoche" (der Renaissance) bezeichnete. Es handelt sich um die Einleitungsrede zu der geplanten, am Einspruch des Papstes gescheiterten römischen Disputation. Picos Neffe [[Wikipedia:Gianfrancesco Pico della Mirandola|Gianfrancesco Pico della Mirandola]] veröffentlichte die Rede 1496. Ursprünglich hatte sie keinen Titel; ''De hominis dignitate'' ("Über die Würde des Menschen") war zunächst nur eine Randnotiz gewesen, die jedoch so treffend schien, dass sie in der Ausgabe von 1557 zum Titel gemacht wurde.
stets darauf hingewiesen, immer am Schluß des Vortrages suchte ich
 
darauf hinzuweisen, wie im Grunde genommen für jedes Leben -
Den Ausgangspunkt bildet ein Zitat aus einem antiken [[Hermetik|hermetischen]] Werk, dem zu Unrecht [[Wikipedia:Apuleius|Apuleius]] zugeschriebenen Traktat ''Asclepius'': "Ein großes Wunder ist der Mensch." Den Menschen hat Gott zuletzt geschaffen, nachdem er den niederen Lebewesen (Tieren und Pflanzen) und den höheren (Engeln und himmlischen Geistern) ihre jeweiligen unveränderlichen Bestimmungen und Orte zugeteilt hatte. Dem Menschen als einzigem Wesen hat der Schöpfer die Eigenschaft verliehen, nicht festgelegt zu sein. Daher ist der Mensch "ein Werk von unbestimmter Gestalt". Alle übrigen Geschöpfe sind von Natur aus mit Eigenschaften ausgestattet, die ihr mögliches Verhalten auf einen bestimmten Rahmen begrenzen, und demgemäß sind ihnen feste Wohnsitze zugewiesen. Der Mensch hingegen ist frei in die Mitte der Welt gestellt, damit er sich dort umschauen, alles Vorhandene erkunden und dann seine Wahl treffen kann. Damit wird er zu seinem eigenen Gestalter, der nach seinem freien Willen selbst entscheidet, wie und wo er sein will. Hierin liegt das Wunderbare seiner Natur und seine besondere [[Wikipedia:Würde|Würde]], und insofern ist er Abbild Gottes. Er ist weder himmlisch noch irdisch. Daher kann er gemäß seiner Entscheidung zum Tier entarten oder pflanzenartig vegetieren oder auch seine Vernunftanlage so entwickeln, dass er engelartig wird. Schließlich kann er sich sogar, "mit keiner Rolle der Geschöpfe zufrieden, in den Mittelpunkt seiner Einheit zurückziehen", wo er sich "in der abgeschiedenen Finsternis des Vaters" mit der Gottheit vereinigt. Wegen dieser vielfältigen Möglichkeiten und der ständig wechselnden und sich selbst verwandelnden Natur des Menschen vergleicht ihn Pico mit einem Chamäleon. Überschwänglich preist er die Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung.
wenn man glaubt, daß die altaristotelische Vorstellung richtig sei: jedesmal,
 
wenn ein Mensch geboren wird, werde eine neue Seele geschaffen,
Den Aufstieg zu Gott fasst Pico in Anlehnung an Pseudo-[[Dionysius Areopagita]] als dreistufigen Prozess auf. Auf die Reinigung (''purgatio'') folgt die Erleuchtung (''illuminatio'') und dann die Vollendung (''perfectio''). Die Reinigung geschieht durch Wissenschaften: durch die Moralphilosophie, die zur Bändigung der Leidenschaften befähigt, und die Logik, die zu rechtem Gebrauch der Verstandeskräfte anleitet. Zur Erleuchtung dient die [[Naturphilosophie]], welche die Wunder der Natur erforscht und es ermöglicht, im Geschaffenen die Macht des Schöpfers zu erkennen. Zur Vollendung führt die Theologie als diejenige Disziplin, deren Gegenstand die unmittelbare Erkenntnis des Göttlichen ist. Zusammen bilden die drei Stufen bzw. Wissensgebiete eine dreigeteilte Philosophie (''philosophia tripartita''). Deren Inhalte sind nach Picos Überzeugung nicht nur den verschiedenen Richtungen der christlichen Philosophie gemeinsam, sondern auch den Lehren vorchristlicher und islamischer Philosophen (Platon, Aristoteles, [[Avicenna]], [[Averroes]]).
die eingepflanzt werde dem menschlichen Embryo - , für jedes einzelne
 
Leben das Wunder statuiert sei, und daß lediglich dadurch im berechtigten
Auf Jacob Burckhardts Sichtweise fußt eine populäre Deutung der ''Oratio'' als Manifest einer für die Renaissance typischen stolzen Selbstverherrlichung des Menschen, der sich zum Herrn seines Schicksals gemacht habe. Diese Interpretation wird von der neueren Forschung als einseitig betrachtet; sie greift einen Aspekt übertreibend heraus und wird dem Gesamtanliegen Picos nicht gerecht.
Sinne der Wunderbegriff überwunden werde, daß man die wiederholten
 
Erdenleben annehme, wodurch jedes einzelne Menschenleben
== Textausgaben und Übersetzungen ==
ohne Wunder an die vorhergehenden Erdenleben angereiht werde." {{Lit|{{G|198|88}}}}
; Mehrere Werke
</div>
* Giovanni Pico della Mirandola: ''De hominis dignitate, Heptaplus, De ente et uno, e scritti vari''. Herausgegeben von Eugenio Garin. Vallecchi, Firenze 1942
* Giovanni Pico della Mirandola: ''Ausgewählte Schriften''. Herausgegeben von Arthur Liebert. Diederichs, Jena und Leipzig 1905 (enthält deutsche Übersetzungen folgender Werke: Briefe von und an Pico, Heptaplus, Über das Sein und die Einheit [Auszüge], Über die Würde des Menschen [auszugsweise], Apologia [Auszüge], Theologische Aphorismen, Gegen die Astrologie [Auszüge]) 
* Giovanni Pico della Mirandola: ''Carmina Latina''. Herausgegeben von Wolfgang Speyer. Brill, Leiden 1964 (kritische Ausgabe von Picos lateinischen Gedichten)
; Einzelne Werke
* Giovanni Pico della Mirandola: ''Über das Seiende und das Eine. De ente et uno''. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von [[Wikipedia:Paul Richard Blum|Paul Richard Blum]] u. a. Meiner, Hamburg 2006, ISBN 978-3-7873-1760-8 (kritische Ausgabe des lateinischen Textes und deutsche Übersetzung)
* Giovanni Pico della Mirandola: ''De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen''. Herausgegeben von [[Wikipedia:August Buck|August Buck]]. Meiner, Hamburg 1990, ISBN 978-3-7873-0959-7 (lateinischer Text mit einer deutschen Übersetzung von Norbert Baumgarten)
* Giovanni Pico della Mirandola: ''Oratio de hominis dignitate. Rede über die Würde des Menschen''. Herausgegeben von Gerd von der Gönna. Reclam, Stuttgart 1997, ISBN 978-3-15-009658-1 (lateinischer Text und deutsche Übersetzung)
* Giovanni Pico della Mirandola: ''Kommentar zu einem Lied der Liebe''. Herausgegeben von Thorsten Bürklin. Meiner, Hamburg 2001, ISBN 3-7873-1552-7 (italienischer Text und deutsche Übersetzung)
* Giovanni Pico della Mirandola: ''Conclusiones nongentae. Le novecento Tesi dell'anno 1486''. Herausgegeben von Albano Biondi. Olschki, Firenze 1995, ISBN 88-222-4305-6 (lateinischer Text und italienische Übersetzung)
 
== Plinius-Manuskript des Pico ==
Giovanni Pico della Mirandola besaß eine 1481 entstandendene Abschrift der [[Wikipedia:Historia naturalis|Historia naturalis]] des antiken Schriftstellers [[Wikipedia:Plinius der Ältere|Plinius]]. Der namentlich nicht bekannte Maler der Illustrationen dieses Manuskriptes ist heute nach dem Besitzer als [[Wikipedia:Meister des Plinius des Pico della Mirandola|Meister des Plinius des Pico della Mirandola]] (italienisch Maestro del Plinio di Pico della Mirandola) benannt. Das aufwendige Werk ist ein ''leuchtendes'' Beispiel des Interesses der Renaissance-Gelehrten wie Pico an antiken, weltlichen und naturwissenschaftlichen Schriften.


== Literatur ==
== Literatur ==
* Michael V. Dougherty (Hrsg.): ''Pico della Mirandola. New Essays''. Cambridge University Press, Cambridge (Massachusetts) 2008, ISBN 978-0-521-84736-0
* Walter Andreas Euler: ''"Pia philosophia" et "docta religio". Theologie und Religion bei Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola''. Fink, München 1998, ISBN 3-7705-3280-5
* [[Wikipedia:Heinrich Reinhardt (Philosoph)|Heinrich Reinhardt]]: ''Freiheit zu Gott. Der Grundgedanke des Systematikers Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494)''. VCH, Weinheim 1989, ISBN 3-527-17669-1
* [[Wikipedia:Alexander Thumfart|Alexander Thumfart]]: ''Die Perspektive und die Zeichen. Hermetische Verschlüsselungen bei Giovanni Pico della Mirandola''. Fink, München 1996, ISBN 3-7705-3051-9
'''Bibliographie'''
* Leonardo Quaquarelli, Zita Zanardi: ''Pichiana. Bibliografia delle edizioni e degli studi''. Olschki, Firenze 2005, ISBN 978-88-222-5488-7
* Thomas Gilbhard: ''Paralipomena Pichiana. A propos einer Pico–Bibliographie''. In: ''Accademia. Revue de la Société Marsile Ficin'', Bd. 7, 2005, S. 81–94
== Weblinks ==
{{Commonscat|Giovanni Pico della Mirandola}}
* {{SEP|http://plato.stanford.edu/entries/pico-della-mirandola/|Giovanni Pico della Mirandola|Brian Copenhaver}}
* [http://www.thelatinlibrary.com/mirandola.html "The Latin Library" – Picos Werke]
== Anmerkungen ==
<references />
{{Normdaten|TYP=p|GND=118742418|LCCN=n/50/19730|NDL=00452781|VIAF=34491108}}


{{DEFAULTSORT:Pico Della Mirandola, Giovanni}}
#Rudolf Steiner: ''Grundelemente der Esoterik'', [[GA 93a]] (1987), ISBN 3-7274-0935-5 {{Vorträge|093a}}
[[Kategorie:Philosoph der Renaissance]]
#Rudolf Steiner: ''Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen'', [[GA 129]] (1992), ISBN 3-7274-1290-9 {{Vorträge|129}}
[[Kategorie:Hermetik]]
#Rudolf Steiner: ''Zufall, Notwendigkeit und Vorsehung '', [[GA 163]] (1986), ISBN 3-7274-1630-0 {{Vorträge|163}}
[[Kategorie:Literatur (Neulatein)]]
#Rudolf Steiner: ''Heilfaktoren für den sozialen Organismus'', [[GA 198]] (1984), ISBN 3-7274-1980-6 {{Vorträge|198}}
[[Kategorie:Historische Person (Italien)]]
[[Kategorie:Geboren 1463]]
[[Kategorie:Gestorben 1494]]
[[Kategorie:Mann]]


{{Personendaten
{{GA}}
|NAME=Pico della Mirandola, Giovanni
|ALTERNATIVNAMEN=Picus; Picus Mirandolensis, Iohannes
|KURZBESCHREIBUNG=italienischer Humanist
|GEBURTSDATUM=24. Februar 1463
|GEBURTSORT=[[Mirandola (Emilia-Romagna)]]
|STERBEDATUM=17. November 1494
|STERBEORT=[[Florenz]]
}}


{{Wikipedia}}
[[Kategorie:Religion]]

Version vom 1. August 2014, 11:57 Uhr

Als Wunder (griech. θαῦμα thauma) wird heute gewöhnlich ein Ereignis angesehen, das nicht rational naturgesetzlich erklärbar scheint und darum Verwunderung und Erstaunen erregt.

"Es ist ein Aberglaube, anzunehmen, daß in dem gewöhnlichen Gang der Ereignisse dasjenige, was man als den gesetzmäßigen Zusammenhang erkannt hat, durch ein Wunder durchbrochen werden könne. Warum? Soviel muß geschehen nach notwendigen Regeln, als Vergangenes in den Ereignissen ist. Und würden die Götter in einem Zusammenhang dasjenige durchbrechen, was gesetzmäßig drinnen ist, so würden die Götter lügen; sie würden ableugnen das, was sie vor Zeiten festgestellt haben. Und so wenig wir ein Vergangenes anders machen können durch eine spätere Behauptung, ebensowenig können wir das Stück Vergangenheit, das als Notwendiges in den Dingen drinnen ist, ändern. Und nur das können wir an den Dingen nicht ändern, was an den Dingen Vergangenheit ist. Der Notwendigkeitsbegriff muß mit dem Vergangenheitsbegriff zusammenwachsen." (Lit.: GA 163, S. 69f)

Es kann also keine Rede davon sein, dass „Wunder“, wie außergewöhnlich sie auch erscheinen mögen, die naturgesetzliche Ordnung durchbrechen. Sie sind keine übernatürlichen Ereignisse. Allerdings beschränkt sich die Natur aus geisteswissenschaftlicher Sicht nicht allein auf die physische Welt. Es gibt auch höhere Weltebenen, die die physische Welt durchdringen und auf sie einwirken, nämlich die Ätherwelt, die Astralwelt und die geistige Welt im engeren Sinn. Einwirkungen aus diesen Welten sind ein fester Bestandteil des Naturgeschehens. Sie heben die physikalischen Gesetze nicht auf, erweitern sie aber um höhere Gesetzmäßigkeiten. Was aus physischer Perspektive als bloßer Zufall erscheint, kann im Hinblick auf diese höhere Ordnung verständlich und systematisch wissenschaftlich erforschbar werden. Bei der bloßen Zufälligkeit des Geschehens stehen zu bleiben, ist wissenschaftlich ebenso unfruchtbar wie der Hinweis auf ein unmittelbares, nicht weiter hinterfragbares Eingreifen Gottes, wie es die Kreationisten postulieren. So erscheint etwa das Phänomen des Lebens aus anthroposophischer Sicht nur verständlich, wenn man auch ganz konkret die Gesetzmäßigkeiten der Ätherwelt einbezieht, wie es Goethe mit seiner Anschauung der Urpflanze und mit dem Entwurf der Metamorphosenlehre anfänglich versucht hat. Trieb und Empfindung erfordern darüber hinaus die Einbeziehung der Astralwelt und der Mensch kann nur im Hinblick auf die höheren geistigen Welten verstanden werden. Die wissenschaftlich geforderte Einheitlichkeit der Naturerklärung wird dabei nicht verletzt, wenn man die Gesetzmäßigkeiten der niederen Weltebenen als spezifische Einschränkung bzw. als Grenzfälle der Naturordnung der jeweils höheren Ebene verstehen lernt. So erscheinen etwa die physikalischen Gesetze, die die Welt der toten Materie bestimmen, als Grenzfall der Lebensgesetze der Ätherwelt, diese wiederum als Einschränkung der astralen Gesetzmäßigkeiten usw. Da wir als Menschen an all diesen Welten Anteil haben, sind sie auch unserer Erkenntnis grundsätzlich zugänglich. Der heute wissenschaftlich posulierte Reduktionismus, der alles Weltgeschehen auf rein physikalische Prozesse einengen will, erweist sich dabei als letztlich irrationales, historisch-soziologisch bedingtes Forschungshindernis.

"Ein Wunder ist nichts anderes als das Eingreifen einer höheren Welt in die unsere. Es ist einfach ein naturgemäßer Vorgang." (Lit.: GA 093a, S. 145)

"Wenn wir unseren Blick hinauswenden zum Gang von Sonne und Mond, wenn wir die sich bewegenden Wolken sehen, wenn wir die sich bewegende Luft im Winde wahrnehmen, dann sehen wir nicht mehr so etwas, wie der alte Grieche gesehen hat, was gleichsam Handbewegungen, äußere Gesten von göttlichgeistigen Wesenheiten sind, sondern wir sehen etwas, was wir nach äußeren, abstrakten, rein mathematisch-mechanischen Gesetzen betrachten. Solch eine Natur, die nach rein äußeren, mathematisch-mechanischen Gesetzen betrachtet wird, die nicht bloß die äußere Physiognomie des göttlich-geistigen Handelns darstellt, kannte der alte Grieche nicht. Wir werden hören, wie der Begriff Natur, so wie ihn der heutige moderne Mensch hat, erst entstanden ist.

Geist und Natur waren in jenen alten Zeiten also in völligem Einklang miteinander. Daher gab es für den alten Griechen auch das noch nicht mit denselben Empfindungswerten wie heute ausgestattet, was in der heutigen Zeit ein Wunder genannt wird. Wenn wir jetzt absehen von allen feineren Unterscheidungen, so können wir heute sagen, ein Wunder würde gesehen, wenn ein Vorgang in der Außenwelt wahrgenommen würde, der nicht nach den bereits bekannten oder mit ihnen verwandten Naturgesetzen erklärbar ist, sondern der voraussetzt, daß der Geist unmittelbar eingreift. Da wo der Mensch wahrnehmen würde ein unmittelbar Geistiges, was er nicht bloß nach rein äußerlichen, mathematisch-mechanischen Gesetzen begreifen und erklären kann, würde er von etwas Wunderbarem sprechen. In diesem Sinne konnte der alte Grieche nicht von etwas Wunderbarem sprechen. Denn ihm war klar, daß der Geist alles macht, was in der Natur geschieht, ob es nun die alltäglichen, in unsere Naturordnung sich einfügenden Ereignisse waren oder seltenere Naturzusammenhänge, das machte keinen Unterschied. Das eine war nur seltener, das andere war das Gewöhnliche, aber der Geist, das göttlich-geistige Schaffen und göttlich-geistige Wirken, griff ihm in alles Naturgeschehen ein. So sehen Sie, wie sich diese Begriffe geändert haben. Daher ist es auch etwas wesentlich unserer Gegenwart Angehöriges, daß das geistige Eingreifen in die äußeren Ereignisse des physischen Planes wie etwas Wunderbares empfunden wird, wie etwas, was herausfällt aus dem gewöhnlichen Gang der Ereignisse. Es ist nur unserer modernen Empfindung eigen, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen dem, was man von Naturgesetzen beherrscht glaubt, und dem, wo man ein unmittelbares Eingreifen der geistigen Welten anerkennen muß." (Lit.: GA 129, S. 54f)

"So weit ist die Wissenschaft erstarkt, in sich sicher und übereinstimmend in allen Zweigen und Richtungen, Schulen und Parteien, daß sie dem Wunder in jeder Art und Gestalt unbedingt und ohne weiteres die Türe weist. Sie erkennt nur das Eine Wunder aller Wunder an, daß es überhaupt eine Welt gibt und gerade diese, aber innerhalb des Kosmos verwirft sie schlechthin jeden wie immer formulierten Anspruch, daß die Durchbrechung seiner Ordnungen und Gesetze etwas Denkbares oder gar etwas Vorzüglicheres sei als deren unwandelbare Geltung. Das Wunder ist in ganz gleicher Weise für alle Natur-, Geschichts- und philosophischen Wissenschaften in eben dem, was es sein und bedeuten will, ein begriffliches Unding, ein direktes Attentat auf alle Vernunft und die elementarsten Grundlagen aller menschlichen Wissenschaften. Wissenschaft und Wunder stehen einander gegenüber wie Vernunft und Unvernunft.»

Als ich begann, um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert in öffentlichen Vorträgen gewisse anthroposophische Fragen zu berühren, da war noch ein letzter Nachklang von dieser Stimmung vorhanden. Und deshalb finden Sie - ich weiß nicht, ob jetzt viele hier versammelt sind, die noch diese ersten Vorträge verfolgt haben - in ziemlich vielen Vorträgen hingewiesen auf das Problem der wiederholten Erdenleben und das Problem von dem Schicksal des Menschen, das sich durch die wiederholten Erdenleben hindurchzieht. Sie finden bei diesem Problem stets darauf hingewiesen, immer am Schluß des Vortrages suchte ich darauf hinzuweisen, wie im Grunde genommen für jedes Leben - wenn man glaubt, daß die altaristotelische Vorstellung richtig sei: jedesmal, wenn ein Mensch geboren wird, werde eine neue Seele geschaffen, die eingepflanzt werde dem menschlichen Embryo - , für jedes einzelne Leben das Wunder statuiert sei, und daß lediglich dadurch im berechtigten Sinne der Wunderbegriff überwunden werde, daß man die wiederholten Erdenleben annehme, wodurch jedes einzelne Menschenleben ohne Wunder an die vorhergehenden Erdenleben angereiht werde." (Lit.: GA 198, S. 88)

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Grundelemente der Esoterik, GA 93a (1987), ISBN 3-7274-0935-5 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  2. Rudolf Steiner: Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen, GA 129 (1992), ISBN 3-7274-1290-9 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  3. Rudolf Steiner: Zufall, Notwendigkeit und Vorsehung , GA 163 (1986), ISBN 3-7274-1630-0 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  4. Rudolf Steiner: Heilfaktoren für den sozialen Organismus, GA 198 (1984), ISBN 3-7274-1980-6 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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