Wahrheitskriterium

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Ein Kriterium (gr. κριτήριον, „Gerichtshof; Rechtssache; Richtmaß“) ist ein Merkmal, das bei einer Auswahl zwischen Personen oder Objekten (Gegenständen, Eigenschaften, Themen, usw.) relevant für die Entscheidung ist. (gemäß wikipedia: Kriterium).

Entsprechend ist ein Wahrheitskriterium ein Merkmal, das es ermöglicht, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden. Eine erkenntnistheoretische Schwierigkeit besteht darin, daß ein solches Merkmal, wie die Wahrheit selbst, eines Ausweises bedarf: In gewissen Hinsichten ist das Prüfkriterium, seine gültige Anwendbarkeit und dann seine korrekte Anwendung das eigentliche Erkenntnisproblem, in dem dann, bei gültiger Anwendbarkeit, über die korrekte Anwendung entschieden werden muß.

Ein Lösungsvorschlag dieses infiniten Regresses ist wissenschaftstheoretisch der Einsatz des Kriteriums der Intersubjektivität, durch das aber eine absolut sichere Erkenntnis niemals erreicht werden kann, sondern nur ein mehr oder weniger vollständiger Konsens, was wahr sei, bzw. was nicht widerlegt ist (Fallibilismus).

Der heute weitgehend herrschende Fallibilismus in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie ist einmal der (auch Alltags-)Erfahrung geschuldet, daß sich angebliche Wahrheiten irgendwann doch als unwahr herausstellten. Aber auch einer Resignation, das Wahrheitsproblem, bzw. das Problem des Wahrheitskriteriums lösen zu können.

Die bequeme Intersubjektivitätsregel kann nicht die Notwendigkeit ersetzen, im Erkennen und in der Forschung ein Wahrheitskriterium verwenden zu müssen. Dies gilt natürlich im besonderen für die Geisteswissenschaft oder Anthroposophie, weil auf dem "Gebiet" des Geistes bisher erst nur wenige Forscher tätig sind, es keine größere Forschergemeinschaft gibt, mithin eine gegenseitige intersubjektive Kritik der jeweils einsam gewonnenen Erkenntnisse der Geistesforscher/innen kaum schon in einem Maße möglich ist, daß dadurch die Zweifel an den Behauptungen, was wahr sei, ausreichend in Richtung allgemeinen (intersubjektiven) Geltens behoben werden könnten.

Allerdings versteht sich die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners nicht als fallibilistisch. Der ganzen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Anlage nach ist die anthroposophsiche Wissenschaft keine fallibilistische Wissenschaft, und benötigt grundsätzlich auch die kontrollierende Intersubjektivität nicht (obwohl diese wohl hilfreich sein mag). Daher muß die anthroposophische Wissenschaft das erkenntnistheoretische Problem des Wahrheitskriteriums positiv lösen können.

Voraussetzunglose Erkenntnis und Wahrheitskriterium

Das Problem des Wahrheitkriteriums ist gewissermaßen die Kehrseite des erkenntnistheoretischen Problems der Voraussetzungslosigkeit. Während die heute herrschende Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie gemeinhin von der Unmöglichkeit solcher Voraussetzungslosigkeit im strengen Sinne ausgeht, und darüber hinaus für die Wissenschaftspraxis für verzichtbar hält, kann die anthroposophische Wissenschaft solche Position nicht einnehmen, da sie von der Wahrheitsfähigkeit des Menschen überzeugt ist. Sie behauptet: Es gibt Wahrheit, und der Mensch ist ihrer fähig. Daher muß die anthroposophische Erkenntnis voraussetzungslos (d.h. auch wahr) beginnen können, und die gewonnenen Wahrheiten müssen positiv ausgewiesen werden können, d.h. letztlich auch auf den gültigen, wahren Anfang hin beziehbar sein.

Äußerungen von anthroposophischen Philosophen zum Thema

C. A. Gilbert: All is vanity

Herbert Witzenmann ist der Ansicht, daß im Erkenntnisprozeß gleichsam nebenbei eine Art fortlaufendes Experiment stattfindet. Beobachtungsexperimente nämlich, analog den Experimenten in den Naturwissenschaften (seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode), - die im Erkenntnisprozeß prüfen, ob jeweils Begriff und Wahrnehmung zusammenpassen. Das Wahrnehmliche, das schon längst nicht mehr das reine Wahrnehmliche als solches ist, sondern eine Leerstelle im Gefüge, akzeptiert nur den passenden Begriff, und weist andere, unpassende zurück. Nur der richtige, wahre Begriff "haftet" an der Wahrnehmung. Dieses Anhaften ist nach Witzenmann das Wahrheitskriterium. Er erörtert dieses Geschehen allerdings an dem Beispiel der sinnlichen Wahrnehmung.

Zur Erläuterung gibt es den Hinweis auf die Vexierbildphänomene, und andererseits, was Goethe über die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit sagte, ein herabfallendes Blatt von einem herunterflatternden Vogel zu unterscheiden[1]. Bei den Vexierbildern gibt es zwar eine Zweideutigkeit, aber trotzdem wird gerade da deutlich, in welchem Maße das Wahrnehmliche die Herrschaft darüber ausübt, welcher Begriff gültig und wahr auf es angewendet werden darf.(Bei der Abbildung rechts hängt der Umschlag von einem Begriff zu einem anderen auch von der Entfernung ab, aus der das Bild betrachtet wird.) Das ist aber das schon vorkonstituierte Wahnehmliche. Um das Spezielle dieses Vexierbildes wahrnehmen zu können, sind schon unzählige Vereinigungen von Begriff und Wahrnehmung vorausgegangen, wie die Unterscheidung von schwarz und weiß z.B. Dann muß man wissen, was ein toter Schädel ist, und wie eine menschliche Person in Kleidung aussehen kann usw. Das sind für diese besondere Erkenntnisfrage: Smalltalk zweier Solondamen, bzw. eine Dame im Spiegel, oder Totenschädel Vorgegebenheiten. Die Varianten sind nur möglich innerhalb eines Gefüges, das schon als wahr vorausgesetzt ist.

Das Erkenntnisproblem ist bei dem Beispiel des vom Baume herabflatternden Objektes grundsätzlich das gleiche: Es sollen Begriff und Wahrnehmung wahrheitsgemäß zusammengebracht werden. Während jedoch das Vexierbild im Wahrnehmlichen zweideutig bleibt, und die Anwendung zweier verschiedener Begriffe erlaubt, womit man es da dann wohl mit zwei zu unterscheidenden Objekten zu tun haben muß, ist bei dem herabflatternden Objekt vorausgesetzt, daß es sich um ein einziges Objekt handelt. Die Möglichkeit, daß es sich sowohl um ein Blatt als auch um einen Vogel handelt, ist hier ausgeschlossen, von dem praktisch nie vorkommenden Fall abgesehen, daß bei der Wahrnhehmung des Objektes dieses ein Vogel ist, und davor oder dahinter fällt zufällig auch ein Blatt herab, bzw. umgekehrt, und der erkennende Mensch hat für einem Moment die beiden Objekte in der Wahrnehmung deckungsgleich bzw. überlappend.

Angenommen, das Objekt sei in Wirklichkeit ein Vogel, der aber als ein Blatt erkannt wird. Kann man dann davon ausgehen, daß im Erkenntnisprozeß die Gültigkeit des Beobachtungsexperimentes: Begriff Blatt haftet an dem Wahrnehmlichen, das sich vom Baume zum Boden herabbewegt, sorgfältig geprüft wurde? Wohl kaum. Nach einem ersten Zögern wird spontan der Begriff Vogel zugeordnet. Es ist keine Zeit für eine sorgfältige Prüfung. Schon Sekunden später kann es zu der Überraschung kommen, daß das angebliche Blatt im Grase herumhüpft. Wenn der Vogel jedoch sitzen bleibt, klärt sich der Irrtum nicht auf.

Im Alltag kommen solche Fehler sehr häufig vor, und oft sind sie vernachlässigbar, und zeitigen meist keine problematischen Konsequenzen. Will man jedoch mit wissenschaftlichem Anspruch erkennen, dürfen solche Irrtümer nicht passieren. Die Schwierigkeit besteht hier bei dem Beispiel in der Entfernung der Wahrnehmung, und in der kurzen Zeit ihres Auftretens. Würde der Vogel von einem sehr hohen Baume herabflattern, oder würde man aus unmittelbarer Nähe beobachten: Dann würde man den Vogel leichter als einen solchen vom Blatt unterscheiden können.

Man müßte eigentlich in solchen Fällen mit seinem Urteil zurückhalten, auf die Erkenntnis verzichten, sich sagen: Es könnte ein Vogel oder ein Blatt sein, und eventuell noch etwas anderes (z.B. ein ferngesteuertes Spielflugzeug). Das bedeutet aber umgekehrt, das der Begriff Blatt in Wirklichkeit gar nicht an dem Wahrnehmlichen haften konnte: Man hat sich nicht nur bezüglich des Wahrnehmlichen als solchem getäuscht, sondern auch darin, daß der versuchte Begriff an der Wahrnehmung hafte.

Eine Möglichkeit für die Wissenschaft der von Bäumen herabflatternden Objekte, (falls die Entfernung nicht verringert werden kann und die Zeit des Herabflatterns zu kurz ist für ein gründlicheres Studium der Objekte), könnte es sein, eine Dauerbeobachtung durchzuführen. Ein Forscher, der täglich in der Herbstzeit bei unterschiedlichen Winden mehrere Stunden herabfallende Blätter beobachtet, und dazu die verschiedenen herabflatternden Vögel, wird bald eine sehr scharfe Wahrnehmung bekommen, wie sich Blätter und Vögel dann doch typisch in ihren Bewegungen auf dem Weg zum Erdboden unterscheiden.

Solch einem spezialisierten Forscher wird man eher vertrauen, als einer Gruppe von Laien, die sich "intersubjektiv" darüber verständigen, ob es nun ein Blatt oder Vogel gewesen sein soll. Und wo dann die herrschende Meinung sich möglicherweise durchsetzt, obwohl sie unwahr sein mag. Der spezialisierte und erfahrene Forscher bzw. die Forscherin verfügt über Autorität, Reputation.

Das Wahrheitskriterium des Anhaftens ist nur anwendbar innerhalb eines schon als wahr vorausgesetzten (oder auch hypothetisch angenommenen) Kontextes, das ist die schon fertig konstituierte Wirklichkeit (das Gefüge, eine Verwebung unzähliger Vereinigungen von Begriffen mit Wahrnehmlichem, und von Begriffen untereinander). Wenn diese dem besonderen Erkenntnisakt, in dem sich ein zu erkennendes Wahrnehmliches zeigt, vorausgesetzte Wirklichkeit in sich schief, verzerrt oder widersprüchlich ist, oder sie auf falschen Grundannahmen beruht, im Ganzen also unwahr ist, dann ist es unmöglich, mittels des Wahrheitskriteriums des Anhaftens eines Begriffes an einem Wahrnehmlichen, innerhalb einer solchen in sich unstimmigen Wirklichkeit, ein Wahrheitsurteil zu fällen, daß ein Begriff mit einer Wahrnehmung zusammenpasse. Diese Tatsache wird in der Wissenschaft für das Umgekehrte genutzt, nämlich um mittels einer als wahr festgestellten Einzelbeobachtung, eine hypothetische Theorie zu überprüfen.

Bei den sinnlichen Wahrnehmungen gibt es einen sicheren, alltagsweltlichen Kontext, der als wahr vorausgesetzt werden kann. Dieser schließt in dem angeführten Beispiel z.B. aus, daß ein Blatt, wenn es zu Boden gefallen ist, auf diesem wie ein Vogel herumhüpfen könne. (Es mag vom Wind wieder aufgewirbelt werden können.)

(Forts. folgt, insb. was Helmut Kiene zum Thema sagt)

Siehe auch

Wahrheit#Einwände gegen den Begriff der Wahrheit

Nachweise

  1. [Vgl. dazu auch: Emanuela Assenza: Die ästhetische Funktion der Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty. Diplomarbeit 2010 http://emanuela-assenza.com/vita/DiplomarbeitMerleau-Ponty.pdf]

Literatur

Herbert Witzenmann: Ein Weg zur Wirklichkeit. Anmerkungen zum Wahrheitsproblem, Aufsatz, abgedruckt in: Intuition und Beobachtung, Bd. 2, Freies Geistesleben, 1978, S. 9 -46 (geänderter und erweiterter Nachdruck von Aufsatz in Die Drei, Okt. 1976)

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Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.
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