Geschichte der Chemie und Bibliothek:Goethe/Naturwissenschaft/Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt: Unterschied zwischen den Seiten

Aus AnthroWiki
(Unterschied zwischen Seiten)
imported>Joachim Stiller
 
imported>Odyssee
 
Zeile 1: Zeile 1:
Die '''Geschichte der Chemie''' ist seit ältesten Zeiten eng mit der Geschichte von handwerklichen Tätigkeiten verbunden, die sich auf Gewinnung und Umwandlung von Materialien richteten. Neben den praktischen Aspekten bemüht sich die [[Chemie]] seit ihren Anfängen, gemeinsam mit ihrer Schwesterwissenschaft [[Physik]], das innere Wesen der [[Materie (Physik)|Materie]] aufzuklären.
== Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt (1792) ==


Zu Beginn der [[Neuzeit]] verband sich die [[antike]] chemische Praxis mit der über in arabischer Sprache schreibende Gelehrte nach Europa vermittelten mittelalterlichen [[Alchemie]]. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Chemie zu einer exakten [[Naturwissenschaft]], die dann im 19. Jahrhundert begann, eine enorme Fülle von praktisch verwertbaren Ergebnissen zu liefern, die zur Errichtung einer [[Chemische Industrie|chemischen Industrie]] führte.
Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nutzen oder schaden. Diese ganz natürliche Art, die Sachen anzusehen und zu beurteilen, scheint so leicht zu sein, als sie notwendig ist, und doch ist der Mensch dabei tausend Irrtümern ausgesetzt, die ihn oft beschämen und ihm das Leben verbittern.


Die [[industrie]]lle Anwendung der Chemie rief auch immer größere [[Umweltschäden]] hervor, was etwa ab 1970 zum Entstehen einer [[Umweltbewegung]] führte, die die chemische Industrie wie auch die Gesellschaft insgesamt zu nachhaltigem Handeln ohne [[Umweltverschmutzung]] zu bewegen sucht.
Ein weit schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb nach Kenntnis die Gegenstände der Natur an sich selbst und in ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten strebt: denn sie vermissen bald den Maßstab, der ihnen zu Hülfe kam, wenn sie als Menschen die Dinge in bezug auf sich betrachteten. Es fehlt ihnen der Maßstab des Gefallens und Mißfallens, des Anziehens und Abstoßens, des Nutzens und Schadens; diesem sollen sie ganz entsagen, sie sollen als gleichgültige und gleichsam göttliche Wesen suchen und untersuchen, was ist, und nicht, was behagt. So soll den echten Botaniker weder die Schönheit noch die Nutzbarkeit der Pflanzen rühren, er soll ihre Bildung, ihr Verhältnis zu dem übrigen Pflanzenreiche untersuchen; und wie sie alle von der Sonne hervorgelockt und beschienen werden, so soll er mit einem gleichen ruhigen Blicke sie alle ansehen und übersehen und den Maßstab zu dieser Erkenntnis die Data der Beurteilung nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge nehmen, die er beobachtet.


Die Chemie ist eine differenzierte Wissenschaft, die in ihren zahlreichen Sparten unterschiedlichste Forschungsziele hat und in [[Chemische Reaktion|chemischen Reaktionen]] eine Vielzahl von Technologien zur Umwandlung von Stoffen jeder Art nutzt.
Sobald wir einen Gegenstand in Beziehung auf sich selbst und in Verhältnis mit andern betrachten und denselben nicht unmittelbar entweder begehren oder verabscheuen, so werden wir mit einer ruhigen Aufmerksamkeit uns bald von ihm, seinen Teilen, seinen Verhältnissen einen ziemlich deutlichen Begriff machen können. je weiter wir diese Betrachtungen fortsetzen, je mehr wir Gegenstände untereinander verknüpfen, desto mehr üben wir die Beobachtungsgabe, die in uns ist. Wissen wir in Handlungen diese Erkenntnisse auf uns zu beziehen, so verdienen wir klug genannt zu werden. Für einen jeden wohl organisierten Menschen, der entweder von Natur mäßig ist oder durch die Umstände mäßig eingeschränkt wird, ist die Klugheit keine schwere Sache: denn das Leben weist uns bei Jedem Schritte zurecht. Allein wenn der Beobachter eben diese scharfe Urteilskraft zur Prüfung geheimer Naturverhältnisse anwenden, wenn er in einer Welt, in der er gleichsam allein ist, auf seine eigenen Tritte und Schritte acht geben, sich vor jeder Übereilung hüten, seinen Zweck stets in Augen haben soll, ohne doch selbst auf dem Wege irgendeinen nützlichen oder schädlichen Umstand unbemerkt vorbei zu lassen; wenn er auch da, wo er von niemand so leicht kontrolliert werden kann, sein eigner strengster Beobachter sein und bei seinen eifrigsten Bemühungen immer gegen sich selbst mißtrauisch sein soll: so sieht wohl jeder, wie streng diese Forderungen sind und wie wenig man hoffen kann, sie ganz erfüllt zu sehen, man mag sie nun an andere oder an sich machen. Doch müssen uns diese Schwierigkeiten, ja man darf wohl sagen diese hypothetische Unmöglichkeit, nicht abhalten, das möglichste zu tun, und wir werden wenigstens am weitsten kommen, wenn wir uns die Mittel im allgemeinen zu vergegenwärtigen suchen, wodurch vorzügliche Menschen die Wissenschaften zu erweitern gewußt haben; wenn wir die Abwege genau bezeichnen, auf welchen sie sich verirrt und auf welchen ihnen manchmal Jahrhunderte eine große Anzahl von Schülern folgten, bis spätere Erfahrungen erst wieder den Beobachter auf den rechten Weg einleiteten.


== Die Wurzeln der Chemie ==
Daß die Erfahrung, wie in allem, was der Mensch nimmt, so auch in der Naturlehre, von der ich gegenwärtig vorzüglich spreche, den größten Einfluß habe und haben solle, wird niemand leugnen, so wenig als man den Seelenkräften, in welchen diese Erfahrungen aufgefaßt, zusammengenommen, geordnet und ausgebildet werden, ihre hohe und gleichsam schöpferisch unabhängige Kraft absprechen wird. Allein wie diese Erfahrungen zu machen und wie sie zu nutzen, wie unsere Kräfte auszubilden und zu brauchen, das kann weder so allgemein bekannt noch anerkannt sein.
=== Altertum ===
{{Hauptartikel|Chemie im Altertum}}
Etwa 1000 v. Chr. war in vielen Gebieten Vorderasiens, Ägyptens, Griechenlands die Metallgewinnung aus Erzen bekannt. Verwendung fanden [[Gold]], [[Silber]], [[Eisen]] (500 v. Chr. in Europa, 4000 v. Chr. in Ägypten), [[Kupfer]] (4000 v. Chr.), [[Zinn]] (Legierung mit Kupfer 3000 v. Chr.), [[Blei]] (500 v. Chr. verwendet für Wasserröhren, Schreibtafeln, Münzen, Kochgefäße in Rom) [[Quecksilber]] (300 v. Chr., Theophrast und Dioskorides, ''flüssiges Silber'', Gewinnung aus [[Cinnabarit|Zinnober]] mittels Kupfer und Essig), ebenso Stoffe wie [[Schwefel]], [[Nitrate#Salpeter|Salpeter]] oder Kohle. Die Metallnamen waren mit Wochentagen und Planeten verbunden.
Auch die Verfahren zur Herstellung von Ton (für die [[Töpferei]]), [[Steingut]], [[Glas]] (1500 v.&nbsp;Chr., Ägypten, geblasenes Glas, Rom 30 v.&nbsp;Chr.<ref>Zeitschr. ''Angew. Chem.'' 1903, S. 267.</ref>) und [[Porzellan]] (China) waren bekannt.


Ferner waren [[Salbe]]n, [[Seife]]n, Öle, Milch und Quark, [[Wein]], das [[Bierbrauen]], [[Essig]], das Papyri, die Lederherstellung und das [[Färben]] (Farbstoffe: [[Hennastrauch#Henna-Farben|Henna]], [[Indigo]], [[Krapprot]], Safran; [[Pigment]]e (z.&nbsp;B. [[Blei(II,IV)-oxid|Mennige]], [[Bleiweiß]], [[Quecksilbersulfid|Zinnober]], [[Ocker]], Blaustein, [[Patina|Grünspan]], [[Bleiglanz]], Arsen- und Antimonsulfid), ätherische Öle, Salze ([[Alaun]], [[Speisesalz|Kochsalz]]) (aus Verdunstung des Meerwassers, zur Konservierung von Nahrungsmitteln) bekannt.
Sobald Menschen von scharfen frischen Sinnen auf Gegenstände aufmerksam gemacht werden, findet man sie zu Beobachtungen so geneigt als geschickt. Ich habe dieses oft bemerken können, seitdem ich die Lehre des Lichts und der Farben mit Eifer behandle und, wie es zu geschehen pflegt, mich auch mit Personen, denen solche Betrachtungen sonst fremd sind, von dem, was mich soeben sehr interessiert, unterhalte. Sobald ihre Aufmerksamkeit nur rege war, bemerkten sie Phänomene, die ich teils nicht gekannt, teils übersehen hatte, und berichtigten dadurch gar oft eine voreilig gefasste Idee, ja gaben mir Anlass, schnellere Schritte zu tun und aus der Einschränkung herauszutreten, in welcher uns eine mühsame Untersuchung oft gefangen hält.
Schwefeldämpfe ([[Schwefeldioxid]], in Wasser [[Sulfit]]e) wurden zum Räuchern, zum Reinigen von Stoffen, zur Konservierung von Wein, zur Zerstörung von Farbstoffen, zur Herstellung von Alaun verwendet.
Bei den Ägyptern, Griechen und Römern kannte man bereits verschiedene Arzneimittel wie [[Kupfersulfat|Kupfervitriol]] ([[Kupfersulfat]], Brechmittel), [[Alaun]] (zum Gurgeln), Eisenrost, [[Bleiglätte]], Mohnextrakt (zum Einschläfern), [[Bilsenkraut]], Mandragorawurzel, [[Hyoscyamin]], Skopolamin (zum Berauschen, Betäuben).


Die Chemie in der Antike unterschied sich von heutigen Herstellungsverfahren der [[Technische Chemie|technischen Chemie]] vor allem dadurch, dass diese Prozesse nicht sehr kompliziert waren und daher in vielen Kulturen praktiziert werden konnten.
Es gilt also auch hier, was bei so vielen andern menschlichen Unternehmungen gilt, dass nur das Interesse mehrerer auf einen Punkt gerichtet etwas Vorzügliches hervorzubringen imstande sei. Hier wird es offenbar, dass der Neid, welcher andere so gern von der Ehre einer Entdeckung ausschließen möchte, dass die unmäßige Begierde, etwas Entdecktes nur nach seiner Art zu behandeln und auszuarbeiten, dem Forscher selbst das größte Hindernis sei.


Die Gewinnung von Metallen hatte in früherer Zeit erhebliche Bedeutung. Aus Metallen konnten – nach Vorgaben des menschlichen Geistes – Formen für Werkzeuge, Geräte des täglichen Bedarfs, Münzen, Rüstungen zunächst gedanklich, dann materiell erschaffen werden, die dann in erheblicher Weise das gesellschaftliche Leben beeinflussten. Die [[Idee]] – nach [[Platon]] die Weltseele – wandelt sich durch die Metallherstellung in Gegenstände um, die die Erfindung und das Werkzeug über den Tod des Erfinders hinaus überdauern können. Schon die Griechen übertrugen den Zustand des Gemeinwesens auf Metalle ([[Weltalter der Antike#Eisernes Zeitalter|Eisernes Zeitalter]], Silbernes Zeitalter, [[Goldenes Zeitalter]]) und das Münzmetall (Gold, Silber, Eisen) konnte den Mitgliedern der Gesellschaft mehr Gleichheit (Münzmetall: Eisen in Sparta) ermöglichen oder besondere Leistungen und hohe Verdienste mit kostbaren Münzen (Münzmetalle: Gold, Silber) sanktionieren.
ich habe mich bisher bei der Methode, mit mehreren zu arbeiten, zu wohl befunden, als daß ich nicht solche fortsetzen sollte. Ich weiß genau, wem ich dieses und jenes auf meinem Wege schuldig geworden, und es soll mir eine Freude sein, es künftig öffentlich bekannt zu machen.


Viele Griechen glaubten an einen einzigen [[Urstoff]] der Welt.
Sind uns nun bloß natürliche, aufmerksame Menschen so viel zu nützen imstande, wie allgemeiner muß der Nutzen sein, wenn unterrichtete Menschen einander in die Hände arbeiten! Schon ist eine Wissenschaft an und für sich selbst eine so große Masse, daß sie viele Menschen trägt, wenn sie gleich kein Mensch tragen kann. Es läßt sich bemerken, daß die Kenntnisse, gleichsam wie ein eingeschlossenes aber lebendiges Wasser, sich nach und nach zu einem gewissen Niveau erheben, daß die schönsten Entdeckungen nicht sowohl durch Menschen als durch die Zeit gemacht worden; wie denn eben sehr wichtige Dinge zu gleicher Zeit von zweien oder wohl gar mehreren geübten Denkern gemacht worden. Wenn also wir in jenem ersten Fall der Gesellschaft und den Freunden so vieles schuldig sind, so werden wir in diesem der Welt und dem Jahrhundert noch mehr schuldig, und wir können in beiden Fällen nicht genug anerkennen, wie nötig Mitteilung, Beihülfe, Erinnerung und Widerspruch sei, um uns auf dem rechten Wege zu erhalten und vorwärts zu bringen.
[[Thales von Milet]] (Urstoff: Wasser), [[Anaximenes]] von Milet (Urstoff: Luft), [[Heraklit]] (Urstoff: Feuer). [[Empedokles]] von Agrigent sah die vier Urstoffe vereinigt: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Er dachte sich einen Feuerstoff in der Luft (Grundlage der späteren Phlogiston-Theorie nach Stahl) und vermutete, dass sich die vier Urstoffe zufällig mischen, wobei Liebe und Streit zwischen den Urstoffen eine Rolle spielt. Alle Dinge der Welt entstehen aus der Mischung dieser vier Elemente. Empedokles vermutete auch, dass Luft aus Materie besteht und es kein Vakuum geben könne, da er das Prinzip einer [[Pipette]] untersucht hatte.
Demokritos von Abdera ([[Demokrit]]) und Leukippos glaubten an unteilbar kleinste Teilchen eines Stoffes, das sie [[Atom]] nannten.


Auch [[Platon]] und [[Aristoteles]] befassten sich mit [[Naturphilosophie]].
Man hat daher in wissenschaftlichen Dingen gerade das Gegenteil von dem zu tun, was der Künstler rätlich findet: denn er tut wohl, sein Kunstwerk nicht öffentlich sehen zu lassen, bis es vollendet ist, weil ihm nicht leicht jemand raten noch Beistand leisten kann; ist es hingegen vollendet, so hat er alsdann den Tadel oder das Lob zu überlegen und zu beherzigen, solches mit seiner Erfahrung zu vereinigen und sich dadurch zu einem neuem Werke auszubilden und vorzubereiten. In wissenschaftlichen Dingen hingegen ist es schon nützlich, jede einzelne Erfahrung, ja Vermutung öffentlich mitzuteilen; und es ist höchst rätlich, ein wissenschaftliches Gebäude nicht eher aufzuführen, bis der Plan dazu und die Materialien allgemein bekannt, beurteilt ausgewählt sind.
Aristoteles glaubte an die vier Urelemente des Empedokles, er glaubte jedoch auch noch an vier Ureigenschaften (warm-kalt, trocken-feucht).
Jedes Element besitzt zwei Ureigenschaften (z.&nbsp;B. Wasser: feucht, kalt). Durch Austausch der Eigenschaften sollten sich Stoffe umwandeln können. Ein weiteres Urelement ergänzte Aristoteles – den Äther. Dieser Stoff sollte ewig und unwandelbar alles durchdringen, in allen Stoffen enthalten sein. Aristoteles erkannte auch, dass es eine Verwandtschaft der Metalle beim Schmelzen gibt, es kommt auf das richtige Mischungsverhältnis an. Er übertrug diese Gedanken auch auf Körpersäfte von [[Krankheit|erkrankten]] Menschen (siehe [[Humoralpathologie]]). Durch Pflanzensäfte oder Salze konnte der kranke Mensch möglicherweise gesunden, dies war die Basis für spätere heilkundliche Versuche ([[Galenos]]) und für spätere Arzneimittel. Alle irdischen Vorgänge sah Aristoteles als Widerspiegelung der himmlischen Vorgänge. Die Metallarten wurden später einzelnen Planeten zugeordnet.


Aus der Naturphilosophie entwickelte sich später die [[Alchemie]]. Die Alchemie verband in der Frühzeit Zauber und [[Mystik]] mit dem Verfahren der Metallumwandlung, chemisch-physikalischen Reinigungsverfahren, der Farbmittelherstellung.
Wenn wir die Erfahrungen, welche vor uns gemacht worden, die wir selbst oder andere zu gleicher Zeit mit uns machen, vorsätzlich wiederholen und die Phänomene, die teils zufällig, teils künstlich entstanden sind, wieder darstellen, so nennen wir dieses einen Versuch.


Im Zeitalter der [[Hellenismus]] gewannen aufgrund der Expansion der Märkte Verfahren an Bedeutung, durch die billige Nachahmungen für teure Naturstoffe und andere Waren (Edelsteine, [[Purpur (Farbstoff)|Purpur]] und andere Farbstoffe usw.) erzeugt werden konnten: synthetisches „Gold“, gefärbtes Glas, imitierte Perlen usw.<ref>Michael Rostovtzeff: ''Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt.'' Band 2, Darmstadt 1998, S. 984.</ref>
Der Wert eines Versuchs besteht vorzüglich darin, daß er, er sei nun einfach oder zusammengesetzt, unter gewissen Bedingungen mit einem bekannten Apparat und mit erforderlicher Geschicklichkeit jederzeit wieder hervorgebracht werden könne, so oft sich die bedingten Umstände vereinigen lassen. Wir bewundern mit Recht den menschlichen Verstand, wenn wir auch nur obenhin die Kombinationen ansehen, die er zu diesem Endzwecke gemacht hat, und die Maschinen betrachten, die dazu erfunden worden sind und man darf wohl sagen täglich erfunden werden.


In Ägypten vermengten sich im 2. Jahrhundert n.&nbsp;Chr. [[Religion]], [[Astrologie]] und [[Magie]]. In der religiösen Richtung der [[Gnosis]], die eine andere Ausrichtung als das spätere Christentum gegenüber dem Übel auf der Welt ([[Theodizee]]) hatte, spielte die innere [[Erleuchtung]] durch Alchemie eine wichtige Rolle. In der [[Schöpfungsgeschichte]] der [[Gnostiker]] wurden chemische Begriffe wie [[Sublimation (Phasenübergang)|Sublimation]] und [[Destillation]] (Vergeistigung) bzw. Mischungen ([[Läuterung (Metall)|Läutern]]) benutzt. Erste ausführliche Zeichnungen und Beschreibungen vieler chemischer Prozesse in Ägypten um 400 n.&nbsp;Chr. stammen von [[Zosimus aus Panopolis]]. Auch ältere Quellen (z.&nbsp;B. von [[Bolos von Mendes]] 250–200 v.&nbsp;Chr.) sind bekannt.
So schätzbar aber auch ein jeder Versuch einzeln betrachtet sein mag, so erhält er doch nur seinen Wert durch Vereinigung und Verbindung mit andern. Aber eben zwei Versuche, die miteinander einige Ähnlichkeit haben, zu vereinigen und zu verbinden, gehört mehr Strenge und Aufmerksamkeit, als selbst scharfe Beobachter oft von sich gefordert haben. Es können zwei Phänomene miteinander verwandt sein, aber doch noch lange nicht so nah, als wir glauben. Zwei Versuche können scheinen auseinander zu folgen, wenn zwischen ihnen noch eine große Reihe stehen müßte, um sie in eine recht natürliche Verbindung zu bringen.
Statt der vier Urelemente wurden in dieser Phase zwei Grundstoffe der Materie erdacht. [[Quecksilber]] und [[Schwefel]]. Der erstgenannte Stoff ist ein flüssiges Metall, das durch Einwirkung auf andere Metalle fest wird (Amalgamierung). Der zweite Stoff verbrennt leicht unter Flammenbildung, dabei entstehen Gase. Ferner wurde das Quecksilber und Arsen als männliches Prinzip, der Schwefel als weibliches Prinzip betrachtet.


=== Mittelalter ===
Man kann sich daher nicht genug in acht nehmen, aus Versuchen nicht zu geschwind zu folgern: denn beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil, von der Erkenntnis zur Anwendung ist es, wo dem Menschen gleichsam wie an einem Passe alle seine inneren Feinde auflauern, Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefaßte Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag, alle liegen hier im Hinterhalte und überwältigen unversehens sowohl den handelnden Weltmann als auch den stillen, vor allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter.


Durch die [[Islamische Expansion|Ausbreitung des Islams]] ging das alte griechische Wissen auf islamische Wissenschaftler über. Ein bedeutender islamischer Alchemist war beispielsweise [[Dschābir ibn Hayyān]].
Ich möchte zur Warnung dieser Gefahr, welche größer und näher ist, als man denkt, hier eine Art von Paradoxon aufstellen, um eine lebhaftere Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wage nämlich zu behaupten: daß ein Versuch, ja mehrere Versuche in Verbindung nichts beweisen, ja daß nichts gefährlicher sei, als irgendeinen Satz unmittelbar durch Versuche bestätigen zu wollen, und daß die größten Irrtümer eben dadurch entstanden sind, daß man die Gefahr und die Unzulänglichkeit dieser Methode nicht eingesehen. Ich muß mich deutlicher erklären, um nicht in den Verdacht zu geraten, als wollte ich nur etwas Sonderbares sagen.


Die Theorien der Alchemisten ergaben sich in der [[Chemie im Mittelalter]] nicht nur aus ihren [[experiment]]ellen Erfahrungen, sondern auch aus Lehren der [[Astrologie]] und einem Weltverständnis, das man heute als [[Esoterik|esoterisch]] bezeichnen würde, tatsächlich aber der frühe Versuch einer [[Phänomenologie|phänomenologischen]] [[Theorie]] im Rahmen der damaligen [[Axiomatik]] war.
Eine jede Erfahrung, die wir machen, ein jeder Versuch, durch den wir sie wiederholen, ist eigentlich ein isolierter Teil unserer Erkenntnis; durch öftere Wiederholung bringen wir diese isolierte Kenntnis zur Gewißheit. Es können uns zwei Erfahrungen in demselben Fache bekannt werden, sie können nahe verwandt sein, aber noch näher verwandt scheinen, und gewöhnlich sind wir geneigt, sie für näher verwandt zu halten, als sie sind. Es ist dieses der Natur des Menschen gemäß, die Geschichte des menschlichen Verstandes zeigt uns tausend Beispiele, und ich habe an mir selbst bemerkt, daß ich diesen Fehler oft begehe.


[[Datei:AlbertusMagnus.jpg|mini|hochkant=1.2|[[Albertus Magnus]]; Fresko (1352), Treviso, Italien]]
Es ist dieser Fehler mit einem andern nahe verwandt, aus dem er auch meistenteils entspringt. Der Mensch erfreut sich nämlich mehr an der Vorstellung als an der Sache, oder wir müssen vielmehr sagen: der Mensch erfreut sich nur einer Sache, insofern er sich dieselbe vorstellt; sie muß in seine Sinnesart passen, und er mag seine Vorstellungsart noch so hoch über die gemeine heben, noch so sehr reinigen, so bleibt sie doch gewöhnlich nur ein Versuch, viele Gegenstände in ein gewisses faßliches Verhältnis zu bringen, das sie, streng genommen, untereinander nicht haben; daher die Neigung zu Hypothesen, zu Theorien, Terminologien und Systemen, die wir nicht mißbilligen können, weil sie aus der Organisation unsers Wesens notwendig entspringen.


Ab dem 12. Jahrhundert brach – dank der Kontakte zu den arabischen Alchimisten – der „Alchimieboom“ über Europa herein: 1085 schrieb [[Gerhard von Cremona]] in Toledo ''das erste Chemiebuch'' Europas: „[[Das Buch der Alaune und Salze]]“, 1193–1280 forschte [[Albertus Magnus]] in Köln, und selbst der Kirchengelehrte [[Thomas von Aquin]] betrieb unter dem Rückgriff auf [[Aristoteles]] und die Bibel „studiae alchymicae“.
Wenn von einer Seite eine jede Erfahrung, ein jeder Versuch ihrer Natur nach als isoliert anzusehen sind und von der andern Seite die Kraft des menschlichen Geistes alles, was außer ihr ist und was ihr bekannt wird, mit einer ungeheuren Gewalt zu verbinden strebt: so sieht man die Gefahr leicht ein, welche man läuft, wenn man mit einer gefaßten Idee eine einzelne Erfahrung verbinden oder irgendein Verhältnis, das nicht ganz sinnlich ist, das aber die bildende Kraft des Geistes schon ausgesprochen hat, durch einzelne Versuche beweisen will.


Das Ziel der Alchemie war es, aus unedlen Metallen mittels [[Transmutation]] Gold zu machen und beim ''Großen Werk'' über die eigene Läuterung zum ''[[Stein der Weisen]]'' zu finden. Die Alchemie war jedoch eingebunden in Naturerkenntnisse mit magischen, ganzheitlichen Bestrebungen, die Stoffe sowie die Seele des Experimentators in einen geläuterten Zustand zu überführen.
Es entstehen durch eine solche Bemühung meistenteils Theorien und Systeme, die dem Scharfsinn der Verfasser Ehre machen, die aber, wenn sie mehr als billig ist Beifall finden, wenn sie sich länger als recht ist erhalten, dem Fortschritte des menschlichen Geistes, den sie in gewissem Sinne befördern, sogleich wieder hemmend und schädlich werden.


[[Datei:Roger Bacon.jpeg|links|mini|hochkant=1.2|[[Roger Bacon]]]]
Man wird bemerken können, daß ein guter Kopf nur desto mehr Kunst anwendet, je weniger Data vor ihm liegen; dass er, gleichsam seine Herrschaft zu zeigen, selbst aus den vorliegenden Datis nur wenige Günstlinge herauswählt, die ihm schmeicheln; dass er die übrigen so zu ordnen versteht, wie sie ihm nicht geradezu widersprechen, und dass er die feindseligen zuletzt so zu verwickeln, zu umspinnen und beiseite zu bringen weiß, dass wirklich nunmehr das Ganze nicht mehr einer freiwirkenden Republik, sondern einem despotischen Hofe ähnlich wird.


[[Roger Bacon]] (1210–1292) führte das Experiment als wichtigste Arbeitsmethode der Alchimisten ein ''(„Sine experientia nihil sufficienter sciri potest“: Ohne Experiment kann nichts ausreichend gewusst werden)'', die [[Waage]] jedoch blieb ein Gerät zur Abmessung der Ausgangssubstanzen. Erst bei [[Antoine Laurent de Lavoisier|Lavoisier]] – ab 1775 – wurde sie zum Mittel der messenden Erforschung.
Einem Manne, der so viel Verdienst hat, kann es an Verehrern und Schülern nicht fehlen, die ein solches Gewebe historisch kennen lernen und bewundern und, insofern es möglich ist, sich die Vorstellungsart ihres Meisters eigen machen. Oft gewinnt eine solche Lehre dergestalt die Überhand, daß man für frech und verwegen gehalten würde, wenn man an ihr zu zweifeln sich erkühnte. Nur spätere Jahrhunderte würden sich an ein solches Heiligtum wagen, den Gegenstand einer Betrachtung dem gemeinen Menschensinne wieder vindizieren, die Sache etwas leichter nehmen und von dem Stifter einer Sekte das wiederholen, was ein witziger Kopf von einem großen Naturlehrer sagt. er wäre ein großer Mann gewesen, wenn er weniger erfunden hätte.


[[Albertus Magnus]] war dennoch ein bedeutender Alchimist und Chemiker des Mittelalters, der sich als [[Dominikaner]] mit seinen Theorien jedoch innerhalb der von der Kirche vorgegebenen Grenzen bewegte. Er isolierte als erster das Element [[Arsen]].
Es möchte aber nicht genug sein, die Gefahr anzuzeigen und vor derselben zu warnen. Es ist billig, daß man wenigstens seine Meinung eröffne und zu erkennen gebe, wie man selbst einen solchen Abweg zu vermeiden glaubt, oder ob man gefunden, wie ihn ein anderer vor uns vermieden habe.


[[Datei:Hennig Brand (Joseph Wright).jpeg|mini|hochkant=1.2|''Der Alchemist sucht den Stein der Weisen'' von [[Joseph Wright of Derby]], illustriert die Entdeckung des Phosphors durch Hennig Brand]]
Ich habe vorhin gesagt, daß ich die unmittelbare Anwendung eines Versuchs zum Beweis irgendeiner Hypothese für schädlich halte, und habe dadurch zu erkennen gegeben, daß ich eine mittelbare Anwendung derselben für nützlich ansehe, und da auf diesen Punkt alles ankommt, so ist es nötig, sich deutlich zu erklären.


Der Alchemist des Mittelalters war meist ein Geistlicher mit einer gewissen Bildung, erst im ausgehenden Mittelalter trat die Alchemie in breitere Schichten vor. Sie wurde im allgemeinen akzeptiert und von hohen Fürsten und Geistlichen gefördert oder sogar selbst betrieben. Bedeutende Alchemisten waren z.&nbsp;B. [[Vannoccio Biringuccio]], [[Paracelsus]], [[Libavius]], [[Basilius Valentinus]], [[Johann Rudolph Glauber]]. Kritik richtete sich aber gegen Auswüchse und Betrügereien, so waren Erlasse wie die Bulle von Papst Johannes XXII. von 1317 nicht gegen die Alchemie gerichtet, sondern gegen betrügerische Alchemisten, im Fall der Bulle gegen Münzfälscher.<ref>Joachim Telle: ''Alchemie II.'' In: ''Theologische Realenzyklopädie.'' Band 2, de Gruyter, 1978, S. 208.</ref> Der Glaube an die Möglichkeit der Goldherstellung durch Alchemie oder die Möglichkeit eines lebensverlängernden Elixiers war weit verbreitet in allen Schichten. [[Martin Luther]] hat zwar zeitweise bei Tischreden gegen die Alchemisten und das ''Alchemysten Süple'' gelästert, die eigentliche Kunst fand er aufgrund des geistigen Hintergrunds bezüglich der Allegorien, Transmutationen und der Auferstehung der Toten am jüngsten Tage in lobenswerter Übereinstimmung mit dem Christentum.<ref>Berend Strahlmann: ''Chymisten in der Renaissance.'' In: Eberhard Schmauderer (Hrsg.): ''Der Chemiker im Wandel der Zeiten.'' Verlag Chemie, Weinheim 1973, S. 54.</ref>
In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe, und wenn uns die Erfahrungen nur isoliert erscheinen, wenn wir die Versuche nur als isolierte Fakta anzusehen haben, so wird dadurch nicht gesagt, daß sie isoliert seien, es ist nur die Frage: wie finden wir die Verbindung dieser Phänomene, dieser Begebenheiten?


Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation waren um 1520 etwa 100.000 Menschen in der Bergbau- und Hüttenindustrie beschäftigt. Ab 1420 entstanden erste Papiermühlen am Rhein; der Bedarf an Papier steigerte sich bald durch die Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg.
Wir haben oben gesehen, daß diejenigen am ersten dem Irrtume unterworfen waren, welche ein isoliertes Faktum mit ihrer Denk- und Urteilskraft unmittelbar zu verbinden suchten. Dagegen werden wir finden, daß diejenigen am meisten geleistet haben, welche nicht ablassen, alle Seiten und Modifikationen einer einzigen Erfahrung, eines einzigen Versuches, nach aller Möglichkeit durchzuforschen und durchzuarbeiten.
Wichtige Bücher erschienen nun auch über das Bergbau- und Hüttenwesen (z.&nbsp;B. von [[Georgius Agricola]], ''Bermanus sive de re metallica'', ''De Re Metallica, libri XII'').
Im 14. Jahrhundert stieg der Bedarf nach Schießpulver.
Seit dem 11. Jahrhundert wurde in größerem Umfang auch Alkohol durch Destillation von Wein gewonnen. Im 13. Jahrhundert wurden Schwefelsäure (oder Vitriolsäure, Königssäure) sowie die Salpetersäure (oder auch Scheidewasser) gewonnen. Für diese Wirtschaftsbereiche wurden auch Personen benötigt, die die Stoffe gewinnen konnten.
Seit dem 14. Jahrhundert geriet die Alchemie in Misskredit, der Stein des Weisen wurde nicht gefunden und auch die Goldmacherei blieb erfolglos. Es folgten päpstliche Verbote der Alchemie und die Androhung der Exkommunikation.


Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert beschäftigten die Fürsten mitunter Alchemisten. Trotz der geringen Zahl der Alchemisten gab es auch wichtige Entdeckungen. 1669 entdeckte [[Hennig Brand]], ein deutscher Apotheker und Alchemist, auf der Suche nach dem Stein der Weisen beim Destillieren von Urin und Glühen des Rückstandes das chemische Element [[Phosphor]]. Der Alchemist und Chemiker [[Johann Friedrich Böttger]] fand zusammen mit Ehrenfried Walther von Tschirnhaus 1708 sogar das europäische Pendant des [[Chinesisches Porzellan|chinesischen Porzellans]], doch der „Stein der Weisen“ blieb [[Phantasie]].
Da alles in der Natur, besonders aber die allgemeinern Kräfte und Elemente, in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen andem in Verbindung stehe, wie wir von einem freischwebenden leuchtenden Punkte sagen, daß er seine Strahlen nach allen Seiten aussende. Haben wir also einen solchen Versuch gefaßt, eine solche Erfahrung gemacht, so können wir nicht sorgfältig genug untersuchen, was unmittelbar an ihn grenzt? was zunächst auf ihn folgt? Dieses ist's, worauf wir mehr zu sehen haben, als auf das, was sich auf ihn bezieht. Die Vermannigfaltigung eines jeden einzelnen Versuches ist also die eigentliche Pflicht eines Naturforschers. Er hat gerade die umgekehrte Pflicht eines Schriftstellers, der unterhalten will. Dieser wird Langeweile erregen, wenn er nichts zu denken übrig läßt, jener muß rastlos arbeiten, als wenn er seinen Nachfolgern nichts zu tun übrig lassen wollte, wenn ihn gleich die Disproportion unseres Verstandes zu der Natur der Dinge zeitig genug erinnert, daß kein Mensch Fähigkeiten genug habe, in irgendeiner Sache abzuschließen.


== Die Anfänge einer systematischen praktischen Chemie ==
Ich habe in den zwei ersten Stücken meiner optischen Beiträge eine solche Reihe von Versuchen aufzustellen gesucht, die zunächst aneinander grenzen und sich unmittelbar berühren, ja, wenn man sie alle genau kennt und übersieht, gleichsam nur einen Versuch ausmachen, nur eine Erfahrung unter den mannigfaltigsten Ansichten darstellen.
Die gesellschaftlichen Änderungen im Zeitalter der Renaissance: die Erfindung des Buchdruckes durch Gutenberg (1450), die Entdeckung Amerikas (1492), die Reformation durch Martin Luther brachten auch in der Alchemie Neuerungen.
Bedeutsame Alchemisten dieser Zeit waren Paracelsus (1493–1541), Faust (1480–1540), Vanoccio Biringucci (1480–1539), [[Georgius Agricola]] (1494–1555). Die Bücher der Alchemisten verbreiterten die exakten Kenntnisse in der alchemistischen Anwendung.


=== Metallurgie ===
Eine solche Erfahrung, die aus mehreren andern besteht, ist offenbar von einer höhern Art. Sie stellt die Formel vor, unter welcher unzählige einzelne Rechnungsexempel ausgedrückt werden. Auf solche Erfahrungen der höhern Art loszuarbeiten, halt ich für höchste Pflicht des Naturforschers, und dahin weist uns das Exempel der vorzüglichsten Männer, die in diesem Fache gearbeitet haben.
Bereits um 1500 gab es erste Schriften zur Metallgewinnung in Deutschland.<ref>Ein nutzlich bergbuchleyn, (1500).</ref><ref>Probirbüchlin / vff Golt, Silber / Kupfer / Blei / und allerley ertz gemeynem nutz zu gut geordnet (1518).</ref>


[[Vannoccio Biringuccio]] schrieb 1540 das Werk ''Pirotechnica'' und gab damit einen umfangreichen Überblick über Metallkunde, Waffenproduktion und Maschinen.
Diese Bedächtlichkeit, nur das Nächste ans Nächste zu reihen oder vielmehr das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären.


[[Datei:Georgius Agricola.jpg|mini|hochkant=1.2|[[Georgius Agricola]]]]
Denn eigentlich ist es die mathematische Methode, welche wegen ihrer Bedächtlichkeit und Reinheit gleich jeden Sprung in der Assertion offenbart, und ihre Beweise sind eigentlich nur umständliche Ausführungen, daß dasjenige, was in Verbindung vorgebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen und in seiner ganzen Folge da gewesen, in seinem ganzen Umfange übersehen und unter allen Bedingungen richtig und unumstößlich erfunden worden. Und so sind ihre Demonstrationen immer mehr Darlegungen, Rekapitulationen, als Argumente. Da ich diesen Unterschied hier mache, so sei es mir erlaubt, einen Rückblick zu tun.


Im 16. Jahrhundert schrieb der sächsische Gelehrte [[Georgius Agricola]] sein zwölfbändiges Werk über [[Metallurgie]], ''De re metallica libri XII'' (Basel 1556), deren Band sieben für lange Zeit ein Standardwerk für die frühe [[Analytische Chemie]], das heißt für [[Nachweisreaktion]]en und zum Prüfen von [[Metalle]]n, wurde.
Man sieht den großen Unterschied zwischen einer mathematischen Demonstration, welche die ersten Elemente durch so viele Verbindungen durchführt, und zwischen dem Beweise, den ein kluger Redner aus Argumenten führen könnte. Argumente können ganz isolierte Verhältnisse enthalten und dennoch durch Witz und Einbildungskraft auf einen Punkt zusammengeführt und der Schein eines Rechts oder Unrechts, eines Wahren oder Falschen überraschend genug hervorgebracht werden. Ebenso kann man, zugunsten einer Hypothese oder Theorie, die einzelnen Versuche gleich Argumenten zusammen stellen und einen Beweis führen, der mehr oder weniger blendet.
Einige Abschnitte aus seinem Werk basierten auf dem Werk ''Pirotechnica'' von Vannoccio Biringuccio. Erstmals wurden in dem Werk Metalle wie Wismut und Zink beschrieben. Es wurden für diese Metalle jedoch noch andere Namen verwendet (''Kobelt'' oder ''Cadmia metallica''); erst 1617 wurde in Löhneyss Werk (''Das Buch vom Bergwerk'') das Wort ''Zink'' verwendet. ''De re metallica'' stellt die erste umfassende und systematische Zusammenstellung des metallurgischen Wissens der frühen Neuzeit dar. Sie enthält zudem eine Zusammenfassung des damaligen Wissens aus der Probierkunst zur Analyse von Metallerzen und -Legierungen.


=== Arzneiherstellung ===
Wem es dagegen zu tun ist, mit sich selbst und andern redlich zu Werke zu gehen, der wird auf das sorgfältigste die einzelnen Versuche durcharbeiten und so die Erfahrungen der höheren Art auszubilden suchen. Diese lassen sich durch kurze und faßliche Sätze aussprechen, nebeneinander stellen, und wie sie nach und nach ausgebildet worden, können sie geordnet und in ein solches Verhältnis gebracht werden, daß sie so gut als mathematische Sätze entweder einzeln oder zusammengenommen unerschütterlich stehen.
Neben der Metallurgie war im 16. Jahrhundert die [[Pharmazie]] in der praktischen Chemie von besonderer Bedeutung. Der schweizerisch-österreichische Arzt und Naturwissenschaftler [[Paracelsus]] begründete die chemische Forschung zur Bekämpfung von Krankheiten ([[Iatrochemie]]). Er versuchte die Lebensvorgänge chemisch zu deuten und die Chemie in den Dienst der Medizin zu stellen. Seiner Überzeugung nach, kommen Krankheiten von außen und können daher mit chemischen Stoffen von außen behandelt werden.


Paracelsus beschrieb auch Vergiftungserscheinungen durch schädliche Stoffe (Bleisalze) und gilt daher als Mitbegründer der Toxikologie. Er hat auch das Wort Alkohol erstmals eingeführt und die Notwendigkeit der Isolierung von Heilbestandteilen aus Pflanzen (''quintia essentia'') angeregt.
Die Elemente dieser Erfahrungen der höheren Art, welches viele einzelne Versuche sind, können alsdann von jedem untersucht und geprüft werden, und es ist nicht schwer zu beurteilen, ob die vielen einzelnen Teile durch einen allgemeinen Satz ausgesprochen werden können; denn hier findet keine Willkür statt.


Paracelsus wendete jedoch auch giftige Stoffe zur Bekämpfung von Krankheiten an, da er hoffte, dass die richtige Dosis eines Stoffes ausschlaggebend für die Gesundung sei.
Bei der andern Methode aber, wo wir irgend etwas, das wir behaupten, durch isolierte Versuche gleichsam als durch Argumente beweisen wollen, wird das Urteil öfters nur erschlichen, wenn es nicht gar in Zweifel stehen bleibt. Hat man aber eine Reihe Erfahrungen der höheren Art zusammengebracht, so übe sich alsdann der Verstand, die Einbildungskraft, der Witz an denselben wie sie nur mögen, es wird nicht schädlich, ja es wird nützlich sein. jene erste Arbeit kann nicht sorgfältig, emsig, streng, ja pedantisch genug vorgenommen werden; denn sie wird für Welt und Nachwelt unternommen. Aber diese Materialien müssen in Reihen geordnet und niedergelegt sein, nicht auf eine hypothetische Weise zusammengestellt, nicht zu einer systematischen Form verwendet. Es steht alsdann einem jeden frei, sie nach seiner Art zu verbinden und ein Ganzes daraus zu bilden, das der menschlichen Vorstellungsart überhaupt mehr oder weniger bequem und angenehm sei. Auf diese Weise wird unterschieden, was zu unterscheiden ist, und man kann die Sammlung von Erfahrungen viel schneller und reiner vermehren, als wenn man die späteren Versuche wie Steine, die nach einem geendigten Bau herbeigeschafft werden, unbenutzt beiseite legen muß.
Seine Heilkunde wurde jedoch von vielen Kritikern bekämpft, die Antimonpräparate von Paracelsus wurden im Jahre 1566 durch einen Parlamentsbeschluss in Frankreich verboten.
Viele spätere Alchemisten waren jedoch Anhänger der Lehre von Paracelsus, so [[Johann Baptista van Helmont]], [[Andreas Libavius]], [[Johannes Hartmann (Universalgelehrter)|Johannes Hartmann]]. Letzterer erhielt 1609 erstmals einen Lehrstuhl für Iatrochemie in Marburg.


Im Laufe der Zeit wurden besonders im Bereich der Arzneiherstellung viele Apparate und Verfahren entwickelt, die man teilweise bis heute in chemischen [[Labor]]atorien nutzt: Mörser zum Zerkleinern, Glaskolben, [[Retorte]]n, Spatel, genaue [[Waage]]n, Destillationsapparate usw.
Die Meinung der vorzüglichsten Männer und ihr Beispiel läßt mich hoffen, daß ich auf dem rechten Wege sei, und ich wünsche, daß mit dieser Erklärung meine Freunde zufrieden sein mögen, die mich manchmal fragen. was denn eigentlich bei meinen optischen Bemühungen meine Absicht sei? Meine Absicht ist. alle Erfahrungen in diesem Fache zu sammeln, alle Versuche selbst anzustellen und sie durch ihre größte Mannigfaltigkeit durchzuführen, wodurch sie denn auch leicht nachzumachen und nicht aus dem Gesichtskreise so vieler Menschen hinausgerückt sind. Sodann die Sätze, in welchen sich die Erfahrungen von der höheren Gattung aussprechen lassen, aufzustellen und abzuwarten, inwiefern sich auch diese unter ein höheres Prinzip rangieren. Sollte indes die Einbildungskraft und der Witz ungeduldig manchmal vorauseilen, so gibt die Verfahrungsart selbst die Richtung des Punktes an, wohin sie wieder zurückzukehren haben.


== Der Beginn des messenden Forschens und frühe Theorien ==
[[Kategorie:Goethe (Text)]]
 
=== Von Glauber bis Lavoisier ===
[[Datei:Antoine lavoisier color.jpg|hochkant=1.2|mini|[[Antoine Laurent de Lavoisier]]]]
 
Die Zeit der Renaissance brachte Chemiker hervor, die sich nicht auf den blinden Glauben an alte Autoritäten verließen, sondern eigenständig Ideen entwickelten.
Die Entwicklung der Buchführung in Italien führte zu einem verstärkten Handel und zu einer besseren Zugänglichkeit von Waren und Rohstoffen, dies verbesserte auch die Möglichkeiten für Chemiker. Ein erster Chemiker in Deutschland, der von fürstlichen Zuwendungen unabhängig war und Forschung und eine kleinere eigenständige chemische Produktion vereinen konnte, war [[Johann Rudolph Glauber]].
 
Frühere Wissenschaftler, auch Alchemisten, waren Gelehrte, deren Fundamente in den alten Sprachen und der Religion lagen. Nur behutsam – und manchmal auch in Angst vor theologischen Folgen – setzten sich neue Theorien und neue Erkenntnisse in der Wissenschaft durch.
Die Zahl der von Fürsten bezahlten Gelehrten war zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert in Europa noch sehr gering. In England interessierten sich einige begüterte Adlige für die Chemie.
 
Der englische Adlige [[Robert Boyle]], der die Verschiedenartigkeit der Stoffe und ihre Umwandlungen in andere Stoffe untersuchte, kritisierte 1661 in seiner einflussreichen Schrift ''"The Sceptical Chymist"'' den Begriff der Elemente in der Alchemie und bereitete den modernen Begriff vor: ein [[chemisches Element]] ist ein im Experiment nicht weiter zerlegbarer Stoff. Boyle erkannte, dass beim Atmen sowie beim Erhitzen von Metallen mit Feuer ein Teil der Luft verbraucht wird und dass das Metall dabei schwerer wird. Boyle gründete auch die erste naturwissenschaftliche Gesellschaft, die [[Royal Society]].
 
[[Georg Ernst Stahl]] hat die [[Phlogistontheorie]] (1697) aufgestellt, um die Prozesse bei der Verbrennung, der Gärung, der Verwesung, Oxidation und Reduktion zu beschreiben. Viele bedeutende Chemiker zwischen 1700 und 1787 glaubten an die Phlogistontheorie: [[Joseph Black]], [[Henry Cavendish]], [[Joseph Priestley]], [[Carl Wilhelm Scheele]], [[Andreas Sigismund Marggraf]], [[Lorenz Friedrich von Crell]], [[Anders Jahan Retzius]].
Fast hundert Jahre wurde an dieser Theorie festgehalten, bis [[Antoine Laurent de Lavoisier]] und andere die [[Oxidation]] aufklärten. Durch den Ersatz der Phlogistontheorie durch die Oxidationstheorie wurde die Brücke zur Theologie, dem Glaube über Körper, Seele, Feuer erschüttert.
 
Die Phlogistontheorie musste aufgegeben werden, als [[Antoine Laurent de Lavoisier]], dessen ihn bei den Experimenten unterstützende Ehefrau [[Marie Lavoisier|Marie]] zu den ersten bedeutenden Chemikerinnen zählte, gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch genaue Verfolgung von Verbrennungsprozessen durch Wägungen nachwies, dass die Theorie nicht stimmt. Er schuf stattdessen die Theorie der [[Oxidation]] und die Grundlage zur weiteren Entdeckung der Grundgesetze der Chemie.
Erstmals wurde der Verbrennungsprozess durch Aufnahme eines Gases aus der Luft, dem Oxygène, begründet. Lavoisier und andere gaben auch die ersten reinen Elemente an und stellten sie experimentell dar: [[Sauerstoff]], [[Kohlenstoff]], [[Wasserstoff]], [[Schwefel]], [[Phosphor]], eine Vielzahl von Metallen. Lavoisier konnte zeigen, dass Wasserstoff und Sauerstoff sich zu Wasser vereinigen. Wasser war also nicht, wie lange die allgemeine Überzeugung war, ein chemisches Element, sondern ein zusammengesetzter Stoff. Säuren wurden als nichtmetallische Stoffe mit Sauerstoff betrachtet. Weiterhin formulierte Lavoisier das Massenerhaltungsgesetz bei chemischen Reaktionen: ''Bei stofflichen Umsetzungen wird keine Masse erzeugt oder vernichtet''. Er schuf eine neue chemische Nomenklatur, die sich rasch verbreitete. Alte und schwer verständliche chemische Bezeichnungen wurden durch moderne Bezeichnungen ersetzt (z. B. [[Schwefelleber]] durch Kaliumpolysulfid).
Die Erkenntnisse von Lavoisier stellen einen bedeutenden Meilenstein in der Chemiegeschichte dar (''erste chemische Revolution''), nun konnten Stoffverbindungen auf die verschiedenen Elemente untersucht werden. Man musste also die Elemente in einer Stoffverbindung auffinden und den Anteil jedes Elementes einer Stoffverbindung mit einer Waage bestimmen.
 
In der Folgezeit führten die quantitativen Bestimmungen von Reaktionen zum [[Gesetz der konstanten Proportionen]] ([[Joseph-Louis Proust]], 1794) und die Vorschläge des schwedischen Chemikers [[Jöns Jakob Berzelius]] zur Entwicklung einer international verständlichen Symbolschreibweise für [[chemische Verbindung]]en ([[Summenformel]]n und [[Strukturformel]]n) und der Erfindung des [[Reagenzglas]]es.
 
=== Von Dalton bis Mendelejew ===
[[Datei:Дмитрий Иванович Менделеев 5.gif|mini|hochkant=1.2|[[Dmitri Iwanowitsch Mendelejew]]]]
 
Der englische Naturforscher [[John Dalton]] legte 1808 mit seinem Buch ''A new System of Chemical Philosophy'' den Grund für eine moderne [[Atom]]theorie. Er beschrieb die Elemente und deren kleinste unteilbare Einheit, das Atom, durch eine Gewichtsangabe. John Dalton hat eine erste Tabelle über Atomgewichte von Elementen (1805) erarbeitet.
 
[[Joseph Louis Gay-Lussac]] hat über die Bestimmung der Dampfdichte erste Atom-(Molekular-)gewichtsbestimmungen von organischen Gasen vornehmen können. Auch erste Methoden für die organische [[Elementaranalyse]] sowie für die quantitativen Analyse von Stoffen durch [[Titration]] wurden von ihm entwickelt.
Zusammen mit [[Alexander von Humboldt]] fand Gay-Lussac bei der Zersetzung von Wasser durch Strom Gasvolumina von Wasserstoff und Sauerstoff von 2:1. Die beiden Gase ließen sich auch genau in diesem Verhältnis wieder zu Wasser vereinigen.
 
Durch eine Voltasche Säule konnte [[Humphry Davy]] mittels einer Schmelzflusselektrolyse [[Natrium]] und [[Kalium]] (1807) als neue chemische Elemente gewinnen. Davy hat auch bewiesen, dass Salzsäure keinen Sauerstoff enthält und daher die Anwesenheit von Sauerstoff kein Charakteristikum von Säuren ist. Später formulierte [[Justus von Liebig]] den Wasserstoff als Basis für die Säureeigenschaft.
 
[[Jöns Jakob Berzelius]] hatte eine Methode zur Bestimmung der Atomgewichte von Metallatomen in Salzen ausgearbeitet. Dabei stützte er sich auf Vorarbeiten von [[Jeremias Benjamin Richter]]. Durch Fällungen und Wägungen von Salzen konnte Berzelius für etwa 40 Elemente deren Atomgewichte bestimmen. Berzelius bezeichnete Atome mit den heute in Formeln gebräuchlichen ein oder zwei Buchstaben der entsprechenden lateinischen Worte (z.&nbsp;B. H für Hydrogenium, Fe für Ferrum).
Berzelius hat auch eine erste Theorie zur Gestalt von Atomen nach Versuchen mit der Voltaschen Säule vorgelegt. Dabei nahm er an, das Atome immer aus einem positiven und einem negativen Ladungsteil zusammengesetzt sein müssten.
 
Unklarheit herrschte lange Zeit noch über das Atom und das Äquivalentgewicht. Dalton gab in seiner Atomgewichtstabelle Ethanol noch als Atom an.
Erst viel später wurde nach Überlegungen zum Äquivalentbegriff eine Unterscheidung zwischen [[Atom]] und [[Molekül]] gemacht.
[[Amedeo Avogadro]] stellte 1811 die These auf, dass gleiche Volumina eines beliebigen Gases gleich viele Teilchen enthalten. Aus dieser lange vergessenen Formulierung konnten [[Auguste Laurent]] und [[Charles Frédéric Gerhardt]] durch Gasdichtebestimmungen von organischen Stoffen die Molekulargewichte angeben.
Die exakte Formulierung der Unterscheidung zwischen Atom und Molekül erfolgte jedoch erst 1858 durch [[Stanislao Cannizzaro]].
 
1869 zeigten der russische Chemiker [[Dmitri Iwanowitsch Mendelejew|Dmitri Mendelejew]] und der deutsche Arzt und Chemiker [[Lothar Meyer]], dass sich die Eigenschaften von Elementen periodisch wiederholen, wenn man sie nach steigender Atommasse anordnet – [[Periodensystem]]. Mit ihrer Theorie konnten sie die Eigenschaften noch unbekannter [[Chemisches Element|Elemente]] korrekt vorhersagen.
 
=== Liebig, Wöhler, Dumas und die organische Chemie ===
[[Datei:Justus von Liebig.jpg|mini|hochkant=1.2|[[Justus von Liebig]]]]
 
[[Justus von Liebig]] hat als Student bei Gay-Lussac studiert, später wurde er Professor für Chemie in Gießen und in München. Justus von Liebig begründete das Chemiestudium in Deutschland mit Lehrveranstaltungen und Praktikumskursen, er war ein Wegbereiter für das Interesse an moderner Chemie in Deutschland. Bedeutenden Einfluss auf Chemieinteressierte in Deutschland hatte er auch als Herausgeber der Zeitschrift ''Annalen der Pharmazie'', später umbenannt in ''Liebigs Annalen''.
Liebig verbesserte das Verfahren der Elementaranalyse, so dass für organische Verbindungen in kurzer Zeit deren elementare Zusammensetzung angegeben werden konnte.
Von vielen organischen Stoffen (Chloroform, Chloral, Benzoesäure) konnte er so erstmals deren Summenformel angeben.
 
Er gilt als Pionier der Agrarchemie. Liebig war bekannt, dass das Kohlendioxid über die Luft in die Pflanzen gelangt. Aufgrund von Ascheanalysen von Pflanzenmaterial stellte er fest, dass dem Boden laufend [[Kalium]], [[Phosphor]] und [[Stickstoff]] entzogen wurden. Er setzte sich für die Verwendung von natürlichem [[Dünger]] und mineralischem, künstlich hergestelltem Dünger ein, um nachhaltig hohe landwirtschaftliche Erträge zu erreichen.
 
Liebig und [[Friedrich Wöhler]] entdeckten die [[Isomerie]]. Bislang vermuteten die Chemiker, dass bei einer identischen [[Elementaranalyse]] der Stoff auch identisch sein sollte. Durch Analyse von Silbercyanaten konnten Wöhler und Liebig zeigen, dass eine identische Elementaranalyse auch bei zwei chemisch unterschiedlichen Stoffen möglich ist.
Wöhler konnte auch als erster aus einer anorganischen Verbindung, dem Ammoniumcyanat, durch Erhitzen den organischen [[Harnstoff]] herstellen. Damit wurde die Theorie von Berzelius, der annahm, dass organische Stoffe nur von einem lebenden Organismus erzeugt werden können, falsifiziert. Diese Stoffsynthese machte Wöhler zum Begründer der organischen Chemie.
 
[[Jean Baptiste Dumas]] entdeckte eine weitere organische Reaktion, die Substitution, die nicht mit der Radikaltheorie von Berzelius vereinbar war. Nach Berzelius konnte auch in einem organischen Molekül nur ein elektropositives Teilchen durch ein anderes elektropositives Teilchen in einem Molekül verdrängt werden. Dumas hatte gefunden, dass das elektropositive Wasserstoffatom in der Essigsäure durch das elektronegative Chloratom ersetzt werden konnte. Die Verschiedenartigkeit bei Reaktionen zwischen anorganischen und organischen Stoffen führte in der Folge zu einer verstärkten Aufklärung von Reaktionen in der organischen Chemie.
 
=== Chemische Entdeckungen im 19. Jahrhundert ===
[[Datei:Robert Bunsen 02.jpg|mini|[[Robert Bunsen]]]]
Der Chemiker [[Robert Bunsen]] entwickelte zusammen mit [[Gustav Robert Kirchhoff]] die Spektralanalyse. Mit dieser analytischen Methode konnten anhand des sehr charakteristischen Spektrums viele neue chemische Elemente entdeckt oder in Mineralproben nachgewiesen werden.
Bunsen hat auch eine erste preiswerte Batterie entwickelt, die bis zur Entwicklung des Elektrodynamos durch Werner von Siemens die wichtigste Art der Stromerzeugung blieb.
 
[[Hermann Kolbe]] erkannte das Kohlendioxid bzw. die Kohlensäure als Grundbaustein von vielen organischen Verbindungen. Durch Ersatz einer Hydroxygruppe der Kohlensäure durch Wasserstoff oder Alkylreste entstehen Carbonsäuren, durch den Ersatz zweier Hydroxygruppen entstehen Ketone oder Aldehyde. Kolbe entwickelte auch eine Synthese von Salicylsäure, das später als Medikament (Aspirin) erhebliche Bedeutung erlangte.
[[August Wilhelm von Hofmann]] analysierte Produkte des Steinkohleteers und ermittelte die Summenformel von [[Anilin]], dem Ausgangsprodukt vieler späterer synthetischer Farbstoffe. Auch eine synthetische Methode zur Darstellung von Anilin aus Benzol wurde von ihm entwickelt. Der Schüler von Hofmanns, [[William Henry Perkin]], entwickelte den ersten synthetischen Farbstoff, das [[Mauvein]].
 
[[Friedrich August Kekulé von Stradonitz]] erkannte, dass das Kohlenstoffatom vier Bindungsvalenzen zu Nachbaratomen aufwies. Chemische [[Strukturformel]]n fanden nun Eingang in die Chemie, für die Planung von Synthesen und Analysen von organischen Verbindungen war dieses Wissen sehr wichtig. Besonders bedeutsam war auch Kekulés Strukturaufklärung von [[Benzol]].
Aufgrund der Kenntnis von chemischen Strukturen entwickelte der Chemiker [[Adolf von Baeyer]] Synthesen der Farbstoffe [[Indigo]] und [[Phenolphthalein]].
Industriechemiker wie [[Heinrich von Brunck]] setzten die Entdeckungen der Chemiker in der Großindustrie um. Wirtschaftlich wichtige Industrieproduktionen waren die Herstellung von [[Indigo]], [[Kalziumcyanamid]], das Kontaktverfahren zur Gewinnung von [[Schwefelsäure]] nach [[Rudolf Knietsch]], die elektrolytische Darstellung von [[Chlor]] und [[Natronlauge]].
 
[[Eugène Chevreul]] untersuchte die [[Fette]] und [[Fettsäuren]], [[Emil Fischer]] klärte die Strukturen von [[Zucker]]n und [[Kohlenhydrat]]en, [[Aminosäure]]n und [[Peptid]]en auf.
 
In der chemischen Forschung zur Gesundheitsverbesserung ragten Arbeiten von [[Louis Pasteur]], die Untersuchungen zur Gärung und die Abtötung von mikrobiellen Krankheitserregern durch Kochen (''Pasteurisieren''); [[Paul Ehrlich]], die Entdeckung von Färbereagenzien in der Medizin (z.&nbsp;B. [[Methylenblau]] zur Anfärbung von Zellkernen und Mikroorganismen und die Diazoreaktion im Harn bei Typhuserkrankungen) sowie der Entdeckung des [[Salvarsan]]s, [[Hermann Kolbe]]s Synthese der [[Salicylsäure]] (die acetylierte Salicylsäure fand später als [[Aspirin]] große Anwendung), Emil Fischers Synthese von [[Veronal]] heraus.
 
Physikalische Methoden erlangten in der Chemie größere Bedeutung. [[Thomas Graham (Chemiker)|Thomas Graham]] untersuchte [[Diffusion]]svorgänge bei Gasen und Flüssigkeiten, [[Jacobus Henricus van ’t Hoff]], [[Svante Arrhenius]] und [[Wilhelm Ostwald]] entdeckten die [[Dissoziation (Chemie)|Dissoziation]] von Salzen und Säuren in Wasser. Diese Entdeckungen förderten die Entwicklung in der [[Elektrochemie]] und [[Titrimetrie]], [[pH-Wert|pH]]-Indikation.
Auch die Forschung nach [[Katalysator]]en wurde zu einem wichtigen Teilbereich der physikalischen Chemie;, der besonders wichtige Eisen-Katalysator zur [[Haber-Bosch-Verfahren|Ammoniaksynthese]] wurde von [[Fritz Haber]] entdeckt, [[Wilhelm Ostwald]] entdeckte den Platinkatalysator für die [[Salpetersäure]]herstellung nach dem [[Ostwaldverfahren]].
 
== Die chemische Industrie bis zum Ersten Weltkrieg ==
{{Hauptartikel|Chemische Industrie}}
 
=== Farbenchemie ===
Mit der Synthese von [[Alizarin]] 1869, dem bis dahin aus großflächig angebautem [[Färberkrapp]] gewonnenen roten Farbstoff, durch [[Carl Graebe]] und [[Carl Liebermann]] begann der Siegeszug synthetischer Farbstoffe und der Niedergang des Anbaus von Pflanzen zur Farbstoffgewinnung. Rotes [[Fuchsin]], erstmals synthetisiert 1858, bildete die wirtschaftliche Basis für die späteren ''Farbwerke [[Hoechst AG]]''. Als weiterer wichtiger synthetischer Farbstoff folgte unter anderem [[Indigo]], synthetisiert 1878 von [[Adolf von Baeyer]].
 
Bis zum [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]] war Deutschland führend insbesondere in der Farbstoffchemie. Es verlor seine Vormachtstellung, da die Patente und Markenzeichen während des Ersten Weltkriegs in den Ländern der Kriegsgegner enteignet wurden und dort eine eigene chemische Industrie nach Wegfall von Deutschland als Handelspartner aufgebaut wurde. Durch den Friedensvertrag von Versailles gab es außerdem Handelsrestriktionen.
 
In dieser Zeit war die Arzneimittelentwicklung eng mit den Farbstoffwerken verbunden und in Deutschland sehr erfolgreich. Ein Verkaufsschlager über viele Jahre war das von der Firma Hoechst seit 1910 vertriebene [[Arsphenamin|Salvarsan®]], entwickelt von [[Paul Ehrlich]] und [[Sahachiro Hata]].
 
=== Elektrochemie ===
Mit der revolutionären Idee, chemische Elemente lägen in Lösung in Form von elektrisch geladenen [[Ion]]en vor, legte der englische Physiker und Chemiker [[Michael Faraday]] die Grundlage für die Elektrochemie und formulierte 1832 seine Theorie der [[Elektrolyse]] in seinen [[Faradaysche Gesetze|Faradayschen Gesetzen]].
 
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden an vielen Stellen, wo Elektrizität durch billige Wasserkraft reichlich zur Verfügung stand, elektrochemische Werke errichtet. Ein Beispiel dafür ist die [[Wacker-Chemie]] im bayerischen Burghausen.
Damit wurde die großtechnische Herstellung von [[Aluminium]], [[Magnesium]], [[Natrium]], [[Kalium]], [[Silicium]], [[Chlor]], [[Calciumcarbid]] usw. ermöglicht, was zu weiteren Impulsen zur Errichtung von großen Chemiewerken führte (vgl. unter [[Chemie in der Neuzeit]]).
 
=== Sprengstoffe und Düngemittel ===
Die großtechnische Einführung des [[Haber-Bosch-Verfahren]]s zur katalytischen Gewinnung von Ammoniak aus Luftstickstoff im Jahre 1910 sowie anderer [[Redoxreaktion]]en hatte nicht nur eine große wissenschaftliche sowie wirtschaftliche, sondern auch eine enorme strategische Bedeutung. Damit war die Herstellung der für die Produktion von [[Sprengstoff]]en, [[Düngemittel]]n und [[Farbstoff]]en unerlässlichen [[Salpetersäure]] in Deutschland möglich, ohne auf [[Salpeterfahrt|Salpeterimporte]] aus Übersee angewiesen zu sein.
 
=== Die Modifizierung von Naturstoffen ===
Etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Chemiker begonnen, [[Naturstoffe]] durch chemische Prozesse abzuwandeln, um so kostengünstige Werkstoffe als Ersatz für teure zu gewinnen. Vor allem wird [[Zellulose]] modifiziert: Es entsteht zunächst [[Nitrozellulose]], die in Form von Zelluloid Fischbein von Bartenwalen ersetzt und als Zellseide eine billige, wenn auch extrem feuergefährliche Alternative zu Naturseide bietet. Weitere Entwicklungen führen zu weniger gefährlichen Zelluloseprodukten, z.&nbsp;B. [[Viskose]]. 1897 wird aus Milcheiweiß als Ersatz für Horn der Stoff [[Galalith]] erzeugt.
 
Viele dieser Entwicklungen jener Zeit fanden in Deutschland statt.
 
== Chemie im Ersten Weltkrieg ==
 
Besonders auf deutscher Seite übte der Krieg einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Chemie und der chemischen Industrie aus. Zum einen verloren deutsche Unternehmen (vor allem nach dem Kriegseintritt der USA 1917) die Verbindung zu ihren ausländischen Zweigwerken. Aus diesem Grund teilten sich einige renommierte Unternehmen in ein deutsches und ein amerikanisches Unternehmen. Dies traf auf den traditionellen Händler und Hersteller von Chemikalien, [[Geschichte der Merck KGaA|Merck]] in Darmstadt zu oder auf den Spezialisten für Gerbereichemikalien [[Rohm and Haas|Röhm]], der später das [[Plexiglas]] entwickelt hatte.
 
Auf der anderen Seite zwang der Mangel aufgrund der Blockade und der Umstellung auf Kriegsproduktion Deutschland, für viele Zwecke auf synthetische Ersatzprodukte zurückzugreifen. Das gilt etwa für Gewürze, die durch von der chemischen Industrie hergestellte Aromastoffe auf geeignetem Trägermaterial ersetzt wurden. So gab es Ersatzpfeffer, der synthetisches [[Piperin]] auf gemahlenen Haselnussschalen war.
 
Der Krieg veranlasste Chemiker auch dazu, sogenannte [[Gaskrieg während des Ersten Weltkrieges|Kampfgase]] zu entwickeln und einzusetzen. Führend dabei war [[Fritz Haber]].
 
Teilweise profitierte die chemische Industrie stark von der Produktion kriegswichtiger Materialien wie Salpetersäure und Sprengstoffen sowie Kampfgasen und Filter für Gasmasken.
 
== Chemische Industrie seit dem Ersten Weltkrieg ==
Nach dem Ersten Weltkrieg verlagerte sich der Schwerpunkt der industriellen chemischen Entwicklung aus Deutschland mehr nach Frankreich und in die USA.
 
=== Polymerchemie ===
Ein Pionier der [[Polymer]]chemie, von damaligen Chemikern oft geringschätzig als "Schmierenchemie" bezeichnet, ist [[Hermann Staudinger]], der die theoretische Grundlage für diesen Zweig legte.
In den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts wurden die ersten vollsynthetischen [[Kunststoff]]e entwickelt und in die industrielle Produktion gebracht: [[Polyvinylchlorid|PVC]], [[Polyvinylacetat]], [[Polyamide#Nylon|Nylon]], [[Perlon]] und dazu kautschukartige Massen ([[Buna (Kautschuk)|Buna]]).
 
Den ganz großen Aufschwung erlebte die Herstellung und Verwendung von Polymeren (Kunststoffen) bald nach dem [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]], als im Laufe der Jahre eine unübersehbare Vielfalt von Kunststoffen mit unterschiedlichsten Eigenschaften und für die unterschiedlichsten Anwendungen geschaffen wurden.
 
=== Synthetischer Treibstoff ===
Besonders das aufrüstende nationalsozialistische Deutschland hatte großes Interesse an synthetischem Motortreibstoff für seine Armee. Da Deutschland nur geringe [[Erdöl]]vorkommen aufzuweisen hatte, hingegen riesige Mengen [[Kohle]], wurde die Erzeugung von Motortreibstoff aus Steinkohle vorangetrieben. Das Ergebnis sind die [[Fischer-Tropsch-Synthese]] und das [[Bergius-Pier-Verfahren]]
Damit erlangt die Chemie am Vorabend eines weiteren Krieges wieder strategische Bedeutung, was auch auf den synthetischen [[Buna (Kautschuk)|Kautschuk]] zutrifft, der zunächst vor allem für Reifen von Militärfahrzeugen gebraucht wird.
 
=== Insektizide und Bakterizide ===
Ganz besondere Bedeutung nimmt der Kampf gegen krankheitsverursachende Mikroben und gegen Schädlinge an, da er sowohl die Landwirtschaft als auch die Medizin tiefgreifend und nachhaltig beeinflusst. Gerade auf diesem Gebiet betreibt die chemische Industrie einen enormen Aufwand in der Entwicklung, fährt aber auch die höchsten Gewinne ein.
 
Mit der Entwicklung und Produktion von DDT [[DDT|Dichlordiphenyltrichlorethan]] ab Anfang der 1940er Jahre träumte man von einer völligen Beseitigung der [[Malaria]] durch totale Ausrottung der sie übertragenden [[Malariamücken|Mücken]]. Im Laufe der folgenden 20 bis 30 Jahre werden immer neue, noch speziellere Insektizide entwickelt und auf den Markt gebracht. Ab etwa 1970 kommt die Ernüchterung: Die Schädlinge entwickeln Resistenzen, die schwer abbaubaren Insektengifte reichern sich in der Nahrungskette an und bringen die Lebewesen am Ende der Kette wie Greifvögel in die Gefahr der Ausrottung. Neben der Umweltverschmutzung durch Chemiewerke sind die Nebenwirkungen der Insektizide und anderer Landwirtschaftschemikalien ein wesentlicher Grund für das Erstarken einer gegen die Anwendung von synthetischen Chemikalien gerichteten Umweltbewegung und den Erlass eines [[DDT-Gesetz]]es, das Produktion, Handel und  Anwendung von DDT verbietet.
 
Mit den [[Sulfonamid]]en kommt aus den Laboratorien der Arzneimittelentwickler eine Gruppe von potenten Medikamenten gegen Bakterieninfektionen verschiedener Art. Der erste Vertreter dieser Gruppe war 1935 [[Prontosil]], das ursprünglich als Textilfärbemittel verwendet wurde. Auch hier wird den Mitteln aus der Retorte mehr zugetraut, als sie schließlich halten können. Es sind zwar wirksame Medikamente, aber alles können auch sie nicht leisten, vor allem gegen Vireninfektionen sind sie wirkungslos.
 
== Die Entwicklung chemischer Theorien ==
=== Das Massenwirkungsgesetz ===
Das [[Massenwirkungsgesetz]], von [[Cato Maximilian Guldberg]] und [[Peter Waage]] im Jahr 1864 formuliert, beschreibt das Verhältnis von Ausgangsstoffen zu Produkten im chemischen Gleichgewicht. Die Anwendung dieser Gesetzmäßigkeit ermöglichte in vielen technisch genutzten Reaktionen eine bessere Ausnutzung des kostspieligeren Ausgangsstoffes durch Einsatz eines Überschusses des billigeren Ausgangsstoffes.
 
=== Chemische Kinetik ===
In der [[Kinetik (Chemie)|Kinetik]] werden die Gesetzmäßigkeiten behandelt, die sich mit der Geschwindigkeit von Reaktionen befassen. Dazu gehört auch das Studium der Wirkung von Katalysatoren, wofür, neben seinen Arbeiten zur Kinetik, [[Wilhelm Ostwald]] 1909 den [[Nobelpreis]] erhielt.
 
=== Bindungstheorien ===
[[Walter Kossel]] (1915) und [[Gilbert Newton Lewis]] (1916) formulierten ihre [[Oktettregel]], wonach Atome anstreben, acht Außenelektronen zu erlangen. Bindungen zwischen Ionen wurden auf elektrostatische Anziehung zurückgeführt, Atommodelle flossen in Form von theoretischen Berechnungen von Bindungskräften usw. in die Bindungstheorien ein.
 
=== Atommodelle ===
Eng mit der Chemie verbunden ist die Entwicklung von Atommodellen, welches Sachgebiet streng genommen zur Physik zu rechnen ist. Neue [[Atommodell]]e haben jedoch stets der theoretischen Chemie neue Impulse gegeben.
 
So entwickelte sich aus der [[Quantenphysik]] eine eigene chemische Disziplin, die [[Quantenchemie]], die 1927 mit Berechnungen am Wasserstoffatom durch [[Walter Heitler]] und [[Fritz London]] ihre ersten Schritte unternahm.
 
Heute sind die Modelle mathematisch so weit entwickelt, dass durch sehr komplexe Berechnungen am Computer die Eigenschaften von Verbindungen über die Verteilung der Elektronendichte sehr genau vorausgesagt werden können.
 
== Die Entwicklung der Analysentechnik ==
Neue Erkenntnisse und neue Verfahren in der Chemie hängen stets mit Verbesserungen der Analysetechnik zusammen. Darüber hinaus werden chemische [[Analyse]]verfahren – nasschemische [[Nachweisreaktion]]en sowie später die [[instrumentelle Analytik]] – etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in anderen Disziplinen von Wissenschaft und Technik eingesetzt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird chemische Analysentechnik routinemäßig zur Qualitätssicherung in zahlreichen Produktionsverfahren, auch solchen die nicht chemischer Natur sind, eingesetzt. Außerdem spielt die Bestimmung der chemischen Zusammensetzung in Wissenschaften wie Geologie, Archäologie, Medizin, Biologie und vielen anderen eine bedeutende Rolle zum Erkenntnisgewinn.
 
Im Bereich der Verbrechensaufklärung begannen chemische Analysen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Nachweis von Ver[[gift]]ungen eine Rolle zu spielen. Als Pionierleistung ist diesbezüglich die [[Marsh'sche Probe]] als [[Nachweisreaktion]] für Arsen zu nennen.
 
=== Qualitative Analyse ===
Die [[qualitative Analyse]] soll die Frage beantworten: Was ist drin?. Solche Fragestellungen gibt es vor allem in der Erzverhüttung seit Anbeginn, und dort finden sich auch schon sehr früh Anfänge einer Analysentechnik unter der Bezeichnung "Probierkunst".
 
==== Lötrohranalysen ====
Das [[Lötrohr]] wurde seit dem 17. Jahrhundert zunehmend präziser verwendet, um mittels Flammenfärbung und Niederschlägen auf Holzkohle Mineralien zu identifizieren und ihren Metallgehalt abzuschätzen. Hochburg dieser der Metallurgie zuzuordnenden Analysentechnik war [[Freiberg]] mit seinem reichen Erzbergbau.
 
==== Nasschemische Verfahren ====
Intensiv in Gang kamen nasschemische Verfahren im Laufe des 19. Jahrhunderts. Dabei werden im Bereich der anorganischen Analyse die in der Probe enthaltenen Elemente durch systematisches Fällen im [[Kationentrenngang]] und durch geeignete Farbreaktionen nachgewiesen. Entsprechende Verfahren wurden für Anionen entwickelt.
 
Die qualitative Analyse von organischen Substanzen erforderte im Bereich der Farbreaktionen besonders viel Erfahrung, da viele Substanzen ähnliche Farbreaktionen ergaben. Die Verfahren konnten durch die Weiterentwicklung der Laborgeräte und durch immer reinere [[Reagenz]]ien immer empfindlicher gemacht werden, sodass sowohl die Größe der notwendigen Probenmengen immer kleiner wurde, als auch die nachweisbare Konzentration weiter und weiter sank.
 
==== Physikalische Verfahren ====
Schon in den Anfängen der Probierkunst wurden physikalische Verfahren (Flammenfärbung) zur Identifizierung von Elementen eingesetzt. Mit dem Ausbau [[Spektroskopie|spektroskopischer]] Methoden im Bereich der ultravioletten, der sichtbaren, der infraroten und der Röntgenstrahlung wurde die Identifizierung von Substanzen immer sicherer, exakter und auch schneller. Hier lassen sich qualitative und quantitative Bestimmungen sehr gut miteinander kombinieren, ebenso wie bei [[Chromatografie|chromatographischen]] Verfahren.
 
=== Quantitative Analyse ===
Erst durch den Einsatz präziser Messinstrumente (vor allem Waagen) und quantitativer analytischer Methoden konnte sich seit dem 17. und 18. Jahrhundert aus der Alchemie die Chemie als Naturwissenschaft entwickeln.<ref>Dietlinde Goltz: ''Versuch einer Grenzziehung zwischen „Chemie“ und „Alchemie“.'' In: ''Sudhoffs Archiv.'' 52, 1968, S. 30–47.</ref> Fortschritte in der Genauigkeit und Empfindlichkeit von [[Quantitative Analyse|quantitativen Analysen]] mit dem Ziel genauester [[Gehaltsangaben]] sind daher stets mit einer Weiterentwicklung von Geräten zur Messung von Masse und Volumen verbunden. Dies führte oft zu Entdeckungen neuer chemischer Elementen, Verbindungen und Reaktionen.
 
==== Gravimetrie ====
Die [[Gravimetrie (Chemie)|Gravimetrie]], also die Mengenbestimmung mit einer empfindlichen Waage, kann wohl als ''die'' Analysemethode des 19. Jahrhunderts angesprochen werden. Dabei wurde nach zuverlässigen Reaktionen gesucht, in denen die Menge der Produkte nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch in einem eindeutigen Verhältnis zum zu bestimmenden Ausgangsstoff steht. Ein klassisches Beispiel für dieses Verfahren ist die Bestimmung des [[Chlorid]]gehaltes durch Fällen mit [[Silbernitrat]] und Wiegen des getrockneten Niederschlages von [[Silberchlorid]]. Auch bei der [[Elementaranalyse]] spielt Gravimetrie eine wichtige Rolle, z.&nbsp;B. mit Hilfe des von Liebig entwickelten [[Fünf-Kugel-Apparat]]es.
 
Gravimetrische Verfahren sind umständlich und langsam, wenn auch sehr genau. Das nach der Fällungsreaktion notwendige Filtrieren, Auswaschen und Trocknen dauerte, je nach Substanz, Stunden bis Tage. Daher suchte man nach schnelleren Verfahren, die besonders in der Qualitätskontrolle einer industriellen Chemieproduktion sehr gesucht sind.
 
Mit der [[Elektrogravimetrie]] wurde das Verfahren der [[Elektrolyse]] ab etwa dem Beginn des 20. Jahrhunderts als Verfahren zur sauberen Abtrennung von Metallen aus den Lösungen ihrer Ionen, die anschließend gewogen wurden, eingeführt.
 
==== Volumetrie ====
Die Gravimetrie erlaubte sehr genaue Analyseresultate, war jedoch in der Durchführung zeitraubend und aufwendig. Im Zuge der aufblühenden chemischen Industrie wuchs die Nachfrage nach schnelleren und dennoch genauen Analysemethoden. Die Messung des Volumens einer Reagenzlösung bekannten Gehaltes ([[Maßlösung]]) konnte vielfach eine gravimetrische Bestimmung ersetzen. Bei einer solchen [[Titration]] muss der zu bestimmende Stoff schnell und in eindeutiger Weise mit der Maßlösung reagieren. Das Ende der Reaktion muss erkennbar sein. Hierzu verwendet man häufig Farbindikatoren. Die Waage kam jetzt nur noch bei der Herstellung der Maßlösung zum Einsatz.
Solche volumetrischen (titrimetrischen) Verfahren kamen bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf. Sie entwickelten sich aus halbquantitativen Probiermethoden beispielsweise zur Gütebestimmung von [[Weinessig]]. Hierbei gab man zu einer abgemessenen Essigprobe solange [[Natriumcarbonat|Sodapulver]] hinzu, bis kein erneutes Aufschäumen (Kohlendioxidbildung) mehr auftrat. Je mehr Soda verbraucht wurde, desto besser war der Essig. Eines der ersten sehr genauen Titrationsverfahren war die Chloridbestimmung nach [[Gay-Lussac]] (Klarpunkttitration mit [[Silbernitrat]]lösung). Weitere Verbreitung fanden Titrationen, als entscheidende praktische Verbesserungen vorgenommen wurden. So ermöglichte die [[Bürette]] mit Quetschhahn nach [[Karl Friedrich Mohr|Mohr]] eine leichte und genaue Dosierung der Maßlösung. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts wurden viele unterschiedliche Reaktionstypen für die Titration nutzbar gemacht. Hierzu gehörten neben den schon länger bekannten Fällungs- und Säure-Base-Titrationen auch Redox- und Komplextitrationen.
 
<!--==== Spektroskopische und fotometrische Methoden ====-->
==== Chromatographische Methoden ====
Der russische Botaniker [[Michail Semjonowitsch Zwet]] berichtete 1903, dass sich gelöste Stoffe durch Durchfließen einer mit einem Adsorptionsmittel gefüllten Säule trennen lassen. Das Verfahren fand erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vermehrt Beachtung, führte dann aber zu einer großen Zahl von Verfahren, die für qualitative und quantitative Bestimmungen von zahlreichen Substanzen aus Gemischen geeignet sind: [[Papierchromatographie]], [[Gaschromatographie]], [[Hochdruckflüssigchromatographie]], [[Gelpermeationschromatographie]], [[Dünnschichtchromatographie]], [[Ionenaustauschchromatographie]], [[Elektrophorese]].
 
Solche Verfahren revolutionierten die Analyse von komplexen Gemischen. Oftmals war erst durch eine chromatographische Methode eine umfassende Analyse möglich. In allen Fällen beschleunigte und verbilligte die Chromatographie die Arbeit der analytischen Labors und machte dadurch eine erhebliche Ausweitung von [[Lebensmittelkontrolle]]n und [[Dopingkontrolle]]n sowie genauere Prozessüberwachung zahlreicher Produktionsprozesse als Routinemaßnahme erst praktisch möglich.
 
Einen weiteren Qualitätssprung bedeutete in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kombination chromatographischer Trennverfahren mit spektroskopischen Identifizierungsverfahren wie [[Massenspektrometrie]], [[Infrarotspektroskopie]] und anderen.
 
=== Automatisierung von Analyseverfahren ===
Seit der Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung wurden Analyseverfahren mehr und mehr automatisiert. Dazu eigneten sich besonders volumetrische, spektroskopische und chromatographische Verfahren. Die Automatisierung führte zu einer wesentlichen Kapazitätsausweitung der Analysenlabors und zu einer Senkung der Kosten. Dies hatte zur Folge, dass zu Kontroll- und Überwachungszwecken mehr Analysen durchgeführt werden konnten. Die Automatisierung von Analyseverfahren hat sehr wesentlich dazu beigetragen, Lebensmittelkontrollen, Dopingkontrollen, klinische Blut- und Gewebeuntersuchungen usw. auszuweiten und zu einem alltäglichen Kontrollinstrument zu machen. Auch in der Forschung konnten wesentlich größere Probenserien analysiert werden und so sicherere Aussagen, beispielsweise über Abhängigkeiten von Wirkstoffgehalten in Pflanzen oder über mineralogische Zusammenhänge gemacht werden. Außerdem führte die Automatisierung durch präzisere Einhaltung von Bedingungen, besonders bei der Probenahme und Probenaufgabe, zu einer weiteren Verbesserung der Messgenauigkeit.
 
== Die Entwicklung der Laborausstattung ==
[[Datei:Labor chemisches Institut Uni Leipzig 1906.jpg|mini|Labor des chemischen Institutes der [[Universität Leipzig|Uni Leipzig]] (1906)]]Sowohl für die Möglichkeiten der [[Analytik]] als auch für die Herstellung von Substanzen im kleinen Maßstab spielte die Ausstattung der Labors eine wichtige Rolle. Zunächst standen zum Erhitzen nur kleine Holzkohleöfen zur Verfügung, die schwierig zu regulieren und umständlich zu handhaben waren. Mit der Einführung von [[Leuchtgas]] in den Städten und der Erfindung des [[Bunsenbrenner]]s stand eine unkomplizierte und leicht zu regulierende Möglichkeit zum Erhitzen zur Verfügung. Dazu spielt die Erfindung der [[Vulkanisierung]] von [[Kautschuk]] durch [[Charles Goodyear]] eine wichtige Rolle, da hierdurch Gummischläuche als flexible Gasleitungen zur Verfügung standen. Immer wieder ermöglichten gerade Entwicklungen der Chemie die Weiterentwicklung der Laborausstattung, was dann wiederum zu einem weiteren Fortschritt der Chemie führte. Einen weiteren Schritt hin zu exakter Temperaturführung sind die elektrischen Heizpilze und thermostatisierte Wasserbäder, die ihren bisherigen Höhepunkt in einer computergesteuerten Reaktionsführung mittels Thermosensoren und gesteuerter elektrischer Heizung finden.
 
Glasgeräte waren ursprünglich dickwandig und klobig. Dies war ein wesentlicher Grund, warum für Analysen große Materialmengen benötigt wurden. Mit der Einführung der Gasflamme in die Glasbläserei und mit der Weiterentwicklung von Zusammensetzung der Gläser konnten Laborgeräte immer kleiner, dünnwandiger und in komplexeren Formen hergestellt werden. Die so entstehende Vielfalt von aus der Praxis entwickelten Geräten half sehr wesentlich dabei mit, die Analysenmengen zu verringern und für die Herstellung von Substanzen immer komplexere Prozesse praktisch durchführen zu können. Durch Einführung des Normschliffes für Glasgeräte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die mittlerweile industriell hergestellten Einzelteile problemlos gegeneinander austauschbar und erlaubten den Aufbau von sehr komplexen, spezialisierten Versuchsanordnungen mit geringem zeitlichen Aufwand.
 
Immer mehr fanden Kunststoffe Eingang ins chemische Labor und erleichterten die Arbeit. Waren unzerbrechliche, chemikalienbeständige Gefäße im 19. Jahrhundert noch aus mit Paraffin getränkter Pappe, bestehen viele moderne Laborgeräte aus Polyethylen, Polypropylen, Polystyrol, Polycarbonat und, für besonders gute Beständigkeit gegen Säuren und Laugen sowie mit sehr leicht zu reinigender Oberfläche aus Polytetrafluorethylen ([[Polytetrafluorethylen|Teflon]]). Die Einführung von leichten, kostengünstig herzustellenden Geräten aus Kunststoff führte zur immer häufigeren Verwendung von Einweg-Geräten. Dadurch wurde die Gefahr der Verunreinigung mit Resten von früherem Arbeiten ausgeschaltet und die Zuverlässigkeit und Empfindlichkeit von Analysen weiter in die Höhe getrieben.
 
Mit dem Einzug von elektrischen Geräten in die Technik ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts profitierte auch das chemische Labor von elektrischen Rührern, Schüttlern, Mühlen, Pumpen usw., die die Arbeit wesentlich erleichterten. Ein nächster Schritt sind gesteuerte Geräte, die im zeitlichen Ablauf programmiert werden können. Dies machte eine persönliche Überwachung, vor allem von lang dauernden Prozessen mit Parameteränderungen, verzichtbar.
 
== Gesellschaftliche Reaktionen gegen das Eindringen der Chemie in jeden Bereich ==
Beginnend im 19. Jahrhundert wurde die Chemie ein immer bedeutenderer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Faktor. Die Rolle der Chemie, vor allem der Chemieindustrie, mit ihren Schattenseiten war immer wieder mit unterschiedlichen Schwerpunkten in der Diskussion. Auf der anderen Seite veränderte die Chemie durch neue Substanzen das äußere Erscheinungsbild von Menschen und Gebäuden, man denke etwa an Farben und Kunststoffe.
 
=== Arbeitssicherheit ===
Die erste gesellschaftliche Reaktion betraf die in der Anfangszeit schlimmen Arbeitsbedingungen in der chemischen Industrie, die zu schweren Erkrankungen von Chemiearbeitern und Arbeiterinnen führten. Nicht immer war dies auf Gleichgültigkeit von Unternehmern zurückzuführen, meist waren die Gefahren durch die neuen Stoffe noch unbekannt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Vorschriften zur Arbeitssicherheit erlassen, die die Gefahren verminderten. Dazu gehörten auch regelmäßige ärztliche Untersuchungen. Mit der Einführung immer besser geschlossener Prozesse und immer besserer persönlicher Sicherheitsausrüstung in der Industrie verminderten sich die Risiken durch das Einatmen, Verschlucken oder die Aufnahme durch die Haut erheblich.
 
Ein zweites Risiko in der chemischen Industrie ist das Unfall- und Brandrisiko, das immer noch gegeben ist. Durch immer besseren vorbeugenden Brandschutz, zu dem das immer tiefere chemische Wissen erheblich beiträgt, durch immer besser ausgebildete und ausgerüstete [[Werkfeuerwehr]]en mit immer mehr chemischem Wissen konnte das Risiko immer weiter gedrückt, aber nie ganz ausgeschaltet werden, wie spektakuläre Chemieunfälle in den letzten Jahren zeigen. Chemieunfälle wie das durch [[Cyanid]] ausgelöste Fischsterben in der [[Theiß (Fluss)|Theiß]] oder der gar die rund 8000 Toten (weitere 20.000 an den Spätfolgen) von [[Bhopal]] führten ebenso wie andere Unfälle zu heftigen Diskussionen über die Risiken einer chemischen Industrie.
 
=== Emissionen und Abfall ===
In der Anfangszeit der chemischen Industrie unterschätzte man das Potential der Umweltschädigung durch Abwässer und Emissionen mit der Abluft sehr stark. Der erste Schritt zu einer Verbesserung der Situation bestand in einer Erhöhung der Schornsteine, so dass sich die [[Schadstoff]]e über ein weiteres Gebiet in der [[Erdatmosphäre]] verteilen und so verdünnen konnten. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann allmählich ein Umdenken – nicht nur im Hinblick auf landwirtschaftlich ausgetragene [[Pestizid]]e, privat emittierten [[Tabakrauch]] und überschüssige Waschmittel-Phosphate. Eine wachsende Umweltbewegung zwang die Industrie ab etwa 1970 zunehmend, Abwasser und Abluft zu reinigen und so die Schadstoff-Emissionen zu minimieren.
 
=== Biobewegung ===
Nachdem die chemische Industrie als Heilsbringer in der Landwirtschaft bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hochgelobt wurde und auch beachtliche Erfolge zur Ertragssteigerung vorweisen konnte, bildete sich etwa ab 1970 eine zunächst immer stärker werdende Bewegung, die in der Gründung sogenannter [[Liste grüner Parteien|grüner Parteien]] gipfelte. Diese Bewegung kämpfte gegen den immer stärker werdenden Anteil von synthetischen Substanzen der chemischen Industrie in der Landwirtschaft als [[Dünger]], [[Wachstumsförderer]], Tiermedikament, [[Schädlingsbekämpfungsmittel]] usw.
 
Die grüne Bewegung nahm sich auch der Nahrungsmittelherstellung an und prangerte nicht nur chemisch gestützte Pflanzen- und Tierproduktion an, sondern auch die Verwendung von künstlichen Stoffen als Bestandteile oder Zusatzmittel für Lebensmittel. Als Gegenreaktion großindustrielle Produktion in Landwirtschaft und Nahrungsmittelerzeugung mit starkem Einfluss chemischer Methoden und künstlicher Substanzen fordert die [[Ökobewegung]] eine Beachtung natürlicher Kreisläufe mit nur sanftem Eingriff des Menschen und den möglichst vollständigen Verzicht auf die Einbringung von künstlichen Substanzen in den biologischen Kreislauf. Eine entsprechende ressourcen- und umweltschonende Strömung in der Chemie trägt den Namen ''[[Grüne Chemie]]''.
 
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Kategorie:Geschichte der Chemie}}
* {{WikipediaDE|Geschichte der Chemie}}
* {{WikipediaDE|Geschichte der Naturwissenschaften}}
 
== Literatur ==
=== Bücher ===
* Bernadette Bensaude-Vincent, Isabelle Stengers: ''A history of chemistry.'' Harvard University Press, 1996. (französisches Original La Decouverte 1993)
* William Hodson Brock: ''Viewegs Geschichte der Chemie.'' Vieweg, Wiesbaden 1997, ISBN 3-540-67033-5. (Originaltitel in Großbritannien: ''The Fontana History of Chemistry.'' 1992,  in den USA ''Norton History of Chemistry'')
* Günther Bugge (Hrsg.): ''Das Buch Der Grossen Chemiker.'' Band 1, 2, Verlag Chemie, Weinheim 1974, ISBN 3-527-25021-2. (Reprint der Ausgabe im Verlag Chemie, Berlin, 2 Bände, 1929, 1930)
* Maurice Crosland: ''Historical studies in the language of chemistry.'' Harvard University Press, 1962, 1978.
* Michael Wächter: ''Kleine Entdeckungsgeschichte(n) der Chemie im Kontext von Zeitgeschichte und Naturwissenschaften'', Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 2018, ISBN 978-3-8260-6510-1
* Kostas Gavroglu, Ana Simoes: ''Neither physics nor chemistry. A history of quantum chemistry.'' MIT Press, 2012.
* Arthur Greenberg: ''Twentieth Century-Science: Chemistry Decade by Decade.'' Facts on File, 2007.
* Arthur Greenberg: ''From Alchemy to Chemistry in Picture and Story.'' Wiley, 2007.
* Heinz Haber: ''Der Stoff der Schöpfung.'' Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1968, ISBN 3-499-16625-9.
* Aaron J. Ihde: ''The development of modern chemistry.'' Harper and Row, New York 1964. (Dover 2012)
* Eberhard Schmauderer (Hrsg.): ''Der Chemiker im Wandel der Zeiten.'' Verlag Chemie, Weinheim 1973, ISBN 3-527-25518-4.
* Otto Krätz: ''7000 Jahre Chemie. Alchemie, die schwarze Kunst – Schwarzpulver – Sprengstoffe – Teerchemie – Farben – Kunststoffe – Biochemie und mehr ; von den Anfängen im alten Orient bis zu den neuesten Entwicklungen im 20. Jahrhundert.'' Nikol, Hamburg 1999, ISBN 3-933203-20-1. (Erstausgabe als: ''Faszination Chemie''. 7000 Jahre Lehre von Stoffen und Prozessen. Callwey, München 1990, ISBN 3-7667-0984-4)
* Keith J. Laidler: '' The World of Physical Chemistry.'' Oxford University Press, 1993.
* Henry M. Leicester: ''The Historical Background of Chemistry.'' Wiley, 1956. (Dover 1971) [https://archive.org/details/TheHistoricalBackgroundOfChemistry (Archive)]
* Henry M. Leicester, Herbert S. Klickstein: ''A Source Book in Chemistry 1400-1900.'' Harvard University Press, 1952. (4. Auflage 1968)
* Henry M. Leicester: ''A Source Book in Chemistry 1900–1950.'' Harvard University Press, 1968.
* Georg Lockemann: ''Geschichte der Chemie.'' Walter de Gruyter & Co., Berlin 1953.
*Derek B. Lowe: ''Das Chemiebuch. Vom Schießpulver bis zum Graphen. 250 Meilensteine in der Geschichte der Chemie'', Librero 2017 (englisches Original: ''The Chemistry Book'', New York: Sterling Publ., 2016)
* Robert Multhauf: ''The Origins of Chemistry.'' Oldbourne, London 1966. (The Watts, New York 1967, 1993)
* Dieter Osteroth: ''Soda, Teer und Schwefelsäure: Der Weg zur Großchemie.'' Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1985.
* James Riddick Partington: ''A short history of chemistry.'' 3. Auflage. London/ New York 1960.
* James Riddick Partington: ''A History of Chemistry.'' MacMillan, 1970 (Volume 1), 1961 (Volume 2), 1962 (Volume 3), 1964 (Volume 4).
* Winfried R. Pötsch, Annelore Fischer, Wolfgang Müller: ''Lexikon bedeutender Chemiker.'' Unter Mitarbeit von Heinz Cassebaum. Bibliographisches Institut, Leipzig 1988, ISBN 3-323-00185-0.
* Claus Priesner: ''Illustrierte Geschichte der Chemie.'' Theiss, 2015.
* Ernst F. Schwenk: ''Sternstunden der Chemie. Von Johann Rudolph Glauber bis Justus von Liebig.'' Verlag C.H. Beck, München 1998, ISBN 3-406-42052-4.
* Günther Simon: ''Kleine Geschichte der Chemie.'' (= ''Praxis-Schriftenreihe, Abteilung Chemie.'' 35). Köln 1980.
* Irene Strube, Rüdiger Stolz, Horst Remane: ''Geschichte der Chemie: Ein Überblick von den Anfängen bis zur Gegenwart.'' DVW, Berlin 1986. (2. Aufl. ebenda 1988)
* Wilhelm Strube: ''Der historische Weg der Chemie.'' Band I: ''Von der Urzeit bis zur industriellen Revolution.'' 4. Auflage. Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, Leipzig 1984, {{DNB|850275016}}.
* Ferenc Szabadváry: ''Geschichte der analytischen Chemie.'' Vieweg, 1985.
* Wolfgang Schneider: ''Geschichte der Pharmazeutischen Chemie.'' Verlag Chemie, Weinheim 1972.
* Lucien F. Trueb: ''Die chemischen Elemente. Ein Streifzug durch das Periodensystem.'' S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-7776-1356-8.
* Mary Elvira Weeks: ''Discovery of the Elements.'' 6. Auflage. Verlag Journal of Chemical Education, 1956. [https://archive.org/details/discoveryoftheel002045mbp (Archive)]
* Helmut Werner: ''Geschichte der anorganischen Chemie. Die Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland von Döbereiner bis heute.'' Wiley-VCH, 2016, ISBN 978-3-527-33887-0.
* Jost Weyer: ''Geschichte der Chemie.'' Band 1: ''Altertum, Mittelalter, 16. bis 18. Jahrhundert.'' Springer Spektrum, Wiesbaden 2018. [[doi:10.1007/978-3-662-55798-3]].
* Jost Weyer: ''Geschichte der Chemie Band 2 – 19. und 20. Jahrhundert.'' Springer Spektrum, Wiesbaden 2018. [[doi:10.1007/978-3-662-55802-7]].
 
Ältere Literatur:
* Marcelin Berthelot: ''La chimie au moyen age.'' 4 Bände. Paris ab 1889.
* James Campbell Brown: ''A history of chemistry from the earliest times.'' 2. Auflage. Churchill, London 1920. [https://archive.org/details/historyofchemist00browuoft (Archive)]
* Eduard Färber: ''Die geschichtliche Entwicklung der Chemie.'' Springer, Berlin 1921. [https://archive.org/details/diegeschichtlich00farbuoft (Archive)]
* Carl Graebe: ''Geschichte der organischen Chemie.'' Julius Springer, 1920.
* Hermann Kopp: ''Geschichte der Chemie.'' 4 Bände. Braunschweig 1843–1847. (Neudruck Hildesheim 1966)
* Hermann Kopp: ''Beiträge zur Geschichte der Chemie.'' Braunschweig 1869–1875.
* Edmund Oskar von Lippmann: ''Zeittafeln zur Geschichte der organischen Chemie.'' Springer, Berlin 1921.
* Ernst von Meyer: ''Die Geschichte der Chemie von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart.'' 1899. (3. Auflage 1914)
* Paul Walden: ''Geschichte der organischen Chemie seit 1880.'' Julius Springer, Berlin 1941. (Reprint 1990)
* Paul Walden: ''Maß, Zahl und Gewicht in der Chemie der Vergangenheit. Ein Kapitel aus der Vorgeschichte des sogenannten quantitativen Zeitalters der Chemie.'' (= ''Sammlung chemischer und chemisch-technischer Vorträge.'' Neue Folge, 8). Stuttgart 1931.
* Paul Walden: ''Chronologische Übersichtstabellen zur Geschichte der Chemie von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart.'' Berlin/ Göttingen/ Heidelberg 1952.
* Isaac Asimov: ''Kleine Geschichte der Chemie – Vom Feuerstein bis zur Kernspaltung.'' Wilhelm Goldmann Verlag, München 1965.
 
Zur Literatur über [[Alchemie]] siehe dort.
 
=== Aufsätze ===
* Heinz A. Staab: ''Hundert Jahre organische Strukturchemie.'' In: ''Angewandte Chemie'' 70, 1958, S. 37–41. [[doi:10.1002/ange.19580700202]]
* Jost Weyer: ''Hundert Jahre Stereochemie – Ein Rückblick auf die wichtigsten Entwicklungsphasen.'' In: ''Angew. Chem.'' 86, 1974, S. 604–611. [[doi:10.1002/ange.19740861702]]
* J. Weyer: ''Die Entwicklung der Chemie zu einer Wissenschaft zwischen 1540 und 1740.'' In: ''Berichte zur Wissenschaftsgeschichte.'' 1, 1/2, 1978 s. 113–121.
* Claus Priesner: ''Zur Geschichte der makromolekularen Chemie.'' In: ''Chemie in unserer Zeit.'' 13, 1979, S. 43–50. [[doi:10.1002/ciuz.19790130203]]
 
== Weblinks ==
{{Wikisource|Chemie}}
* [http://web.lemoyne.edu/~giunta/papers.html#combustion Selected classical papers from the history of chemistry]
 
== Einzelnachweise ==
<references />
 
[[Kategorie:Geschichte der Chemie|!]]
 
{{Wikipedia}}

Aktuelle Version vom 4. Juni 2009, 22:11 Uhr

Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt (1792)

Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nutzen oder schaden. Diese ganz natürliche Art, die Sachen anzusehen und zu beurteilen, scheint so leicht zu sein, als sie notwendig ist, und doch ist der Mensch dabei tausend Irrtümern ausgesetzt, die ihn oft beschämen und ihm das Leben verbittern.

Ein weit schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb nach Kenntnis die Gegenstände der Natur an sich selbst und in ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten strebt: denn sie vermissen bald den Maßstab, der ihnen zu Hülfe kam, wenn sie als Menschen die Dinge in bezug auf sich betrachteten. Es fehlt ihnen der Maßstab des Gefallens und Mißfallens, des Anziehens und Abstoßens, des Nutzens und Schadens; diesem sollen sie ganz entsagen, sie sollen als gleichgültige und gleichsam göttliche Wesen suchen und untersuchen, was ist, und nicht, was behagt. So soll den echten Botaniker weder die Schönheit noch die Nutzbarkeit der Pflanzen rühren, er soll ihre Bildung, ihr Verhältnis zu dem übrigen Pflanzenreiche untersuchen; und wie sie alle von der Sonne hervorgelockt und beschienen werden, so soll er mit einem gleichen ruhigen Blicke sie alle ansehen und übersehen und den Maßstab zu dieser Erkenntnis die Data der Beurteilung nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge nehmen, die er beobachtet.

Sobald wir einen Gegenstand in Beziehung auf sich selbst und in Verhältnis mit andern betrachten und denselben nicht unmittelbar entweder begehren oder verabscheuen, so werden wir mit einer ruhigen Aufmerksamkeit uns bald von ihm, seinen Teilen, seinen Verhältnissen einen ziemlich deutlichen Begriff machen können. je weiter wir diese Betrachtungen fortsetzen, je mehr wir Gegenstände untereinander verknüpfen, desto mehr üben wir die Beobachtungsgabe, die in uns ist. Wissen wir in Handlungen diese Erkenntnisse auf uns zu beziehen, so verdienen wir klug genannt zu werden. Für einen jeden wohl organisierten Menschen, der entweder von Natur mäßig ist oder durch die Umstände mäßig eingeschränkt wird, ist die Klugheit keine schwere Sache: denn das Leben weist uns bei Jedem Schritte zurecht. Allein wenn der Beobachter eben diese scharfe Urteilskraft zur Prüfung geheimer Naturverhältnisse anwenden, wenn er in einer Welt, in der er gleichsam allein ist, auf seine eigenen Tritte und Schritte acht geben, sich vor jeder Übereilung hüten, seinen Zweck stets in Augen haben soll, ohne doch selbst auf dem Wege irgendeinen nützlichen oder schädlichen Umstand unbemerkt vorbei zu lassen; wenn er auch da, wo er von niemand so leicht kontrolliert werden kann, sein eigner strengster Beobachter sein und bei seinen eifrigsten Bemühungen immer gegen sich selbst mißtrauisch sein soll: so sieht wohl jeder, wie streng diese Forderungen sind und wie wenig man hoffen kann, sie ganz erfüllt zu sehen, man mag sie nun an andere oder an sich machen. Doch müssen uns diese Schwierigkeiten, ja man darf wohl sagen diese hypothetische Unmöglichkeit, nicht abhalten, das möglichste zu tun, und wir werden wenigstens am weitsten kommen, wenn wir uns die Mittel im allgemeinen zu vergegenwärtigen suchen, wodurch vorzügliche Menschen die Wissenschaften zu erweitern gewußt haben; wenn wir die Abwege genau bezeichnen, auf welchen sie sich verirrt und auf welchen ihnen manchmal Jahrhunderte eine große Anzahl von Schülern folgten, bis spätere Erfahrungen erst wieder den Beobachter auf den rechten Weg einleiteten.

Daß die Erfahrung, wie in allem, was der Mensch nimmt, so auch in der Naturlehre, von der ich gegenwärtig vorzüglich spreche, den größten Einfluß habe und haben solle, wird niemand leugnen, so wenig als man den Seelenkräften, in welchen diese Erfahrungen aufgefaßt, zusammengenommen, geordnet und ausgebildet werden, ihre hohe und gleichsam schöpferisch unabhängige Kraft absprechen wird. Allein wie diese Erfahrungen zu machen und wie sie zu nutzen, wie unsere Kräfte auszubilden und zu brauchen, das kann weder so allgemein bekannt noch anerkannt sein.

Sobald Menschen von scharfen frischen Sinnen auf Gegenstände aufmerksam gemacht werden, findet man sie zu Beobachtungen so geneigt als geschickt. Ich habe dieses oft bemerken können, seitdem ich die Lehre des Lichts und der Farben mit Eifer behandle und, wie es zu geschehen pflegt, mich auch mit Personen, denen solche Betrachtungen sonst fremd sind, von dem, was mich soeben sehr interessiert, unterhalte. Sobald ihre Aufmerksamkeit nur rege war, bemerkten sie Phänomene, die ich teils nicht gekannt, teils übersehen hatte, und berichtigten dadurch gar oft eine voreilig gefasste Idee, ja gaben mir Anlass, schnellere Schritte zu tun und aus der Einschränkung herauszutreten, in welcher uns eine mühsame Untersuchung oft gefangen hält.

Es gilt also auch hier, was bei so vielen andern menschlichen Unternehmungen gilt, dass nur das Interesse mehrerer auf einen Punkt gerichtet etwas Vorzügliches hervorzubringen imstande sei. Hier wird es offenbar, dass der Neid, welcher andere so gern von der Ehre einer Entdeckung ausschließen möchte, dass die unmäßige Begierde, etwas Entdecktes nur nach seiner Art zu behandeln und auszuarbeiten, dem Forscher selbst das größte Hindernis sei.

ich habe mich bisher bei der Methode, mit mehreren zu arbeiten, zu wohl befunden, als daß ich nicht solche fortsetzen sollte. Ich weiß genau, wem ich dieses und jenes auf meinem Wege schuldig geworden, und es soll mir eine Freude sein, es künftig öffentlich bekannt zu machen.

Sind uns nun bloß natürliche, aufmerksame Menschen so viel zu nützen imstande, wie allgemeiner muß der Nutzen sein, wenn unterrichtete Menschen einander in die Hände arbeiten! Schon ist eine Wissenschaft an und für sich selbst eine so große Masse, daß sie viele Menschen trägt, wenn sie gleich kein Mensch tragen kann. Es läßt sich bemerken, daß die Kenntnisse, gleichsam wie ein eingeschlossenes aber lebendiges Wasser, sich nach und nach zu einem gewissen Niveau erheben, daß die schönsten Entdeckungen nicht sowohl durch Menschen als durch die Zeit gemacht worden; wie denn eben sehr wichtige Dinge zu gleicher Zeit von zweien oder wohl gar mehreren geübten Denkern gemacht worden. Wenn also wir in jenem ersten Fall der Gesellschaft und den Freunden so vieles schuldig sind, so werden wir in diesem der Welt und dem Jahrhundert noch mehr schuldig, und wir können in beiden Fällen nicht genug anerkennen, wie nötig Mitteilung, Beihülfe, Erinnerung und Widerspruch sei, um uns auf dem rechten Wege zu erhalten und vorwärts zu bringen.

Man hat daher in wissenschaftlichen Dingen gerade das Gegenteil von dem zu tun, was der Künstler rätlich findet: denn er tut wohl, sein Kunstwerk nicht öffentlich sehen zu lassen, bis es vollendet ist, weil ihm nicht leicht jemand raten noch Beistand leisten kann; ist es hingegen vollendet, so hat er alsdann den Tadel oder das Lob zu überlegen und zu beherzigen, solches mit seiner Erfahrung zu vereinigen und sich dadurch zu einem neuem Werke auszubilden und vorzubereiten. In wissenschaftlichen Dingen hingegen ist es schon nützlich, jede einzelne Erfahrung, ja Vermutung öffentlich mitzuteilen; und es ist höchst rätlich, ein wissenschaftliches Gebäude nicht eher aufzuführen, bis der Plan dazu und die Materialien allgemein bekannt, beurteilt ausgewählt sind.

Wenn wir die Erfahrungen, welche vor uns gemacht worden, die wir selbst oder andere zu gleicher Zeit mit uns machen, vorsätzlich wiederholen und die Phänomene, die teils zufällig, teils künstlich entstanden sind, wieder darstellen, so nennen wir dieses einen Versuch.

Der Wert eines Versuchs besteht vorzüglich darin, daß er, er sei nun einfach oder zusammengesetzt, unter gewissen Bedingungen mit einem bekannten Apparat und mit erforderlicher Geschicklichkeit jederzeit wieder hervorgebracht werden könne, so oft sich die bedingten Umstände vereinigen lassen. Wir bewundern mit Recht den menschlichen Verstand, wenn wir auch nur obenhin die Kombinationen ansehen, die er zu diesem Endzwecke gemacht hat, und die Maschinen betrachten, die dazu erfunden worden sind und man darf wohl sagen täglich erfunden werden.

So schätzbar aber auch ein jeder Versuch einzeln betrachtet sein mag, so erhält er doch nur seinen Wert durch Vereinigung und Verbindung mit andern. Aber eben zwei Versuche, die miteinander einige Ähnlichkeit haben, zu vereinigen und zu verbinden, gehört mehr Strenge und Aufmerksamkeit, als selbst scharfe Beobachter oft von sich gefordert haben. Es können zwei Phänomene miteinander verwandt sein, aber doch noch lange nicht so nah, als wir glauben. Zwei Versuche können scheinen auseinander zu folgen, wenn zwischen ihnen noch eine große Reihe stehen müßte, um sie in eine recht natürliche Verbindung zu bringen.

Man kann sich daher nicht genug in acht nehmen, aus Versuchen nicht zu geschwind zu folgern: denn beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil, von der Erkenntnis zur Anwendung ist es, wo dem Menschen gleichsam wie an einem Passe alle seine inneren Feinde auflauern, Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefaßte Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag, alle liegen hier im Hinterhalte und überwältigen unversehens sowohl den handelnden Weltmann als auch den stillen, vor allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter.

Ich möchte zur Warnung dieser Gefahr, welche größer und näher ist, als man denkt, hier eine Art von Paradoxon aufstellen, um eine lebhaftere Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wage nämlich zu behaupten: daß ein Versuch, ja mehrere Versuche in Verbindung nichts beweisen, ja daß nichts gefährlicher sei, als irgendeinen Satz unmittelbar durch Versuche bestätigen zu wollen, und daß die größten Irrtümer eben dadurch entstanden sind, daß man die Gefahr und die Unzulänglichkeit dieser Methode nicht eingesehen. Ich muß mich deutlicher erklären, um nicht in den Verdacht zu geraten, als wollte ich nur etwas Sonderbares sagen.

Eine jede Erfahrung, die wir machen, ein jeder Versuch, durch den wir sie wiederholen, ist eigentlich ein isolierter Teil unserer Erkenntnis; durch öftere Wiederholung bringen wir diese isolierte Kenntnis zur Gewißheit. Es können uns zwei Erfahrungen in demselben Fache bekannt werden, sie können nahe verwandt sein, aber noch näher verwandt scheinen, und gewöhnlich sind wir geneigt, sie für näher verwandt zu halten, als sie sind. Es ist dieses der Natur des Menschen gemäß, die Geschichte des menschlichen Verstandes zeigt uns tausend Beispiele, und ich habe an mir selbst bemerkt, daß ich diesen Fehler oft begehe.

Es ist dieser Fehler mit einem andern nahe verwandt, aus dem er auch meistenteils entspringt. Der Mensch erfreut sich nämlich mehr an der Vorstellung als an der Sache, oder wir müssen vielmehr sagen: der Mensch erfreut sich nur einer Sache, insofern er sich dieselbe vorstellt; sie muß in seine Sinnesart passen, und er mag seine Vorstellungsart noch so hoch über die gemeine heben, noch so sehr reinigen, so bleibt sie doch gewöhnlich nur ein Versuch, viele Gegenstände in ein gewisses faßliches Verhältnis zu bringen, das sie, streng genommen, untereinander nicht haben; daher die Neigung zu Hypothesen, zu Theorien, Terminologien und Systemen, die wir nicht mißbilligen können, weil sie aus der Organisation unsers Wesens notwendig entspringen.

Wenn von einer Seite eine jede Erfahrung, ein jeder Versuch ihrer Natur nach als isoliert anzusehen sind und von der andern Seite die Kraft des menschlichen Geistes alles, was außer ihr ist und was ihr bekannt wird, mit einer ungeheuren Gewalt zu verbinden strebt: so sieht man die Gefahr leicht ein, welche man läuft, wenn man mit einer gefaßten Idee eine einzelne Erfahrung verbinden oder irgendein Verhältnis, das nicht ganz sinnlich ist, das aber die bildende Kraft des Geistes schon ausgesprochen hat, durch einzelne Versuche beweisen will.

Es entstehen durch eine solche Bemühung meistenteils Theorien und Systeme, die dem Scharfsinn der Verfasser Ehre machen, die aber, wenn sie mehr als billig ist Beifall finden, wenn sie sich länger als recht ist erhalten, dem Fortschritte des menschlichen Geistes, den sie in gewissem Sinne befördern, sogleich wieder hemmend und schädlich werden.

Man wird bemerken können, daß ein guter Kopf nur desto mehr Kunst anwendet, je weniger Data vor ihm liegen; dass er, gleichsam seine Herrschaft zu zeigen, selbst aus den vorliegenden Datis nur wenige Günstlinge herauswählt, die ihm schmeicheln; dass er die übrigen so zu ordnen versteht, wie sie ihm nicht geradezu widersprechen, und dass er die feindseligen zuletzt so zu verwickeln, zu umspinnen und beiseite zu bringen weiß, dass wirklich nunmehr das Ganze nicht mehr einer freiwirkenden Republik, sondern einem despotischen Hofe ähnlich wird.

Einem Manne, der so viel Verdienst hat, kann es an Verehrern und Schülern nicht fehlen, die ein solches Gewebe historisch kennen lernen und bewundern und, insofern es möglich ist, sich die Vorstellungsart ihres Meisters eigen machen. Oft gewinnt eine solche Lehre dergestalt die Überhand, daß man für frech und verwegen gehalten würde, wenn man an ihr zu zweifeln sich erkühnte. Nur spätere Jahrhunderte würden sich an ein solches Heiligtum wagen, den Gegenstand einer Betrachtung dem gemeinen Menschensinne wieder vindizieren, die Sache etwas leichter nehmen und von dem Stifter einer Sekte das wiederholen, was ein witziger Kopf von einem großen Naturlehrer sagt. er wäre ein großer Mann gewesen, wenn er weniger erfunden hätte.

Es möchte aber nicht genug sein, die Gefahr anzuzeigen und vor derselben zu warnen. Es ist billig, daß man wenigstens seine Meinung eröffne und zu erkennen gebe, wie man selbst einen solchen Abweg zu vermeiden glaubt, oder ob man gefunden, wie ihn ein anderer vor uns vermieden habe.

Ich habe vorhin gesagt, daß ich die unmittelbare Anwendung eines Versuchs zum Beweis irgendeiner Hypothese für schädlich halte, und habe dadurch zu erkennen gegeben, daß ich eine mittelbare Anwendung derselben für nützlich ansehe, und da auf diesen Punkt alles ankommt, so ist es nötig, sich deutlich zu erklären.

In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe, und wenn uns die Erfahrungen nur isoliert erscheinen, wenn wir die Versuche nur als isolierte Fakta anzusehen haben, so wird dadurch nicht gesagt, daß sie isoliert seien, es ist nur die Frage: wie finden wir die Verbindung dieser Phänomene, dieser Begebenheiten?

Wir haben oben gesehen, daß diejenigen am ersten dem Irrtume unterworfen waren, welche ein isoliertes Faktum mit ihrer Denk- und Urteilskraft unmittelbar zu verbinden suchten. Dagegen werden wir finden, daß diejenigen am meisten geleistet haben, welche nicht ablassen, alle Seiten und Modifikationen einer einzigen Erfahrung, eines einzigen Versuches, nach aller Möglichkeit durchzuforschen und durchzuarbeiten.

Da alles in der Natur, besonders aber die allgemeinern Kräfte und Elemente, in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen andem in Verbindung stehe, wie wir von einem freischwebenden leuchtenden Punkte sagen, daß er seine Strahlen nach allen Seiten aussende. Haben wir also einen solchen Versuch gefaßt, eine solche Erfahrung gemacht, so können wir nicht sorgfältig genug untersuchen, was unmittelbar an ihn grenzt? was zunächst auf ihn folgt? Dieses ist's, worauf wir mehr zu sehen haben, als auf das, was sich auf ihn bezieht. Die Vermannigfaltigung eines jeden einzelnen Versuches ist also die eigentliche Pflicht eines Naturforschers. Er hat gerade die umgekehrte Pflicht eines Schriftstellers, der unterhalten will. Dieser wird Langeweile erregen, wenn er nichts zu denken übrig läßt, jener muß rastlos arbeiten, als wenn er seinen Nachfolgern nichts zu tun übrig lassen wollte, wenn ihn gleich die Disproportion unseres Verstandes zu der Natur der Dinge zeitig genug erinnert, daß kein Mensch Fähigkeiten genug habe, in irgendeiner Sache abzuschließen.

Ich habe in den zwei ersten Stücken meiner optischen Beiträge eine solche Reihe von Versuchen aufzustellen gesucht, die zunächst aneinander grenzen und sich unmittelbar berühren, ja, wenn man sie alle genau kennt und übersieht, gleichsam nur einen Versuch ausmachen, nur eine Erfahrung unter den mannigfaltigsten Ansichten darstellen.

Eine solche Erfahrung, die aus mehreren andern besteht, ist offenbar von einer höhern Art. Sie stellt die Formel vor, unter welcher unzählige einzelne Rechnungsexempel ausgedrückt werden. Auf solche Erfahrungen der höhern Art loszuarbeiten, halt ich für höchste Pflicht des Naturforschers, und dahin weist uns das Exempel der vorzüglichsten Männer, die in diesem Fache gearbeitet haben.

Diese Bedächtlichkeit, nur das Nächste ans Nächste zu reihen oder vielmehr das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären.

Denn eigentlich ist es die mathematische Methode, welche wegen ihrer Bedächtlichkeit und Reinheit gleich jeden Sprung in der Assertion offenbart, und ihre Beweise sind eigentlich nur umständliche Ausführungen, daß dasjenige, was in Verbindung vorgebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen und in seiner ganzen Folge da gewesen, in seinem ganzen Umfange übersehen und unter allen Bedingungen richtig und unumstößlich erfunden worden. Und so sind ihre Demonstrationen immer mehr Darlegungen, Rekapitulationen, als Argumente. Da ich diesen Unterschied hier mache, so sei es mir erlaubt, einen Rückblick zu tun.

Man sieht den großen Unterschied zwischen einer mathematischen Demonstration, welche die ersten Elemente durch so viele Verbindungen durchführt, und zwischen dem Beweise, den ein kluger Redner aus Argumenten führen könnte. Argumente können ganz isolierte Verhältnisse enthalten und dennoch durch Witz und Einbildungskraft auf einen Punkt zusammengeführt und der Schein eines Rechts oder Unrechts, eines Wahren oder Falschen überraschend genug hervorgebracht werden. Ebenso kann man, zugunsten einer Hypothese oder Theorie, die einzelnen Versuche gleich Argumenten zusammen stellen und einen Beweis führen, der mehr oder weniger blendet.

Wem es dagegen zu tun ist, mit sich selbst und andern redlich zu Werke zu gehen, der wird auf das sorgfältigste die einzelnen Versuche durcharbeiten und so die Erfahrungen der höheren Art auszubilden suchen. Diese lassen sich durch kurze und faßliche Sätze aussprechen, nebeneinander stellen, und wie sie nach und nach ausgebildet worden, können sie geordnet und in ein solches Verhältnis gebracht werden, daß sie so gut als mathematische Sätze entweder einzeln oder zusammengenommen unerschütterlich stehen.

Die Elemente dieser Erfahrungen der höheren Art, welches viele einzelne Versuche sind, können alsdann von jedem untersucht und geprüft werden, und es ist nicht schwer zu beurteilen, ob die vielen einzelnen Teile durch einen allgemeinen Satz ausgesprochen werden können; denn hier findet keine Willkür statt.

Bei der andern Methode aber, wo wir irgend etwas, das wir behaupten, durch isolierte Versuche gleichsam als durch Argumente beweisen wollen, wird das Urteil öfters nur erschlichen, wenn es nicht gar in Zweifel stehen bleibt. Hat man aber eine Reihe Erfahrungen der höheren Art zusammengebracht, so übe sich alsdann der Verstand, die Einbildungskraft, der Witz an denselben wie sie nur mögen, es wird nicht schädlich, ja es wird nützlich sein. jene erste Arbeit kann nicht sorgfältig, emsig, streng, ja pedantisch genug vorgenommen werden; denn sie wird für Welt und Nachwelt unternommen. Aber diese Materialien müssen in Reihen geordnet und niedergelegt sein, nicht auf eine hypothetische Weise zusammengestellt, nicht zu einer systematischen Form verwendet. Es steht alsdann einem jeden frei, sie nach seiner Art zu verbinden und ein Ganzes daraus zu bilden, das der menschlichen Vorstellungsart überhaupt mehr oder weniger bequem und angenehm sei. Auf diese Weise wird unterschieden, was zu unterscheiden ist, und man kann die Sammlung von Erfahrungen viel schneller und reiner vermehren, als wenn man die späteren Versuche wie Steine, die nach einem geendigten Bau herbeigeschafft werden, unbenutzt beiseite legen muß.

Die Meinung der vorzüglichsten Männer und ihr Beispiel läßt mich hoffen, daß ich auf dem rechten Wege sei, und ich wünsche, daß mit dieser Erklärung meine Freunde zufrieden sein mögen, die mich manchmal fragen. was denn eigentlich bei meinen optischen Bemühungen meine Absicht sei? Meine Absicht ist. alle Erfahrungen in diesem Fache zu sammeln, alle Versuche selbst anzustellen und sie durch ihre größte Mannigfaltigkeit durchzuführen, wodurch sie denn auch leicht nachzumachen und nicht aus dem Gesichtskreise so vieler Menschen hinausgerückt sind. Sodann die Sätze, in welchen sich die Erfahrungen von der höheren Gattung aussprechen lassen, aufzustellen und abzuwarten, inwiefern sich auch diese unter ein höheres Prinzip rangieren. Sollte indes die Einbildungskraft und der Witz ungeduldig manchmal vorauseilen, so gibt die Verfahrungsart selbst die Richtung des Punktes an, wohin sie wieder zurückzukehren haben.