Jungfrau Sophia und Kain und Abel-Imagination: Unterschied zwischen den Seiten

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Als «'''Jungfrau Sophia'''» wird in der [[Christliche Esoterik|christlichen Esoterik]] der von niederen sinnlichen Begierden gereinigete und zum [[Geistselbst]] erhöhte [[Astralleib]] (-> [[Katharsis]])  bezeichnet, gleichbedeutend, allerdings jetzt in christlich verwandelter Form, mit der «[[Isis]]» der [[Ägyptische Mysterien|ägyptischen Mysterien]], von [[Goethe]] im abschließenden [[Chorus Mysticus]] seiner [[Faust-Dichtung]] als das '''Ewig-Weibliche''' und in seinem [[Goethes Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie|Märchen]] als «[[schöne Lilie]]» angesprochen. Darin liegt im esoterischen Sinn das wahre Wesen der '''Jungfräulichkeit''' begründet. Eng damit verbunden ist auch das Geheimnis der [[Jungfräuliche Geburt|jungfräulichen Geburt]].
Die '''Kain und Abel-Imagination''' wird in der [[Genesis]] [http://www.bibel-online.net/buch/01.1-mose/4.html] im Anschluss an die Paradieseserzählung angedeutet. Sie führt uns ganz nahe an das [[Rätsel des Bösen]] heran, schildert sie doch bekanntlich nichts weniger als den ersten Mord der Weltgeschichte, einen Brudermord, der gleichsam urbildhaft für alle weiteren Verbrechen der Menschheit steht. Wir alle tragen heute das Sigel [[Kain]]s auf unserer Stirn; halten wir dabei aber auch fest, dass gemäß der biblischen Erzählung ''nicht'' die Nachkommen [[Abel]]s, sondern die Nachfahren [[Kain]]s die Väter aller Kultur sind!


:"Die christliche Esoterik nannte diesen gereinigten, geläuterten astralischen Leib, der in dem Augenblick, wo er der Erleuchtung unterworfen ist, nichts von den unreinen Eindrücken der physischen Welt in sich enthält, sondern nur die Erkenntnisorgane der geistigen Welt, die «reine, keusche, weise Jungfrau Sophia». Durch alles das, was der Mensch aufnimmt in der Katharsis, reinigt und läutert er seinen astralischen Leib zur «Jungfrau Sophia». Und der «Jungfrau Sophia» kommt entgegen das kosmische Ich, das Welten-Ich, das die Erleuchtung bewirkt, das also macht, daß der Mensch Licht um sich herum hat, geistiges Licht. Dieses Zweite, das zur «Jungfrau Sophia» hinzukommt, nannte die christliche Esoterik - und nennt es auch heute noch - den «Heiligen Geist». So daß man im christlich-esoterischen Sinne ganz richtig spricht, wenn man sagt: Der christliche Esoteriker erreicht durch seine Einweihungsvorgänge die Reinigung und Läuterung seines astralischen Leibes; er macht seinen astralischen Leib zur «Jungfrau Sophia» und wird überleuchtet - wenn Sie wollen, können Sie es überschattet nennen - von dem «Heiligen Geiste», von dem kosmischen Welten-Ich." {{lit|{{G|103|201}}}}
Es wird in der [[Bibel]] allerdings nur ein Teil dieser bedeutsamen Imagination enthüllt, der andere Teil, mit dem wir uns heute im [[Bewusstseinsseelen-Zeitalter]] ganz besonders auseinander zu setzen haben, musste zunächst noch verborgen bleiben.


Im esoterischen Christentum wurde die Mutter des Jesus stets als «Jungfrau Sophia» bezeichnet, so auch von [[Johannes (Evangelist)|Johannes]], dem Evangelisten; nur exoterisch nennt er sie die «Mutter des Jesus». Im [[Johannes-Evangelium]] liegt die Kraft, den Astralleib zur «Jungfrau Sophia» umzugestalten und empfänglich zu machen für den «[[Heiliger Geist|Heiligen Geist]]». Wie sich der Schüler ([[Chela]]) im Zuge des geistigen [[Schulungsweg]]es dazu vorbereitet, schildert [[Rudolf Steiner]] weiters so:
Versuchen wir nachzuvollziehen, wie sich die ganze Kain und Abel-Imagination vor dem geistigen Auge entfaltet. In der Nacht, wenn wir schlafen, treten [[Ich]] und [[Astralleib]] aus dem lebendigen Leib, also aus dem durch den [[Ätherleib]] belebten [[Physischer Leib|physischen Leib]], heraus. Gelingt es durch geistige Schulung, das Bewusstsein auch in diesem äußeren Schlafzustand wach zu erhalten und blicken wir dabei mit geöffneten geistigen Sinnen auf den physischen Leib zurück, der im Bett liegen bleibt, so weitet er sich immer deutlicher zur [[Paradieses-Imagination]] aus. Wir erkennen dann, dass unser physischer Leib gleichsam nur ein verkümmertes, zusammengeschrumpftes Abbild der paradiesischen Welt ist. Der Rückblick auf den Ätherleib führt in ähnlicher Weise zur [[Grals-Imagination]], doch darauf wollen wir hier nicht weiter eingehen. Der klare Blick auf die Paradiesesimagination wird zunächst noch durch die egoistischen Begierden des Astralleibs getrübt. Um zur Klarheit zu kommen, müssen wir unsere Begierdennatur erst erkennen lernen und sie in objektiver Gestalt vor uns hinstellen. Das führt uns zur Begegnung mit dem [[Hüter der Schwelle]], der an der Pforte zur übersinnlichen Welt steht. Wir erkennen nun, dass der Astralleib seinem ganzen Wesen nach der pure Egoist ist und sein muss, der nur in sich und durch sich selbst leben will. Erleben wir das nur intensiv genug, so fühlen wir uns zunächst vollkommen isoliert von der geistigen Welt. Ein Gefühl frostiger Einsamkeit überfällt uns, die wir nur dadurch überwinden können, dass wir unsere kleinlichen egoistischen Interessen zu umfassenden Weltinteressen erweitern, also gleichsam unseren Egoismus auf die ganze Welt ausdehnen - wodurch er vom absoluten Altruismus nicht mehr zu unterscheiden ist.


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Indem sich unser Astralleib so erweitert, vereinigen wir uns mit der Paradiesesimagination und wir werden nun auch eines anderen geistigen Wesens gleich uns gewahr. Und doch unterscheidet sich dieses andere Wesen in einem wesentlichen Punkt von uns. Von unserem Astralleib strömen Kräfte hinauf in die geistige Welt; von jenem anderen Wesen aber regnen gute, segenbringende astralische Kräfte hinab in die Erdenwelt und wir fühlen dabei sehr deutlich: dieses Wesen ist viel wertvoller als wir selbst - und eben deshalb darf es seine segnenden Kräfte in die physische Welt ergießen. Wir fühlen nun den drängenden Wunsch, uns mit diesem Wesen zu vereinigen und an seiner liebevollen Seelenwärme unsere frostige Einsamkeit zu lindern.
"Erst ist es eine unbewußte Arbeit, die der Mensch an seinem Ätherleibe und seinem Astralleibe verrichtet. Diese vollzieht sich im allgemeinen Entwickelungsgang der Menschheit. Der Chela beginnt diese Arbeit bewußt in die Hand zu nehmen. Es wird bei unablässigem Üben ein bestimmter Moment erreicht, wo der ganze astralische Leib umgewandelt ist. Dann kann sich alles, was im astralischen Leibe ist, in den Ätherleib hinein abdrücken. Dann erst darf dieses geschehen, früher nicht, denn früher kämen schlimme Eigenschaften hinein. Das Erworbene geht dann mit dem Kausalleib durch alle Inkarnationen hindurch. Die Verewigung, Verlebendigung alles dessen, was der Astralleib enthält, ist ein ungeheuer wichtiger Vorgang. Das kann er in keinem Kamaloka abwerfen, das trägt er für immer in sich. Deshalb ist die vorherige Reinigung sehr notwendig.


Das Abdrücken dessen, was der Astralleib enthält, in den Ätherleib, wurde in der alten Einweihung so vollzogen, daß der Schüler in eine Krypta gebracht und dort in eine Art Sarg gelegt wurde. Manchmal wurde er auch an eine Art Kreuz gebunden und in einen lethargischen Zustand versetzt, bei dem der Ätherleib zugleich mit dem Astralleib aus dem physischen Leib heraustrat. Etwas ähnliches, nämlich das Heraustreten eines Teiles des Ätherleibes, geht beim Einschlafen eines Gliedes vor sich; man kann dann den betreffenden Teil des Ätherleibes aus dem Körper heraushängen sehen. Die Einweihung selbst nahm ein besonders hoher Initiierter vor. Vieles andere noch wurde da nach vorgeschriebenen Regeln gemacht. Solch ein Schlaf war etwas anderes als ein gewöhnlicher Schlaf. Es blieb bloß der physische Leib in dem sogenannten Sarg zurück, und der Ätherleib und Astralleib gingen heraus; es war also eine Art Tod. Dies war notwendig, daß man den Ätherleib frei bekam, denn nur dann kann sich der Astralleib in den Ätherleib abdrücken. Dreieinhalb Tage dauerte dieser Zustand. Wenn der Novize dann von dem Initiator wieder hingelenkt wurde zu dem physischen Leib, so wurde ihm noch eine letzte Formel eingeprägt, mit der er aufwachte. Das waren die Worte: «Eli, Eli, lama sabachthani!», das heißt: «Mein Gott, mein Gott, wie hast Du mich verherrlicht!» Zugleich schien ihm ein bestimmter Stern, in der ägyptischen Einweihung der Sirius, entgegen. Jetzt war er ein neuer Mensch geworden. Man nannte nun den ganz vergeistigten Astralleib aus einem ganz bestimmten Grunde mit einem ganz besonderen Namen: «Jungfräulich» nannte man diesen Astralleib, die «Jungfrau Sophia». Und den Ätherleib, der aufnimmt, was die Jungfrau Sophia in sich trug, nannte man den «Heiligen Geist». Und das, was aus beiden entstand, das war der «Menschensohn». Der Verkündigung und Geburt des Jesus von Nazareth liegen diese Mysterieninhalte zugrunde.
Für einen Augenblick ist es, als ob unser Bewusstsein ausgelöscht, als ob unser eigenes Wesen wie verbrannt, wie ertötet würde. Doch in diesem Moment dringt die milde Stimme der [[Inspiration]] in unser Bewusstsein und diese Stimme spricht sinngemäß so: „Du darfst nun vereint mit diesem anderen Wesen zurückkehren in die Erdenwelt und ich werde dich auf Erden zu seinem Hüter bestellen.“ Unbewusst erleben wir alle am Morgen, wenn wir uns dem Erwachen nahen, diese innere Stimme. Heute ist die Zeit reif, dass wir diese Worte ins Bewusstsein heben, durch die wir mit unserer physischen-ätherischen Hülle zum Hüter unseres höheren geistigen Wesens - denn das ist mit dem anderen Wesen gemeint - bestellt werden. Wir haben damit jenen Teil der Kain und Abel-Imagination geschildert, den die Bibel noch nicht enthüllen durfte.


Dieses innere Erlebnis wurde im Bilde auch so dargestellt, daß der Heilige Geist als die Taube über dem Kelch schwebt. Das ist der Moment, der im Johannes-Evangelium 1,32 beschrieben wird: «Und Johannes zeugete und sprach: Ich sah, daß der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf Ihm.» Denken Sie sich das auf dem astralen Plan erlebt, so haben Sie ein wirkliches Ereignis." {{lit|{{G|094|290f}}}}
Ist man nun an dem Hüter der Schwelle vorbei gekommen, schließt sich an diesen ersten Eindruck ein zweiter an. Es eröffnet sich gleichsam der geistige Blick an dem Hüter vorbei in die physische Welt hinunter. Und hier erleben wir nun ein umgekehrtes Spiegelbild dessen, was wir zuvor in der astralischen Welt erlebt haben. Man sieht sich selbst in der physischen Welt stehend und sieht, wie die Kräfte des eigenen Astralleibs abwärts strömen, wie diese Kräfte gleichsam an der physischen Welt kleben und nicht hinauf in die geistige Welt können. Neben uns sehen wir das Spiegelbild jenes anderen Wesens - unser eigenes höheres Wesen, das uns aber jetzt völlig fremd erscheint - , dessen astralischer Leib ungehindert seine Kräfte aufwärts strömen lässt, so wie Opferrauch nach oben steigt. Da ergreift uns der Neid mit ungeheurer Wucht und ein furchtbarer Entschluss dämmert in uns auf - der furchtbare Entschluss, den anderen zu töten! Man weiß wohl, dass dieser Entschluss nicht ganz aus dem Selbst kommt. Ein [[Ahriman|ahrimanisches]] Wesen gibt uns diesen Entschluss ein - indem wir die Erdenwelt betreten haben, sind wir ja dem Reich Ahrimans gefährlich nahe gekommen.
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Wieder hören wir die Stimme, die uns schon zuvor in der geistigen Welt inspiriert hat, aber nun donnert sie furchterregend: „Wo ist dein Bruder?“ Und mit wilder Wut ertönt aus unserem Selbst die Gegenstimme: „Ich weiß nicht; bin ich der Hüter meines Bruders?“.


==Literatur==
In dieser [[Imagination]] liegt die urbildhafte Erklärung für alles, was uns im Erdenleben zur Gewalt, zum puren Tötungswillen führen kann. Der Hass auf das eigene höhere Wesen wird zum Hass und Neid gegen die Mitmenschen. Indem man die eigene geistige Entwicklung im Erdenleben verweigert und mit seinem irdischen Wesen nicht der Hüter seines höheren Wesen sein will, legt man in sich den Keim zur Grausamkeit und Gewalttätigkeit! Diese Gewaltbereitschaft liegt heute tief verborgen in jedem Menschen, insofern er dem [[Bewusstseinseelenzeitalter]] angehört. Sie weckt in uns leise, doch nun schon immer lauter, den Wunsch nach dem Krieg aller gegen alle, der letztendlich die nachatlantische Kultur zugrunde richten wird, worauf uns auch die [[Apokalypse]] des [[Johannes]] unmissverständlich hinweist.
#Rudolf Steiner: ''Kosmogonie'', [[GA 94]] (1979), München, 5. November 1906 (der Vortrag handelt vom [[Rosenkreuzer-Schulungsweg]])
 
#Rudolf Steiner: ''Das Johannes-Evangelium'', [[GA 103]] (1995), Zwölfter Vortrag, Hamburg, 31. Mai 1908
Ungehemmt würden sich unsere bösen Neigungen ausleben, würde Ahrimans Kraft in uns nicht durch die guten göttlichen Mächte abgeschwächt. In abgeschwächter, verwandelter Form sind sie aber für den Menschen höchst bedeutsam, denn in diesen leisen Wünschen, die so furchtbar wären, könnten sie sich voll ausleben, bilden die notwendige Grundlage für alle wirkliche Erdenerkenntnis! Wie ist das zu verstehen?
 
Der Astralleib ist, so sagten wir, seiner innersten Natur nach der große Egoist, der nur sich und alles durch sich selbst will; das Selbst will noch mehr: Es will sich noch in dem andern, will mit seinem Wesen alles durchdringen. Das ist die Grundlage unserer Erdenerkenntnis, dass wir mit unserem Wesen in alles eindringen wollen. Unsere Ideen und Begriffe, die wir also nicht unmittelbar durch Inspiration aus der geistigen Welt empfangen, sondern die wir uns selbst konstruieren, und mit denen wir alle Dinge, alle Wesen in der Erdenwelt zu durchdringen suchen, sind die abgestumpfte Waffe Kains, mit der er Abel durchbohrte. Ahrimans Macht wurde so zum irdischen Intellekt herabgelähmt. Nur wenn wir diesen rein irdischen Intellekt entwickeln, können wir als freies Wesen wieder in die geistige Welt eintreten. Es ist ein notwendiges Durchgangsstadium auf unserem Weg in die geistige Welt - und wir stehen heute gerade in diesem Entwicklungsstadium. Der nächste Schritt muss dann das vollbewusste [[Opfer des Intellekts]] sein - und opfern kann man nur, was man besitzt. Dann kann sich der erste, geistige Teil der Kain und Abel-Imagination, den die Bibel noch nicht schildern konnte, erfüllen.
 
== Literatur ==
#Rudolf Steiner: ''Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen und sein Selbst?'', [[GA 145]] (1986), Achter Vortrag, Den Haag, 27. März 1913


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[[Kategorie:Christliche Esoterik]]
[[Kategorie:Imagination]]

Version vom 6. September 2006, 14:08 Uhr

Die Kain und Abel-Imagination wird in der Genesis [1] im Anschluss an die Paradieseserzählung angedeutet. Sie führt uns ganz nahe an das Rätsel des Bösen heran, schildert sie doch bekanntlich nichts weniger als den ersten Mord der Weltgeschichte, einen Brudermord, der gleichsam urbildhaft für alle weiteren Verbrechen der Menschheit steht. Wir alle tragen heute das Sigel Kains auf unserer Stirn; halten wir dabei aber auch fest, dass gemäß der biblischen Erzählung nicht die Nachkommen Abels, sondern die Nachfahren Kains die Väter aller Kultur sind!

Es wird in der Bibel allerdings nur ein Teil dieser bedeutsamen Imagination enthüllt, der andere Teil, mit dem wir uns heute im Bewusstseinsseelen-Zeitalter ganz besonders auseinander zu setzen haben, musste zunächst noch verborgen bleiben.

Versuchen wir nachzuvollziehen, wie sich die ganze Kain und Abel-Imagination vor dem geistigen Auge entfaltet. In der Nacht, wenn wir schlafen, treten Ich und Astralleib aus dem lebendigen Leib, also aus dem durch den Ätherleib belebten physischen Leib, heraus. Gelingt es durch geistige Schulung, das Bewusstsein auch in diesem äußeren Schlafzustand wach zu erhalten und blicken wir dabei mit geöffneten geistigen Sinnen auf den physischen Leib zurück, der im Bett liegen bleibt, so weitet er sich immer deutlicher zur Paradieses-Imagination aus. Wir erkennen dann, dass unser physischer Leib gleichsam nur ein verkümmertes, zusammengeschrumpftes Abbild der paradiesischen Welt ist. Der Rückblick auf den Ätherleib führt in ähnlicher Weise zur Grals-Imagination, doch darauf wollen wir hier nicht weiter eingehen. Der klare Blick auf die Paradiesesimagination wird zunächst noch durch die egoistischen Begierden des Astralleibs getrübt. Um zur Klarheit zu kommen, müssen wir unsere Begierdennatur erst erkennen lernen und sie in objektiver Gestalt vor uns hinstellen. Das führt uns zur Begegnung mit dem Hüter der Schwelle, der an der Pforte zur übersinnlichen Welt steht. Wir erkennen nun, dass der Astralleib seinem ganzen Wesen nach der pure Egoist ist und sein muss, der nur in sich und durch sich selbst leben will. Erleben wir das nur intensiv genug, so fühlen wir uns zunächst vollkommen isoliert von der geistigen Welt. Ein Gefühl frostiger Einsamkeit überfällt uns, die wir nur dadurch überwinden können, dass wir unsere kleinlichen egoistischen Interessen zu umfassenden Weltinteressen erweitern, also gleichsam unseren Egoismus auf die ganze Welt ausdehnen - wodurch er vom absoluten Altruismus nicht mehr zu unterscheiden ist.

Indem sich unser Astralleib so erweitert, vereinigen wir uns mit der Paradiesesimagination und wir werden nun auch eines anderen geistigen Wesens gleich uns gewahr. Und doch unterscheidet sich dieses andere Wesen in einem wesentlichen Punkt von uns. Von unserem Astralleib strömen Kräfte hinauf in die geistige Welt; von jenem anderen Wesen aber regnen gute, segenbringende astralische Kräfte hinab in die Erdenwelt und wir fühlen dabei sehr deutlich: dieses Wesen ist viel wertvoller als wir selbst - und eben deshalb darf es seine segnenden Kräfte in die physische Welt ergießen. Wir fühlen nun den drängenden Wunsch, uns mit diesem Wesen zu vereinigen und an seiner liebevollen Seelenwärme unsere frostige Einsamkeit zu lindern.

Für einen Augenblick ist es, als ob unser Bewusstsein ausgelöscht, als ob unser eigenes Wesen wie verbrannt, wie ertötet würde. Doch in diesem Moment dringt die milde Stimme der Inspiration in unser Bewusstsein und diese Stimme spricht sinngemäß so: „Du darfst nun vereint mit diesem anderen Wesen zurückkehren in die Erdenwelt und ich werde dich auf Erden zu seinem Hüter bestellen.“ Unbewusst erleben wir alle am Morgen, wenn wir uns dem Erwachen nahen, diese innere Stimme. Heute ist die Zeit reif, dass wir diese Worte ins Bewusstsein heben, durch die wir mit unserer physischen-ätherischen Hülle zum Hüter unseres höheren geistigen Wesens - denn das ist mit dem anderen Wesen gemeint - bestellt werden. Wir haben damit jenen Teil der Kain und Abel-Imagination geschildert, den die Bibel noch nicht enthüllen durfte.

Ist man nun an dem Hüter der Schwelle vorbei gekommen, schließt sich an diesen ersten Eindruck ein zweiter an. Es eröffnet sich gleichsam der geistige Blick an dem Hüter vorbei in die physische Welt hinunter. Und hier erleben wir nun ein umgekehrtes Spiegelbild dessen, was wir zuvor in der astralischen Welt erlebt haben. Man sieht sich selbst in der physischen Welt stehend und sieht, wie die Kräfte des eigenen Astralleibs abwärts strömen, wie diese Kräfte gleichsam an der physischen Welt kleben und nicht hinauf in die geistige Welt können. Neben uns sehen wir das Spiegelbild jenes anderen Wesens - unser eigenes höheres Wesen, das uns aber jetzt völlig fremd erscheint - , dessen astralischer Leib ungehindert seine Kräfte aufwärts strömen lässt, so wie Opferrauch nach oben steigt. Da ergreift uns der Neid mit ungeheurer Wucht und ein furchtbarer Entschluss dämmert in uns auf - der furchtbare Entschluss, den anderen zu töten! Man weiß wohl, dass dieser Entschluss nicht ganz aus dem Selbst kommt. Ein ahrimanisches Wesen gibt uns diesen Entschluss ein - indem wir die Erdenwelt betreten haben, sind wir ja dem Reich Ahrimans gefährlich nahe gekommen. Wieder hören wir die Stimme, die uns schon zuvor in der geistigen Welt inspiriert hat, aber nun donnert sie furchterregend: „Wo ist dein Bruder?“ Und mit wilder Wut ertönt aus unserem Selbst die Gegenstimme: „Ich weiß nicht; bin ich der Hüter meines Bruders?“.

In dieser Imagination liegt die urbildhafte Erklärung für alles, was uns im Erdenleben zur Gewalt, zum puren Tötungswillen führen kann. Der Hass auf das eigene höhere Wesen wird zum Hass und Neid gegen die Mitmenschen. Indem man die eigene geistige Entwicklung im Erdenleben verweigert und mit seinem irdischen Wesen nicht der Hüter seines höheren Wesen sein will, legt man in sich den Keim zur Grausamkeit und Gewalttätigkeit! Diese Gewaltbereitschaft liegt heute tief verborgen in jedem Menschen, insofern er dem Bewusstseinseelenzeitalter angehört. Sie weckt in uns leise, doch nun schon immer lauter, den Wunsch nach dem Krieg aller gegen alle, der letztendlich die nachatlantische Kultur zugrunde richten wird, worauf uns auch die Apokalypse des Johannes unmissverständlich hinweist.

Ungehemmt würden sich unsere bösen Neigungen ausleben, würde Ahrimans Kraft in uns nicht durch die guten göttlichen Mächte abgeschwächt. In abgeschwächter, verwandelter Form sind sie aber für den Menschen höchst bedeutsam, denn in diesen leisen Wünschen, die so furchtbar wären, könnten sie sich voll ausleben, bilden die notwendige Grundlage für alle wirkliche Erdenerkenntnis! Wie ist das zu verstehen?

Der Astralleib ist, so sagten wir, seiner innersten Natur nach der große Egoist, der nur sich und alles durch sich selbst will; das Selbst will noch mehr: Es will sich noch in dem andern, will mit seinem Wesen alles durchdringen. Das ist die Grundlage unserer Erdenerkenntnis, dass wir mit unserem Wesen in alles eindringen wollen. Unsere Ideen und Begriffe, die wir also nicht unmittelbar durch Inspiration aus der geistigen Welt empfangen, sondern die wir uns selbst konstruieren, und mit denen wir alle Dinge, alle Wesen in der Erdenwelt zu durchdringen suchen, sind die abgestumpfte Waffe Kains, mit der er Abel durchbohrte. Ahrimans Macht wurde so zum irdischen Intellekt herabgelähmt. Nur wenn wir diesen rein irdischen Intellekt entwickeln, können wir als freies Wesen wieder in die geistige Welt eintreten. Es ist ein notwendiges Durchgangsstadium auf unserem Weg in die geistige Welt - und wir stehen heute gerade in diesem Entwicklungsstadium. Der nächste Schritt muss dann das vollbewusste Opfer des Intellekts sein - und opfern kann man nur, was man besitzt. Dann kann sich der erste, geistige Teil der Kain und Abel-Imagination, den die Bibel noch nicht schildern konnte, erfüllen.

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen und sein Selbst?, GA 145 (1986), Achter Vortrag, Den Haag, 27. März 1913
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.