Selbstbildung

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Selbstbildung ist ein pädagogisches, anthropologisches und ethisches Konzept, das auf die bewusste Gestaltung der eigenen Persönlichkeit und auf ein lebenslanges Lernen im Sinne eines Sich bildens und einer sinnvollen Lebensführung abzielt. Alternative Bezeichnungen sind Selbsterziehung, Selbstsorge (Michel Foucault), Selbstformung oder Selbstgestaltung. Selbstbildung kann sich auf verschiedene Persönlichkeitsaspekte richten und sich aus verschiedenen Motiven speisen (z.B. religiöser oder moralischer Art).

Überblick

Selbstbildung spielt auch jenseits des klassischen Bildungsbereichs in einer Vielzahl von Geistesströmungen eine große Rolle. Es handelt sich um den personalen Aspekt der menschlichen Bildung und somit um das Herz aller Bildung.

Jede Erziehung, die an das individuelle menschliche Ich appeliert, ist im Grunde immer nur Anregung zur Selbsterziehung.

"Es gibt im Grunde genommen auf keiner Stufe eine andere Erziehung als Selbsterziehung. Aus tieferen Gründen heraus wird ja das insbesondere durch die Anthroposophie eingesehen, die von wiederholten Erdenleben ein wirklich forschungsgemäßes Bewußtsein hat. Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muß." (Lit.: GA 306, S. 131)

Selbstbildung ist weder an Institutionen, curriculare Bildungsgänge, formale Eingangsvoraussetzungen noch an bestimmte Lebensalter gebunden. Sie basiert auf Begegnung und Gespräch, auf Besichtigung und Beobachtung, auf Erkundung und Erprobung, auf Hören und Lesen, alles jedoch aus eigener Einsicht und Motivation, selbstgesteuert und mit der freien Entscheidung des betreffenden Menschen, ob er eine Lehrperson hinzuzieht oder nicht. Auch bei der Selbstbildung von Kindern liegt – schon ab der Frühpädagogik – ein Fokus auf selbstgesteuerter Erkundung; zusätzlich liegt dabei ggf. die Notwendigkeit vor, günstige Bedingungen zu selbstbildendem Handeln bereitzustellen. Dies kann bedeuten, dass Pädagogen, Eltern usw. eingreifen und so wenig wie möglich, dabei so viel wie nötig Hilfestellung leisten, um beim Kind die Motivation anzuregen, zu erhalten oder Gefahren zu vermeiden.

Hieronymus Andreas Mertens war einer der ersten, die unter diesem Begriff über die Kunst, stets froh zu leben, philosophierten. Er bezog die Selbstbildung bereits auf Kinder, während viele andere Autoren dieser Zeit eher Erwachsene, insbesondere Lehrer und Wissenschaftler, oder eine Methode innerhalb der Schulen im Blick hatten.

Seit dem 19. Jahrhundert erschien eine Vielzahl von Büchern zu dem Thema, v.a. aber auch populäre Ratgeber. So erschienen 1836 zwei Bücher, die Anstand und Sitte zum Gegenstand der Selbstbildung machen wollten. Carl von Wallen hatte dabei schon Deutschlands Jugend beiderlei Geschlechts als Zielgruppe. Romano Guardini hat seit den 1920er Jahren die Selbstbildung zum Thema der katholischen Jugendbewegung gemacht, indem er den Jugendlichen Briefe zur Selbstbildung schrieb. Zu dieser Zeit begann auch die Suche nach dem Thema und der Methode der Selbstbildung in den Biographien und Werken herausragender Persönlichkeiten wie Adalbert Stifter, Friedrich Schiller, Jacob Wilhelm Heinse, Heinrich von Kleist, Friedrich Hebbel u. v. a. Von 1946 bis 1949 brachte Adolf Grimme unter dem Titel Denkendes Volk die sogenannten Blätter für Selbstbildung heraus. Es handelte sich um das Organ der Volkshochschulbewegung.

In entwicklungspsychologischer Sicht bezeichnet Selbstbildung – vor allem nach dem Verständnis von Gerd E. Schäfer – den Entwicklungsprozess des Menschen (vgl. Konstruktivismus, Piaget). Die Entwicklung von Kindern wird deshalb als aktiver Prozess verstanden, in dem diese anhand von Bedeutungen selbsttätig ihre Umwelt erkunden. Ein ähnliches Konzept findet sich bei Wassilios Fthenakis in seinem Begriff der Ko-Konstruktion.

Peter Sloterdijk hat in jüngster Zeit in seinem Essay Du mußt dein Leben ändern den Menschen als ein übendes Wesen beschrieben, wozu auch Selbstbildungsprozesse gehören. Roland Kipke hat unter dem Stichwort „Selbstformung“ eine Anthropologie und Ethik der Selbstbildung entwickelt,– insbesondere in Unterscheidung von pharmakologischen Methoden der Selbstverbesserung.

Siehe auch

Bildung Selbstbestimmung, Selbsttätigkeit, Erziehung#Selbsterziehung, Selbsterkenntnis

Ältere Literatur und Ratgeber

  • Hieronymus Andreas Mertens: Vortrag eines Vaters an seine Kinder. Über die Kunst, stets froh zu leben. Zur Selbstbildung beym Eintritt in die große Welt; 17. Erziehungsrede, 1788
  • J.G. Petri: Allerneuestes Complimentir- und Anstandsbuch, oder Regeln für Selbstbildung und seine Lebensart, 1836
  • Carl von Wallen: Handbuch des Anstandes und der feinen Sitte Zur Selbstbildung für Deutschlands Jugend beiderlei Geschlechts, 1836
  • Michael Leopold Enk von der Burg: Über Bildung und Selbstbildung, 1842
  • Anton Füster: Mentor des studirenden Jünglings. Anleitung zur Selbstbildung, 1848
  • Franz Müller: Selbst-Bildung (Opus Sancti Josephi.), 1903ff.
  • Ernst Lüttge: Die Praxis der Lesebuchbehandlung als Anleitung zur Selbstbildung durch Lektüre, 1908
  • Ernst Weber: Der Weg zur Zeichenkunst. Ein Büchlein für theoretische und praktische Selbstbildung, 1913; 1918; 1920; 1926
  • Romano Guardini: (Gottes Werkleute.) Briefe über Selbstbildung, 1922 u.ö., zuletzt 1993
  • Anna Carstens: Jacob Wilhelm Heinse unter dem Gesichtspunkt der Selbstbildung, 1923
  • Hermann Bühnemann: Die Selbstbildung des Schulkindes. Eine Einführung in die Grundfragen einer kindertümlichen "stillen Beschäftigung" und in einer Sammlung zeitgemäßer Bildungsmittel, 1931; 1938
  • Theodor Rutt: Selbsterziehung und Selbstbildung im Leben und in den Werken Adalbert Stifters, 1939
  • Franz Michel Willam: Unser Weg zu Gott. Ein Buch zur religiösen Selbstbildung, 1951
  • Horst Widmann: Selbsterziehung und Selbstbildung bei Schiller. Ein Beitrag zur Erscheinungslehre der Selbsterziehung, 1954
  • Hans Rudolf Franz: Selbsterkenntnis, Selbsterziehung und Selbstbildung bei Friedrich Hebbel. ein Beitrag zur Erscheinungslehre der Selbsterziehung, 1957
  • Hartmut Apfelstedt: Selbsterziehung und Selbstbildung in der deutschen Frühromantik. Friedrich Schlegel, Novalis, Wackenroder|Wackenroder, Tieck, 1957; 1958

Wissenschaftliche Literatur

  • Berthold Michael: Selbstbildung im Schulunterricht, 1963
  • Paulus Sladek: Wege zur religiösen Selbstbildung, 1964
  • Wolfgang Guenther: Spiel, Kampf und Arbeit als Formen der Selbstbildung im Frühwerk Ernst Jüngers, 1966; 1968
  • Frei Otto: Selbstbildung. Physikalische und konstruktive Entstehungsprozesse, die auf die Entstehung, Ausbildung und den Wandel organischer Objekte Einfluß haben und die auch für Technik und Architektur von Bedeutung sein können, 1984
  • Karl Wilkner: Selbsttätigkeit und Selbstbildung, 1987
  • Helmut Moysich: Die Selbst-Bildung und der Exzeß des Blicks. Zum Werk Heinrich von Kleists, 1988
  • Astrid Weiss: Vorbereitung Heranwachsender auf Selbstbildung, untersucht und dargestellt anhand des Experimentierens im Physikunterricht der Klasse 9, 1990
  • Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Auf der Suche nach Identität. Von der Erziehung zur Selbstbildung, 1991
  • Sabine Meyer: Mädchenbücher als Sozialisationsagenten und Angebote zur Selbstbildung zum Wandel weiblicher Leitbilder in der jüngeren Entwicklung des Mädchenbuches in Deutschland, 1993
  • Ulrike Hentschel: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung, 1996
  • Wilfried Gabriel: Personale Pädagogik in der Informationsgesellschaft. Berufliche Bildung, Selbstbildung und Selbstorganisation in der Pädagogik Rudolf Steiners, 1996
  • Florence Giust-Desprairies: Im Spiegel der Anderen. Selbstbildung in der internationalen Begegnung, 1997
  • Olaf Sanders: Romantik, Zerstörung, Pop. Studien zu einer Theorie der Selbstbildung, 2000
  • Reinhard Aulke: Vom Anspruch der Situation zur Selbstbildung des Kindes, 2001
  • Kirsten Fernandez: Bildung als Selbstbildung. Zur Kritik postmoderner Vorstellungen von der Bildung des Subjekts, 2003
  • Rie Shibuya: Individualität und Selbstheit. Schellings Weg zur Selbstbildung der Persönlichkeit (1801–1810), 2005
  • Klaus Künzel: Informelles Lernen - Selbstbildung und soziale Praxis, 2005
  • Gerd E. Schäfer: Bildungsprozesse im Kindesalter. Selbstbildung, Erfahrung und Lernen in der frühen Kindheit, 2005
  • Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, 2009
  • Roland Kipke: Besser werden. Eine ethische Untersuchung von Selbstformung und Neuro-Enhancement, 2011

Weitere Literatur

  • Friedrich Rittelmeyer: Meditation. Zwölf Briefe über Selbsterziehung. Urachhaus 1994. ISBN 3-87838-117-4
  • Klaus-Dieter Neumann, Wolfgang Weirauch: Übungen zur Selbsterziehung, Flensburger Hefte Nr. 47, mit Beiträgen von: Michael Alberts, Thomas Höfer, Stefan Leber, Frank Linde, Klaus-Dieter Neumann, Wolfgang Weirauch, Cordula Zeylmans van Emmichoven, Emanuel Zeylmans van Emmichoven, 2. Aufl. 1997, ISBN 978-3-926841-65-0
  • Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen (wikipedia-Artikel), Die ästhetischen Briefe Schillers (Online-Volltext)
  • Heinz Zimmermann: Schillers Freiheitsphilosophie. "Über die ästhetische Erziehung des Menschen", in: Erziehungskunst, 69 (2005) 7/8, S. 777-782. Als PDF: [1]
  • Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen hrsg. v. Klaus L. Berghahn, Reclam Nr. 18062, Stuttgart (2000) 2010, umfangreicher und informativer Anmerkungsteil zur Entstehungsgeschichte, auch Kommentare zu den einzelnen Briefen sowie ein Nachwort des Herausgebers, ISBN 3150180627
  • Friedrich Schiller, Stefan Matuschek: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Kommentar v. Stefan Matuschek, Suhrkamp stb 16, 2009, sehr umfangreicher Kommentarteil "der zurzeit wohl aktuellste und auch beste" [2], jeder einzelne Brief wird ausführlich erläutert, mit Stellenkommentar und Begriffsglossar. ISBN 3518270168
  • Friedrich Schiller, Heinz Zimmermann, Rudolf Steiner: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen., Verlag Freies Geistesleben, 3. Aufl. 2009, Mit Ausführungen Rudolf Steiners über Wesen und Bedeutung von Schillers Ästhetischen Briefen und mit einer Einleitung und einem Nachwort von Heinz Zimmermann.[3], ISBN 3772503195
  • Rudolf Steiner: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis. Die Erziehung des Kindes und jüngeren Menschen., GA 306 (1989), ISBN 3-7274-3060-5 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org

Weblinks

  • Rudolf Steiner: Die Selbsterziehung des Menschen im Lichte der Geisteswissenschaft, Vortrag in Berlin, 14. Mrz. 1912 (GA 61), PDF:[4]
  • Bodo von Plato: Von der Selbsterziehung, aus Konturen, Bd. 6, 1995, PDF des Abdrucks in "Das Goetheanum":[5]
  • Holger Niederhausen: „Die Moral kommt dann schon“? Selbsterziehung nach Bodo von Plato (1995), 2011 [6]
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Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.
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