Heinrich Marianus Deinhardt

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Heinrich Marianus Deinhardt

Heinrich Marianus Deinhardt[1], geb. 29.1.1821 (Niederzimmern bei Weimar) - gestorben 11.3.1880 in Wien, war ein deutscher Reformpädagoge. Er gilt als Begründer der Heilpädagogik[2]. Deinhardt studierte Theologie, Geschichte und Philosophie in Jena und Halle und galt als Hegel-Experte, erwarb jedoch keinen akademischen Abschluß. Zusammen mit Jan Daniel Georgens und Jeanne Marie von Gayette gründete er 1854 die "Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana" in Baden bei Wien.

1861 und 1863 veröffentlichte er zusammen mit Georgens ein zweibändiges Werk mit dem Titel: "Die Heilpädagogik. Mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten". Ebenfalls 1861 veröffentliche er ein Werk über Schiller: "Beiträge zur Würdigung und zum Verständnisse Schillers".

In der 1848er Revolution spielte er eine aktive Rolle und mußte in die Schweiz fliehen[3]. Nach seiner Rückkehr war er von akademischer Tätigkeit ausgeschlossen und versuchte, sich als Privatlehrer durchzuschlagen.[4] Deinhardt war mit Karl Julius Schröer befreundet und verdankte diesem auch eine Anstellung als Lehrer in Wien[5]. (Ausführlichere, teils anders lautende biographische Angaben siehe Lit.: Meyer 2011).

Rudolf Steiner über Heinrich Deinhardt

„Ich habe öfter erzählt, daß in Wien ein einsamer Mensch lebte, Heinrich Deinhardt hieß er. Er hat Briefe über Briefe über diese ästhetische Erziehung des Menschen geschrieben, sehr geistvolle Briefe. Der Mann hatte das Malheur, daß er einmal ein Bein brach auf der Straße, als er hinfiel. Das Bein konnte eingerichtet werden, aber er konnte nicht genesen, er starb an dem Beinbruch, weil er unterernährt war. Das heißt, derjenige, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch Schillers «Ästhetische Briefe» in gewissenhaftester Weise ausgelegt hat, starb den Hungertod. Und diese Deinhardtschen Briefe über Schillers ästhetische Erziehung des Menschen sind völlig vergessen!“ (Lit.:GA 199, S. 138)

„Und so möchte ich die Anregung machen, daß einzelnes von dem gelesen wird, was so wunderschön geistig im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts von Geistern des Abendlandes zutage gefördert worden ist, Großes, Bedeutsames. Aber mit all diesen Bestrebungen geht es ja ganz sonderbar. Zu dem Größten — ich habe in anderem Zusammenhang darauf hingewiesen, in diesem Buche war es nicht notwendig, noch einmal darauf zurückzukommen — gehören die philosophischen Schriften Schillers, zum Beispiel die Briefe «Über dieästhetische Erziehung des Menschen». Man kann sagen, wer das mit innerem Anteil gelesen hat, hat außerordentlich viel für das Leben seiner Seele getan. Es haben sich ja verschiedene Leute Mühe gegeben, die Menschen hinzuweisen auf die philosophischen Schriften Schillers. Deinhardt war solch einer, der in Wien lebende Heinrich Deinhardt.

Er hat ein schönes, außerordentlich geistvolles Büchelchen geschrieben über Schillers Weltanschauung in den Sechzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts. Ich glaube nicht, daß Sie es irgendwo bekommen, es ist längst eingestampft, höchstens irgendwo ein verlorenes antiquarisches Exemplar, denn gelesen hat das, was Deinhardt über Schiller geschrieben hat, das zu dem Besten gehört, was über Schiller geschrieben worden ist, niemand! Aber der Mann war ein vergessener Lehrer in Wien, der das Malheur gehabt hat, sich einmal ein Bein zu brechen, und trotzdem es mit Sorgfalt eingerichtet worden ist, konnte er nicht gesund werden, weil er zu schlecht ernährt war. Der Mann hat eines der besten Bücher über Schiller geschrieben, ein Buch, das sicherlich besser ist, als alle die zahlreichen Quatsch-Schriften, die später über Schiller geschrieben worden sind; aber er mußte verhungern. So geht es eben.“ (Lit.:GA 169)

„Ein mir (Rudolf Steiner) selbst sehr nahestehender alter Freund [Karl Julius Schröer, 1825-1900] war einem anderen Manne befreundet [Heinrich Deinhardt, 1821-1880]. Dieser Mann war ein ausgezeichneter feiner Geist. Er hat nicht viel geschrieben, nicht viel drucken lassen, aber was er hat drucken lassen, das hatte ein ungeheuer bedeutsames Gewicht, und hätte, wenn es durchgedrungen wäre, zum Bewusstsein der Menschen gekommen wäre, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in den Menschenseelen Bedeutsames wirken können. Der Mann,der das Wenige – ich werde gleich Näheres darüber sprechen – hat drucken lassen, fiel einmal hin und brach sich ein Bein und starb daran. Das Bein hätte leicht eingerichtet werden können, aber er konnte nicht durchgebracht werden durch den Fall, denn er war unterernährt. So sagte man nach dem Tode, und mit Recht. Sehen Sie, das war einer der tiefsten Geister Mitteleuropas, Deinhardt. Er ist vor vielen Jahrzehnten schon gestorben. Er war unterernährt geblieben, denn man hatte kein Interesse für seine besondere Art von Geistigkeit. Nun, was wollte er denn? Ja, er wollte etwas, wovon man heute gar nicht wird begreifen können, daß es eigentlich unberücksichtigt geblieben ist. Und dennoch, gerade daß man es nicht begreifen kann, das ist so bedeutsam für unsere Zeit. Meine lieben Freunde, dieser Mann wollte gar nichts anderes als den ungeheuren geistigen Impuls, der in Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen liegt, pädagogisch fruchtbar machen für die ganze Menschheit. Dazu hat er geringe Anzahl von Schriften geschrieben, die ungeheuer geistreich sind. Ich glaube, es ist heute alles eingestampft. Ich glaube nicht, das man etwas erhalten kann von diesen Schriften. Und er starb Hungers. Niemand hat sich interessiert dafür, daß aus diesen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen gezogen werden kann etwas, was das ganze geistige Niveau der Menschheit durch eine ungeheuer tiefe soziale Volkspädagogik heben könnte.“ (Lit.: (Vortrag vom 12. 6. 1917 in Hannover) zitiert nach anthrolexus)

„Es darf bei dieser Gelegenheit auf die vorzügliche Darstellung von Schillers Wollen in der Schrift Heinrich Deinhardts «Beiträge zur Würdigung Schillers» hingewiesen werden, die vor kurzem im Kommenden Tag Verlag in Stuttgart erschienen ist.“ (Lit.:GA 36, S. 291)

Weiteres über Deinhardt

„So ist Schiller verloren gegangen, so Wilhelm von Humboldt als Bildungspolitiker, so Heinrich Marianus Deinhard, ein bedeutender Pädagoge der Nach-Goethe-Zeit, der in Wien, aufbauend auf Schillers Briefen, eine Pädagogik, die sich zur Volkspädagogik erweiterte, aus dem Spiel als Kulturfähigkeit entwickelt hat. Seine Schüler, so sagte man, waren noch viele Jahre im Leben daran zu erkennen, dass sie besondere Leistungen hervorbrachten. Ihm ist die Erkenntnis zu verdanken über die Wesensverwandtschaft von Spiel und Arbeit. Spiel nennt er die freigewordene, künstlerisch gesteigerte Arbeitskraft und Arbeit das auf Produktion im Widerstand gegen Material gerichtete Spiel (als freiwillig geleistete Menschenkraft). Erst durch die einander induzierende Wirkung von Spiel und menschlicher, sinnvoller, rhythmischer und anschaulicher Arbeit ist Spiel als pädagogischer und Kulturfaktor überhaupt verständlich.“ (Lit.: Werner Kuhfuss, Früherziehung kontra Spiel, S. 25)

In seinen Kommentaren zu den ästhetischen Briefen geht Deinhardt, neben kritischen Einwänden in einzelnem, in vielem über Schiller hinaus, wobei man den Eindruck gewinnt, es handle sich um schlüssige Konsequenzen aus dem Schillerschen Ansatz, die von Schiller selbst hätten kommen können, wäre er nicht logisch-deduktiv daran gehindert gewesen. So nimmt Deinhardt den Spieltrieb als einen faktisch realen dritten neben dem Form- und Stofftrieb an. Schiller mußte die tatsächliche empirische Existenz eines Spieltriebs aus transzendentalogischen Gründen verneinen, für ihn bestand dieser Trieb aus einer Art gemeinsamen Wirkens von Form- und Stofftrieb, einem ästhetischen Zustand, aus dem dann freilich eine Kraft hervorgeht, die man als Trieb bezeichnen könnte. Es ist diese nach Schiller aber keine ursprüngliche Kraft, der Spieltrieb besteht nicht schon gleich von vorherein als diejenige dritte Kraft, die, im Unterschied zu Form- und Stofftrieb, nach dem ästhetischen Zustand zielt.

„Damit ist ausgesprochen, daß die Genesis des Spieltriebes nicht in einer »Erfahrung« liegt, welche die »vollständige Entwicklung der beiden Grundtriebe«  zur Voraussetzung hat, daß er vielmehr in der Tat als ein ursprünglicher Trieb wirkt und aus seiner Betätigung die Erfahrungen, die er zunächst braucht, gewinnt, obgleich er weiterhin die Anschauungen der Wirklichkeit in sein Bereich zieht. Daß er aber der Tendenz nach von vornherein ästhetischer Trieb ist, liegt in dem Begriffe der »Selbstproduktion«, welcher die äußere Nötigung ausschließt und das Gefühl wie das Verlangen der Freiheit voraussetzt.“ (Lit.: Deinhardt, Beiträge, S. 155 (Ausgabe Die Kommenden))

Anmerkungen, Nachweise

  1. auch Deinhard oder Deinhart, nicht zu verwecheln mit Johann Heinrich Deinhardt
  2. Studienzentrum August Hermann Francke- Archiv -
  3. Nach anderer Darstellung: Kurze Inhaftierung in Weimar mit anschließendem freiwilligen Exil in der Schweiz. Vgl. Lit.:Meyer 2011
  4. Biographische Angaben aus: Encyclopedia of Disability, herausgegeben von Gary L. Albrecht, SAGE Publications 2006, [1]
  5. Lit.:Meyer 2011

Werke (Auswahl)

Literatur

  • Karl Julius Schröer: Rede zur Deinhardt-Feier, in: «Pädagogisches Jahrbuch 1880», herausgegeben von der Wiener Pädagogischen Gesellschaft, (Biographisches)
  • Karl Julius Schröer: Eine Schulstunde bei Heinrich Marianus Deinhardt Geschildert von Karl Julius Schröer Erziehungskunst Jg. 1, Heft 2/3, 1927/1928 Archiv PDF, S. 73 - 77
  • Thomas Meyer: «Einer der tiefsten Geister Mitteleuropas». Heinrich Marianus Deinhardt (1821-1880) als Brückenbauer deutschen Geisteslebens, Der Europäer, Jg. 16 Nr. 2/3, Dez./Jan. 2011/2012, S. 44 - 51, PDF (Der Aufsatz erschien zuerst im Verlag Kooperative Dürnau)
  • Stephan Siber: Aesthetic Education and Social Sculpture: Heinrich Marianus Deinhardt's Unnoticed Contribution to the Evolution of Joseph Beuys' 'Expanded Conception of Art' (www.social-sculpture.org)

Zitierte Literatur

Weitere Literatur

  • Ute Weinmann: Normalität und Behindertenpädagogik. Historisch und normalismustheoretisch rekonstruiert am Beispiel repräsentativer Werke von Jan Daniel Georgens, Heinrich Marianus Deinhardt, Heinrich Hanselmann, Linus Bopp und Karl Heinrichs, Leverkusen : Leske und Budrich, 2003, ISBN 3-8100-3569-6, Springer VS Inhaltsangabe, Google-View
  • Stephanie Nickel: Ästhetische Erziehung bei Menschen mit geistiger Behinderung, GRIN-Verlag, 2005, Inhaltsangabe
  • P.,R. [Robert Prutz]: [Rezension zu] Heinrich Deinhard: Beiträge zur Würdigung und zum Verständnisse Schiller's. Bd. 1, 1861, Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben Jg. 11, Nr. 33:270-271

Weblinks