Jean Gebser

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Jean Gebser (1957)

Jean Gebser (* 20. August 1905 in Posen; † 14. Mai 1973 in Wabern bei Bern) war Philosoph, Schriftsteller und Übersetzer. Als Vertreter einer sog. Integralen Theorie strebte er danach, wissenschaftliche und spirituelle Erkenntnisse zu verbinden. In diesem Kontext gilt er als einer der ersten kulturwissenschaftlich orientierten Bewusstsein­sforscher, die ein Strukturmodell der Bewusstseinsgeschichte des Menschen etabliert haben.

Leben

Nach einer Banklehre folgte für Gebser eine Ausbildung als Buchhändler in Berlin. Dort schrieb er sich 1924/1925 auch für wenige Semester als Werkstudent an der Humboldt-Universität Berlin ein. Er besuchte unter anderem Vorlesungen bei Werner Sombart und bei Romano Guardini.

1931 verließ er Deutschland und lebte ab 1932 einige Zeit in Spanien, wo er mit Federico García Lorca und anderen spanischen Dichtern befreundet war. 1936 erschienen seine Übertragungen spanischer Gedichte ins Deutsche unter dem Titel Neue spanische Dichtung im Verlag Rabenpresse von Victor Otto Stomps. Im selben Jahr begann er (zunächst auf Spanisch) mit der Ausarbeitung der Schrift Rilke und Spanien, die erst 1940 auf Deutsch erschien.

Ab 1937 lebte er in Paris und lernte dort die französischen Dichter Paul Éluard, Louis Aragon und André Malraux sowie den Maler Pablo Picasso kennen. 1939 verließ Gebser Frankreich und ließ sich in der Schweiz nieder, die ihm zur Wahlheimat wurde. 1943 erschien sein „Abriss der Ergebnisse moderner Forschung“ unter dem Titel Abendländische Wandlung, dann Der grammatische Spiegel (1944) und Lorca oder das Reich der Mütter (1949).

Gedenktafel an der Kramgasse 52 in Bern

Im Winter 1947 hatte er mit der Ausarbeitung seines Hauptwerks Ursprung und Gegenwart begonnen. 1949 wurde der erste Band beendet und veröffentlicht. Von 1950 bis 1952 arbeitete er am zweiten Band, der 1953 erschien. Auf zahlreichen Kongressen und Vortragsreihen, die meist in Buchform erschienen sind, sprach er mit anerkannten Wissenschaftlern und Denkern über den Anbruch eines „aperspektivischen“ Zeitalters, wie er ihn in Ursprung und Gegenwart aufzuzeigen versuchte, und über die neue, „aperspektivische“ Weltsicht. Zu seinen Freunden zählten Carl Gustav Jung, Adolf Portmann, Karl Kerényi und der Maler Siegward Sprotte. Sein engster Freund war der Historiker Jean Rodolphe von Salis.

Gedenk-Stele in Wabern

1961 unternahm er eine Asienreise, die Niederschlag in dem Buch Asien lächelt anders fand (erschienen 1968). Sein letztes Werk, Verfall und Teilhabe (erschienen 1974) schloss er kurz vor seinem Tod ab.

Jean Gebser starb am 14. Mai 1973 in seiner Wohnung in Bern. Bestattet wurde er auf dem Friedhof neben der reformierten Kirche von Wabern, in der Gemeinde Köniz.[1] Sein Nachlass befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv.

Gebsers Bewusstseinsgeschichte

Gebser wird heute meist assoziiert mit der Bewusstseinsgeschichte, welcher der erste Band von Ursprung und Gegenwart (mit dem Titel Die Fundamente der aperspektivischen Welt. Beitrag zu einer Geschichte der Bewusstwerdung) gewidmet ist.

Gebsers Methode ist die kulturphänomenologische Betrachtung der Relikte vergangener Zeiten (Bilder, Statuen, Schriftstücke) und die Untersuchung der Worte und ihrer Wurzeln (Etymologie). Er ist der Meinung, dass sich vier Bewusstseinsstrukturen nachweisen lassen, die den heutigen europäischen Menschen konstituieren und die in seiner Kulturgeschichte aufeinanderfolgend in Erscheinung traten. Er nennt diese Bewusstseinsstrukturen die archaische, die magische, die mythische und die mentale. In unserer Zeit ereignet sich seiner Meinung nach der „Durchbruch einer neuen, integralen Bewusstseinsstufe, deren Grundthema die Überwindung (Entprojizierung) des nur mentalen (linearen) Verhaftetseins an Raum und Zeit durch die Konkretion der Zeit (als zeitfrei erfahrbare Qualität ganzheitlich realisierter Gegenwart) ist“.

Die Bewusstseinsstrukturen werden gelegentlich als „Bewusstseinsphasen“ bezeichnet. Dies kann den Eindruck erwecken, als seien die Bewusstseinsstrukturen aufeinander gefolgt, indem eine Struktur die andere ablöste. Doch jede Struktur bleibt wirksam, auch nachdem eine neue Struktur aus ihr „herausmutiert“ ist. Deshalb spricht Gebser von Bewusstseinsstrukturen, und nicht von „Phasen“. Auch den räumlichen Ausdruck „Bewusstseinsebenen“ meidet er, denn die Bewusstseinsstrukturen sind „nicht bloße Raumgefüge“, sondern können „vor allem auch Gefüge raumzeitlicher, ja selbst raumzeitfreier Art“ sein.[2]

Ferner ist Gebser der Meinung, dass das Bewusstsein sich nicht kontinuierlich „entwickelt“ hat, sondern dass sprunghafte, diskontinuierliche Wandlungen der Strukturen geschahen: sobald eine Struktur „defizient“ wird, sobald sie also erschöpft ist und sich destruktiv auszuwirken beginnt, gelangt eine andere Bewusstseinstruktur zum Durchbruch, die keine kontinuierliche Weiterführung der alten Bewusstseinsstruktur, sondern etwas vollkommen Neues ist. Den sprunghaften, diskontinuierlichen Charakter der Bewusstseinswandlung bringt Gebser zum Ausdruck, indem er von „Bewusstseinsmutationen“ spricht.[3]

Denker wie Hegel, Comte und Herbert Spencer glaubten in der menschlichen Bewusstseinsgeschichte eine fortschreitende Höherentwicklung zu erkennen, in deren Verlauf frühere Bewusstseinsformen als „Irrtümer“ erkannt und von neuen, „besseren“ Bewusstseinsformen abgelöst werden; keine neue Struktur ist „besser“ als die alte, aus der sie herausmutiert. Jede Bewusstwerdung sei zugleich Gewinn und Verlust. Sie sei ein Verlust, insofern sie den Menschen aus dem Ganzen herauslöst. Sie sei jedoch ein Gewinn, insofern sie die Chance zur wachsenden Distanzierung von Raum und Zeit und damit zur Überwindung des Raumes und der Zeit, zur Gewinnung der Raum-Zeit-Freiheit birgt, womit wieder der Grundgedanke Gebsers berührt ist.

Werke

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Seine letzte Wohnadresse, Sandrainstrasse 109, ist zwar postalisch 3084 Wabern zugeordnet, steht aber auf Stadtberner Boden. Siehe: Fredi Lerch: Wenn der Verstand die Vernunft verliert
  2. Vgl. Ursprung und Gegenwart, S. 83
  3. Der Begriff der Mutation wurde von Gebser zwar aus der biologischen Terminologie (De Vries: „Mutationstheorie“) übernommen, bekommt im Zusammenhang mit dem menschlichen Bewusstsein jedoch einen geistigen Sinn. Er bezeichnet einen sprunghaften, diskontinuierlichen Durchbruch des Neuen.


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