Einheitsstaat

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Karte der Einheitsstaaten i.S.v. Zentralstaaten
Weltweit gibt es 28 föderative Staaten, darunter Deutschland, Österreich und die Schweiz.

1. Als Einheitsstaat wird ein Staat bezeichnet, in dem die Staatsgewalt über das gesamte Staatsgebiet meist von der Hauptstadt aus zentralistisch ausgeübt wird. Gebräuchlich ist heute zunehmend auch der Ausdruck Zentralstaat.[1] Als besondere Ausprägung des Einheitsstaats wird teilweise der dezentrale Einheitsstaat genannt, der über dezentrale Organe der Selbstverwaltung wie etwa Bezirke oder Departements verfügt, die jedoch zentral beaufsichtigt werden.

Einheitsstaaten werden durch Einteilung in Verwaltungseinheiten, gegebenenfalls auch in eigenständige Selbstverwaltungskörperschaften gegliedert, nicht aber in eigenstaatliche Gliedstaaten wie im Bundesstaat.[2]

Das Streben nach einem Einheitsstaat wird als Unitarismus bezeichnet, das Streben nach einer bundesstaatlichen Ordnung demgegenüber als Föderalismus.

2. Einheitsstaat ist "ein Begriff der konservativen Staatslehre, die der pluralistischen Interessenvielfalt moderner Staaten ein übergeordnetes, einheitliches politisches System entgegensetzt"[1].

Die Verwendung des Begriffs "Einheitsstaat" bei Rudolf Steiner

Rudolf Steiner verwendet den Begriff "Einheitsstaat" in keiner der beiden genannten Bedeutungen. "Einheitsstaat" wird als ein Gegenbegriff zur Idee der "Dreigliederung des sozialen Organismus" in Staats- bzw. Rechtsleben, Wirtschaftsleben und Kultur- bzw. Geistesleben verwendet. Was unter einem Einheitsstaat und einer "einheitsstaatlichen Orientierung" zu verstehen ist, wird von Rudolf Steiner nicht genauer definiert, sondern eher beiläufig charakterisiert.

Was das Wesen des Einheitsstaates und einer einheitsstaatlichen Orientierung nach Rudolf Steiner ausmacht, ist bisher kaum näher untersucht worden. Man beschränkt sich auf die Charakterisierung der modernen Nationalstaaten und der ihnen entsprechenden typischen staatsbürgerlichen Mentalität, um dann zur Erläuterung überzugehen, was unter einer Dreigliederung des sozialen Organismus zu verstehen sei. "Einheitsstaat" ist dabei dann nur noch eine diffuse Kontrastfolie, mit vagen Vorstellungen insbesondere historischer Art, und was aus persönlichen Erfahrungen hinzukommt, bebildert.

Wenn Definitionsversuche gemacht werden, dann können diese auch schon mal schief oder einseitig geraten, oder gar ganz falsch sein:

„Als Einheitsstaat bezeichnet die Dreigliederung jede Gesellschaftsform, in der offen oder verdeckt von einer zentralen Stelle aus die für Erziehung und Kultur, für Staat und Recht und für das Wirtschaftsleben gültigen Richtlinien und Gesetze gegeben werden. In den kommunistischen Ländern zeigte sich der „Einheitsstaat“ unverhüllt. Seine zentrale Leitstelle sind die Führungsgremien der Partei. Die Folge davon ist, dass die geistige Ausrichtung jedes Einzelnen, die Rechte und Pflichten und der Wirtschaftsbereich in der Produktion, der Zirkulation und dem Konsum von Waren nach den von der Führungsspitze gegebenen Richtlinien, Gesetzen und Vorschriften erfolgen. Das angestrebte Ziel ist eine möglichst große Einheitlichkeit aller Prozesse, die sich in Erziehung und Kultur, in Staat und Recht in der Wirtschaft abspielen. In zunehmenden Maße wird entdeckt, dass auch in den kapitalistischen Ländern in Wirklichkeit sehr kleine Gruppen die Herrschaft ausüben. In seinen Vorträgen und Schriften über die Idee der Dreigliederung vertritt Rudolf Steiner die Auffassung, dass die sogenannten demokratischen Parlamente nur verschleiern, dass auch heute noch die Herrschaft in Wirklichkeit von ganz kleinen Gruppen ausgeübt wird.“ (Lit.: Peter Schilinski: Das Gesellschaftsmodell der Dreigliederung, in: Jedermensch, Herbst 2009, Nr. 652, S. 12)

Zentralsteuerung und Oligarchie sind keine wesentlichen Merkmale eines Einheitsstaates im Sinne Rudolf Steiners oder der Dreigliederungsidee. Auch ein demokratischer Staat mit förderaler Ordnung und mit Elementen von dezentraler oder funktionaler Selbstverwaltung kann ein Einheitsstaat sein. Ein Staat ist ein soziales Gemeinwesen mit Zugehörigkeit aufgrund von Territorium und Staatsbürgerschaft. Auf diesem Gebiet und für seine Staatsbürger herrscht ein einheitliches Recht oder eine politische Macht mit Gewaltmonopol. Typisch für den Einheitsstaat im Sinne Steiners ist eine Mentalität des Staatsbürgers (das Nationalismusproblem hier außen vorgelassen), die das gesamte gemeinsame Leben in die eigene Identität als Bürger einbefaßt: "Die in Bremen haben schlechtere Schulen als wir Bayern", z.B. bringt zum Ausdruck die territoriale und bürgerliche Identität des Bayern in Abgrenzung zum Bremer. Im gleichen Sinne unterstellt man z.B., daß die Chinesen gemeinsame wirtschaftliche Interessen hätten, stellt fest, daß die Amerikaner die besten Universitäten haben usw. Man ordnet Universitäten und Wirtschaftsunternehmen einem Staatsterritorium oder einer staatsbürgerlichen Gemeinschaft (wenn nicht einer nationalen) zu. Diese Sichtweise, die z.B. auch in der Ansicht zum Ausdruck kommt, daß die Deutschen oder ein anderes Staatsvolk gemeinsame wirtschaftliche Interessen hätten, und nicht irgendwelche Produzenten oder Konsumenten diese haben, sondern eben die Staatsbürger, "wir" als soziale Staatsgemeinschaft: Das ist die einheitsstaatliche Mentalität, Sichtweise oder Orientierung. Für den idealtypischen Einheitsstaat fallen dann die territorialen Staatsgrenzen mit den wirtschaftlichen (Zollschranken, verschiedene Währungen) und den kulturellen, insbesondere Sprachgrenzen, zusammen. Außenhandel wird betrieben im Interesse der eigenen Wirtschaft, d.h. der gemeinsamen Wirtschaft von sich zusammengehörig fühlenden Staatsbürgern. Wirtschaftliche Erfolge gegenüber dem Ausland sind gleichbedeutend mit Territorialgewinnen durch Kriege, die Bürger werden ausgebildet und qualifiziert, den Wirtschaftsstandort, das staatliche Territorium als Wirtschaftseinheit, zu verteidigen, gegen den Angriff anderer Völker bzw. staatlich geeinter Wirtschaftsgemeinschaften anderer Erdgebiete, usw.

„Andererseits bot der Staat den wirtschaftlichen Interessenträgern die Gelegenheit, durch Verstaatlichungen von Bahn- und Postwesen und anderen Industrien, die nach den Marktgesetzen defizitär wurden, notwendige wirtschaftliche Leistungen zu sozialisieren sowie die Internationalisierung der Wirtschaft nach nationalstaatlichen Interessen zu betreiben. [FN2 So verhinderten die Ungarn den Eisenbahnbau in Dalmatien, weil sie für ihren Hafen Fiume an der Adria keine Konkurrenz aufkommen lassen wollten. (Vgl. Fritz Piston, Tübingen 1923, Die assoziative Wirtschaft als Forderung Rudolf Steiners, Diss., S. 11)]. Beide Aspekte führte Steiner am Beispiel des Baues der Bagdadbahn (1903) an, bei welchem wirtschaftliche und strategische Interessen Deutschlands bzw. auch Österreichs miteinander vermischt wurden. [FN3 «Sowohl im Südosten Europas wie bei der Bagdadbahn», schreibt Steiner (1969,34) «hätten Maßnahmen, die nur im Interesse der Weltwirtschaft unternommen worden wären, für sich nicht zu Ursachen der Weltkatastrophe werden können. Sie sind es geworden, weil die Einheitsstaaten andersartige Interessen mit den wirtschaftlichen verbanden».]“ (Lit.: von Canal, S. 33)

Auch die geplante Elbvertiefung im Interesse Hamburgs muß als ein Vorhaben aus einheitsstaatlicher Mentalität angesehen werden, als daß es dabei auch um die Erhaltung der wirtschaftlichen Bedeutung des Hamburger Hafens für die Stadt und ihre Bürger geht. Unter rein wirtschafltichen Gesichtspunkten würde man die großen Containerschiffe zum für sie schon heute geeigneten Wilhelmshavener Containerhafen lenken.

Karl Heyer führt im Zuge einer historischen Betrachtung eine Definition an, die sich vom Bild eines dreigegliederten Organismus ableitet. Die historische Entwicklung zu den heutigen Nationalstaaten ist so verlaufen, daß sich in ihnen die drei Funktionsbereiche des sozialen Lebens: Kulturleben, politisch-rechtliches Leben und Wirtschaft, in einer unorganischen Weise zu einheitlichen Sozialkörpern verbunden haben:

„Nachdem in der römisch-mittelalterlichen Zeit im wesentlichen zwei Glieder des sozialen Organismus entwickelt worden waren: das Geistesleben und das politisch-rechtliche Leben, hätte man sich, indem nun in der neueren Zeit die Wirtschaft als das dritte Glied nach und nach immer mehr hinzukam, besonders für Mitteleuropa einen solchen Übergang in die modernen Verhältnisse denken können, durch den diese mittelalterliche Zweigliederung auf einem ganz organischen Wege sich allmählich in eine soziale Dreigliederung umgewandelt hätte. Dieses aber ist ja nun historisch zunächst nicht geschehen. Was geschah, war vielmehr die Begründung des «Einheitsstaates » wobei immer im Auge zu behalten ist, daß wenn wir in solchem Zusammenhang von «Einheitsstaat » reden, das Wort in einem etwas anderen Sinne gebraucht wird, als es heute sonst meist geschieht. Während man nämlich sonst unter Einheitsstaat das begriffliche Gegenteil, z.B. von Bundesstaat oder Staatenbund oder dergleichen versteht, handelt es sich hier um jenes der sozialen Dreigliederung entgegengesetzte Staatsgebilde, sei es groß oder klein, einfach oder zusammengesetzt, das vom Staat aus das Geistesleben und die Wirtschaft mitverwaltet bzw. sich auch seinerseits in Anhängigkeit von diesen, namentlich der Wirtschaft befindet. Im Goetheschen Märchen tritt uns ein Bild dieses Einheitsstaats in der Gestalt des «gemischten Königs» entgegen, der in unorganischer Weise aus den drei Metallen: Gold, Silber und Erz zusammengesetzt ist.“ (Lit.: Karl Heyer, Vom Reiche des "gemischten Königs", S. 71f.)

Es kommt in dieser Betrachtung auch zum Ausdruck, daß man zwischen einem "sozialen Organismus" und einem Staatswesen unterscheiden muß. Der Einheitsstaat hat sich historisch aus dem europäischen sozialen Organismus herausgebildet. Heyer spricht von "Begründung" des Einheitsstaates. Das ist jedenfalls für das zweite deutsche Kaiserreich zutreffend[3].

Schreibstube, Deutschland, Julius Bernhard von Rohr 1719

„Es handelt sich auch darum, daß Sie dann klarmachen, welches der Unterschied ist zwischen so etwas, wie zum Beispiel das Frankenreich Karls des Großen war, und einem späteren Staat. Wenn Sie diesen Unterschied nicht kennen, kommen Sie nicht über den Rubikon des 15. Jahrhunderts hinweg. Das Reich Karls des Großen ist noch kein Staat. Wie ist es bei den Merowingern? Sie sind eigentlich zunächst nichts anderes als Großgrundbesitzer. Und bei ihnen gilt lediglich nur das Privatrecht. Und immer mehr geht dann dasjenige, was aus den alten germanischen Großgrundbesitz-Verhältnissen stammt, über in das römische Recht, wo derjenige, der bloß die Ämter verwaltet, nach und nach die Macht bekommt. So geht allmählich der Besitz über an die Verwaltung, an die Beamten, und indem dann später die Verwaltung die eigentliche Herrschermacht wird, entsteht erst der Staat. Der Staat entsteht also durch die Inanspruchnahme der Verwaltung. Es entsteht der Grafenadel im Gegensatz zum Fürstenadel. «Graf» hat denselben Ursprung wie Graphologe: es kommt her von graphein, schreiben. «Graf» heißt Schreiber. Der Graf ist der römische Schreiber, der Verwalter, während der Fürstenadel als alter Kriegeradel noch mit Tapferkeit und Heldenmut und dergleichen zusammenhängt. Der «Fürst» ist der Erste, der Vorderste. So ist also mit dem Übergang vom Fürsten zum Grafen das staatliche Prinzip entstanden.“ (Lit.:GA 295, S. 179f.)

Dieser Aspekt des Heraufkommens einer systematischen Verwaltung, an die die Macht auf einem Territorium übergeht, wird manchmal vernachlässigt, wenn bei einer Darstellung der Dreigliederung dem Staat das "Rechtsleben" zugeordnet wird, auf das er sich zu beschränken habe. Zum Staat gehört notwendigerweise, denn sonst kann er nicht herrschen, und auch keine Steuern erheben usw., ein Verwaltungsapparat. Diesen identifiziert man heute gerne in seiner bürokratischen Überentwickeltheit und mit seinen an Ausführung von formal-rechtlich Entschiedenem orientierten Staatsdienern mit Staat schlechthin, der sich mit seiner ambitionierten Allzuständigkeit in Bereiche des sozialen Lebens einmischt, wo er nichts zu suchen habe, etwa dem freien Schulwesen. Es ist damit eine alles durchdringende (bürokratische) Verrechtlichung des öffentlichen Lebens verbunden, die den Bürger zwar gängelt, von ihm aber auch verlangt wird, um Verhaltens- und Orientierungssicherheit zu haben, und um vor der Willkür anderer, sowie insbesondere aber auch vor Ausübung willkürlicher Staatsmacht, geschützt zu sein.

Anmerkungen, Nachweise

  1. 1,0 1,1 Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 4., aktual. Aufl., Dietz, Bonn 2006 (online im Politiklexikon der Bundeszentrale für politische Bildung).
  2. Einheitsstaat auf wissen.de, abgerufen am 16. September 2011
  3. Als den idealtypischen Repräsentanten (und Vorbild für die weiteren absolutistischen Fürsten) des Einheitsstaates sieht Heyer das Frankreich Ludwigs XIV. an.

Siehe auch

Gemischter König

Literatur

  • Rudolf Steiner: Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, GA 295 (1984), ISBN 3-7274-2950-X pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  • Peter Schilinski: Das Gesellschaftsmodell der Dreigliederung, in: Jedermensch, Herbst 2009, Nr. 652, S. 12, Volltext
  • Karl Heyer: Vom Reiche des "gemischten Königs" in Geschichte und Gegenwart, in: Karl Heyer, Wer ist der deutsche Volksgeist?, Perseus Verlag Basel, 2. Aufl. 1990, S. 70 - 84
  • Georg F. von Canal: Geisteswissenschaft und Ökonomie, 1992, Novalis Verlag, Schaffhausen
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