Germanische Schöpfungsgeschichte und Hierarchien: Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:Edda.jpg|miniatur|Die Prosa-Edda. Titelblatt einer isländischen Ausgabe des 18. Jahrhunderts]]
[[Datei:Engelhierarchien_Baptisterium_San_Marco_Venedig.jpg|mini|400px|Die Neun Chöre der Engel, Byzantinisches Kuppelmosaik im Baptisterium der [[Wikipedia:Markusdom|Basilica di San Marco]] ([[Wikipedia:Venedig|Venedig]]).]]
Die '''Germanische Schöpfungsgeschichte''' weist einige Parallelen zu den frühen [[Schöpfung|Schöpfungsmythen]] anderer Kulturen auf (z.B. denen der [[Inder]], der [[Griechen]], oder auch der [[Ägypter]]).  


In der Prosa-[[Wikipedia:Edda|Edda]] des [[Wikipedia:Snorri Sturluson|Snorri Sturluson]] (v.a. in [[Wikipedia:Gylfaginning|Gylfaginning]]), sowie im Codex Regius der Lieder-Edda (v.a. in der [[Wikipedia:Völuspá|Völuspá]] und dem [[Wikipedia:Vafþrúðnismál|Vafþrúðnismál]]) sind die hier beschriebenen Mythen überliefert, wobei es anzunehmen ist, dass es hier bereits zur Vermischung mit christlicher [[Mystik]] gekommen ist.
Als '''Hierarchie''' (von {{ELSalt|ἱεραρχία}} ''hierarchia'', aus {{polytonisch|ἱερός}}, ''hieros'', „heilig“ und {{polytonisch|ἀρχή}}, ''archē'', „Führung, [[Herrschaft]]“, daraus ab dem 17. Jahrhundert [[Latein|kirchenlateinisch]] ''hierarchia'' „Rangordnung der Weihen“) wird ganz allgemein ein [[System]] einander gemäß einer bestimmten '''Rangordnung''' über- bzw. untergeordneter [[Element (Mathematik)|Elemente]] oder [[Wesen]] bezeichnet.


== Schöpfungsmythen nach den Quellen ==
== Geistige Hierarchien ==
=== Isländische Götterlieder ===
==== Vǫluspá ====


[[Datei:Edda.jpg|miniatur|hochkant|Die Prosa-Edda. Titelblatt einer isländischen Ausgabe des 18. Jahrhunderts]]
'''Neun Chöre der Engel''', die in drei '''Hierarchien''' geordnet sind, bilden nach [[Christentum|christlicher]] Anschauung die Gemeinschaft der '''kosmischen Intelligenzen''' (→ [[Kosmische Intelligenz]]). Von den [[Kabbala|Kabbalisten]] werden sie auch, da sie sich von der [[Materie]] volkommen getrennt halten, als ''Separate Intellekte''
({{HeS|שכלים נפרדים}} ''Sechalim nifradim'') bezeichnet. In der [[Anthroposophie]] werden mit den Hierarchien die an der Entwicklung der Welt beteiligten, gemäß ihres Entwicklungsgrades nach Rangstufen geordneten [[Geistige Wesen|geistigen Wesenheiten]] bezeichnet. Über ihnen steht die [[Trinität]] als die höchste Quelle der göttlichen [[Schöpferkraft]]. Die Hierarchien sind in ihrer geistigen Entwicklung dem [[Mensch]]en vorangeschritten und haben an seiner Entwicklung sowie an der [[Erdenentwicklung]] wesentlichen Anteil. Gemäß ihres geistigen Reifegrads lassen sie sich in verschiedene Gruppen einordnen.
Im anthroposophischen Sprachgebrauch ist oft zusammenfassend von den ''Hierarchien'' die Rede, wenn die genannten Wesenheiten als Ganzes gemeint sind.


Bevor die Welt geschaffen wurde, war nichts als der [[Ginnungagap]], in dem das erste Wesen namens [[Ymir]] lebte. Da hoben [[Bör|Burs]] Söhne die kahle Erde, in der bereits der [[Weltenbaum]] [[Yggdrasil]] keimte, empor und schufen Midgard ([[Midgard|Miðgarðr]]) auf der Erde. Sonne, Mond und die Gestirne entstanden, und obwohl die Himmelslichter noch nicht ihren Platz eingenommen hatten, ließ schon der Sonnenschein das erste Gras aus der Erde wachsen. Als die [[Ase|Götter]] Nacht, Neumond, Morgen, Mittag, Nachmittag und Abend benannt hatten, damit die Zeit gezählt werden konnte, trafen sie sich auf ihrem Versammlungsort Idafeld ([[Idafeld|Iðawǫll)]], bauten Altar und Tempel, schmiedeten Werkzeuge, lebten im Reichtum ihres Goldes und vertrieben sich die Zeit beim Brettspiel, bis drei mächtige Riesentöchter kamen. Daraufhin beratschlagten die Götter, wer die Zwerge aus [[Brimir (Riese)|Brimirs]] Blut und [[Blainn|Bláinns]] Knochen (wohl Ymir)<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 53: vermutlich Kenningar für Ymir.</ref> erschaffen solle, die sodann als Nächstes entstanden.<ref>''Lieder-Edda: Vǫluspà.'' 2–10. Zitat, sofern nicht anders angegeben, nach [[Arnulf Krause]]: ''Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda.'' Reclam Verlag, 2004, ISBN 3-15-050047-8.</ref> Am Strand fanden dann die drei Götter [[Odin]], [[Hönir|Hœnir]] und [[Lodur|Loðurr]] [[Ask und Embla|Askr und Embla]], leb- und schicksalslos, und schufen daraus die Menschen, deren Schicksal die drei Nornen von der [[Quelle der Urd|Urðr-Quelle]] unter Yggdrasil bestimmen.<ref>''Lieder-Edda: Vǫluspà.'' 17&nbsp;f., 20.</ref> Darüber hinaus wird vielleicht noch ein Abstammungsmythos der Menschen angedeutet, denn in der ''Codex-Regius''-Fassung werden am Liedanfang die Menschen als [[Heimdall]]rs Söhne bezeichnet.<ref>''Lieder-Edda: Vǫluspà.'' 1</ref>
== Angelologie ==
[[Datei:Francesco Botticini - The Assumption of the Virgin.jpg|mini|400px|[[Wikipedia:Mariä Aufnahme in den Himmel|Mariä Aufnahme in den Himmel]] von [[Wikipedia:Francesco Botticini|Francesco Botticini]] (1446–1497). [[Maria]] und [[Jesus]] sind von den in drei Stufen gegliederten neun Engelschören umgeben.]]


==== Vafþrúðnismál ====
Die '''Angelologie''' (von {{ELSalt|ἄγγελος}} ''angelos'' „Sendbote“, {{Lang|grc|λόγος}} ''logos'' „Wort, Lehre“), die Lehre von den '''Engelhierarchien''' („Engel“ hier als Oberbegriff für geistige Wesen, nicht im engeren Sinne für die [[Engel|Angeloi]]), geht im [[Christentum]] auf die Schrift über die «Himmlischen Hierarchien»[https://www.unifr.ch/bkv/kapitel3682.htm] von [[Dionysius Areopagita]] zurück. Dionysius wird im Neuen Testament als erster Bischof Athens erwähnt (Apostelgeschichte des Lukas {{B|Apg|17|34|LUT}}). Da die Niederschrift der mit seinem Namen versehenen Lehren jedoch erst im frühen 6. Jahrhundert erfolgte, vermutet die herkömmliche Forschung, dass ein unbekannter Autor jener Zeit der Urheber gewesen sei. Dieser habe den Namen des Dionysius Areopagita lediglich als Pseudonym benutzt (daher auch „Pseudo-Dionysius“ genannt).


Noch vor Erschaffung der Welt formte sich nach dem ''Vafþrúðnismál'' der Riese [[Aurgelmir]] aus den Eitertropfen der [[Elivagar|Élivagár]]. Unter seinem Arm wuchsen ein Mädchen und ein Junge und durch das Zusammenschlagen der Füße schuf er einen sechsköpfigen Sohn. So zeugte er den Riesen Thrudgelmir ([[Thrudgelmir|Þhrudgelmir)]], der wiederum den ältesten noch lebenden Verwandten Ymirs und der Asen, den Riesen [[Bergelmir]], erzeugte. Unklar bleibt, ob Aurgelmir nur ein anderer Name für Ymir ist, oder ob er aus einer eigenständigen Schöpfungsüberlieferung stammt. Vom Riesen Bergelmir heißt es noch, dass er auf ein ''lúðr'' (ein schwer deutbares Wort) gelegt wurde.<ref>''Lieder-Edda: Vafþrúðnismál 29, 31, 33, 35''</ref> Zu welchem Zweck wird nicht erwähnt.
Nach [[Rudolf Steiner]] gehen die überlieferten Inhalte tatsächlich auf den in der Bibel erwähnten Dionysius Areopagita zurück:


Das Lied beschreibt darüber hinaus, wie die Welt aus den einzelnen Körperteilen Ymirs gebildet wurde. Aus seinem Fleisch entstand die Erde, aus den Knochen die Berge, aus dem Schädel der Himmel, aus dem Blut das Meer.<ref>''Lieder-Edda: Vafþrúðnismál'' 20&nbsp;f.</ref> Unausgesprochen bleibt, wer die Welt erschuf.
{{GZ|Die Lehre von den Göttern ist zuerst in ein System gebracht worden von dem Schüler des Apostels Paulus, Dionysius dem Areopagiten. Sie ist aber erst im 6. Jahrhundert aufgeschrieben worden. Die Gelehrten leugnen deshalb die Existenz des Dionysius Areopagita und sprechen von den Schriften des Pseudo-Dionysius, als ob man erst im 6. Jahrhundert alte Überlieferungen zusammengestellt habe. Der wahre Sachverhalt ist nur zu konstatieren durch das Lesen in der Akasha-Chronik. Die Akasha-Chronik aber lehrt, daß Dionysius wirklich in Athen gelebt hat, daß er von Paulus eingeweiht worden ist und von ihm den Auftrag erhalten hat, die Lehre von den höheren Geistwesen zu begründen und besonderen Eingeweihten zu erteilen. Gewisse hohe Lehren wurden damals niemals aufgeschrieben, sondern nur durch mündliche Tradition fortgepflanzt. Auch die Lehre von den Göttern wurde so von Dionysius seinen Schülern gegeben und von diesen wiederum weitergegeben. Der direkte Schüler wurde dann mit Absicht wieder Dionysius genannt, so daß der letzte, der die Lehre von den Göttern aufschrieb, einer in dieser Reihe war, die alle Dionysius genannt wurden.


==== Weitere Zeugnisse ====
Diese Lehre von den Göttern, wie sie Dionysius gegeben hat, umfaßt dreimal drei Glieder der göttlichen Wesenheiten...


Auch das ''Grímnismál'' gibt diesen Weltentstehungsmythos wieder. Jedoch fügt es hinzu, dass aus dem Haar Ymirs die Bäume, aus dem Gehirn die Wolken und aus den Wimpern Midgard (Miðgarðr), die Welt der Menschen geschaffen wurde – und zwar von den Göttern.<ref>''Lieder-Edda: Grímnismál'' 40</ref>
Über den Seraphim stehen dann göttliche Wesenheiten von solcher Erhabenheit, dass das menschliche Fassungsvermögen nicht ausreicht, um sie zu begreifen. Nach der dritten Stufe folgt die vierte Hierarchie: Der Mensch, als der zehnte in der ganzen Reihe.|93a|97f}}


Nach dem ''Hyndlulióð'' war einer der Söhne Burrs der Asengott [[Odin]].<ref>''Lieder-Edda: Hyndlulióð'' 30</ref> Darüber hinaus wird ausgesagt, dass alle Riesen von Ymir abstammen.<ref name="hy33" />
[[Wikipedia:Gregor der Große|Gregor der Große]] (ca. 540 - 604) übernahm die Engellehre für die [[Wikipedia:Katholische Kirche|Kirche]].<ref name="homilie" /> Ab dem 7. Jahrhundert verbreitete sich die Lehre vor allem durch [[Wikipedia:Isidor von Sevilla|Isidor von Sevilla]], der in seiner  [[Wikipedia:Etymologiae|Etymologiae]] ein ganzes Kapitel den Engeln widmet.<ref name="isidor" /> Im 9. Jahrhunder übersetzte [[Johannes Scottus Eriugena]] am Hof [[Wikipedia:Karl der Kahle|Karls des Kahlen]] die griechischen Schriften des Dionysius ins [[Latein]]ische<ref name="eriugena" />, wodurch sie in der Folge eine immer weitere Verbreitung fanden. In [[Dante Alighieri]]s «[[Göttliche Komödie|Göttlicher Komödie]]» erläutert [[Beatrice]] im Canto XXVIII des ''Paradiso'' ausführlich die neun Chöre der Engel.


Das ''Rígsþula'' beschreibt, wie die Stände des Knechts, des Bauern und des Adeligen durch das Wirken des Gottes Ríg (Heimdallr) entstanden.
== Gliederung der Hierarchien ==


=== Prosa-Edda ===
Rudolf Steiner nennt – neben den von Dionysius Areopagita verwendeten – weitere Namen für die Hierarchien aus anderen okkulten Überlieferungen, die im Folgenden in Klammern hinzugefügt sind. Zu den Namen merkt er an:


In der ''Prosa-Edda'' werden die verstreuten Schöpfungsberichte der ''Lieder-Edda'' zusammengefasst. Dunkle oder unstimmige Stellen der ''Lieder-Edda'' werden harmonisiert oder ergänzt, weitere Schöpfungsmythen werden hinzugefügt.
<div style="margin-left:20px;">
"Die Namen der Hierarchien sind keine Eigennamen, sondern Namen für gewisse Bewußtseinsstufen des großen Universums, und die Wesen rücken von einer Stufe zur anderen. [[Eliphas Lévi|Eliphas Levi]] hat das klar gesehen und betont, daß man es bei diesen Namen mit Rangstufen zu tun hat, mit Hierarchien." {{lit|{{G|93a|98}}}}
</div>


Die ''Prosa-Edda'' beginnt den Schöpfungsbericht mit einem ''Vǫluspá''-Zitat, nach dem am Anfang nur das Nichts in Form des Ginnungagaps war. Im Widerspruch dazu beschreibt sie danach den Ginnungagap wie eine Schlucht, die zwischen zwei Welten lag, die älter als der Graben zwischen ihnen waren. Im Süden war die Feuerwelt [[Muspellsheim]] und im Norden die kalte Wasser- und Eiswelt [[Niflheim]] mit der Quelle [[Hvergelmir]]. Aus der Quelle strömte das giftige Wasser, das die Urzeitflüsse Élivágar speiste. Ihre Wasser flossen Richtung Ginnungagap bis sie zu Eis froren. Das Gift, das aus ihnen sprühte, schlug im Nordteil des Grabens als Reif nieder, während im Südteil die Funken Muspellsheims hinein flogen. Nur in der Mitte des Grabens war es mild. Dort trafen die heiße Luft aus dem Süden und der Reif aus dem Norden aufeinander, so dass der Reif taute. Aus diesen Gischttropfen entstand das erste Wesen in Menschengestalt namens Ymir, das die Reifriesen Aurgelmir nennen. Aurgelmir schwitzte unter seinem linken Arm einen Mann und eine Frau aus und durch das Zusammenschlagen der Füße zeugte er einen Sohn, von dem die Reifriesen abstammen.<ref>''Prosa-Edda: Gylfaginnging'' 4–6</ref>
Folgt man der von Dionysius Areopagita gegebenen christlichen Terminologie, ergibt sich die folgende Einteilung der Hierarchien:  


Als der Reif im Ginnungagap weiter taute, kam die Kuh [[Audhumla|Auðhumla]] hervor. Vier Milchströme flossen aus ihrem Euter, damit nährte sie Ymir. Auðhumla hingegen leckte das Salz der bereiften Steine. Binnen drei Tagen schleckte sie ein menschenähnliches Wesen namens [[Buri (Mythologie)|Búri]] frei. Dieser hatte einen Sohn namens [[Bör|Borr]], der mit [[Bestla]] die drei Söhne Odin, [[Vili]] und [[]] zeugte. Borrs Söhne erschlugen Ymir und brachten ihn in den Ginnungagap, um aus seinem Körper die Welt zu erschaffen. Das aus ihm strömende Blut ertränkte alle Reifriesen, außer Bergelmir, der sich mit seiner Frau in einem ''lúðr'' retten konnte.<ref>''Prosa-Edda: Gylfaginnging'' 6–8</ref>
===[[Trinität]]===
[[Vater]] - [[Sohn]] - [[Heiliger Geist]]
===[[Erste Hierarchiestufe]]===
*[[Seraphim]] (lat. [[Seraphim|seraphim]], [[Geister der All-Liebe]])
*[[Cherubim]] (lat. [[Cherubim|cherubim]], [[Geister der Harmonien]])
*[[Throne]] (gr. [[Throne|thronoi]], lat. [[Throne|throni]], [[Geister des Willens]])


Danach brach das Goldzeitalter an. Die Götter vergnügten sich auf dem Idafeld (Iðavǫllr), bis die Frauen aus Riesenheim kamen und alles verdarben. Infolgedessen erließen die Götter die Gesetze und schufen die Zwerge. Im Gegensatz zur ''Vǫluspá'' fanden dann Odin, Vili und Vé am Strand zwei noch namenlose Baumstämme. Sie gaben ihnen ihre Namen, Askr und Embla, und machten sie zu Menschen, deren Schicksal die Nornen bestimmen.<ref>''Prosa-Edda: Gylfaginnging'' 9, 14&nbsp;f.</ref>
===[[Zweite Hierarchiestufe]]===
*[[Kyriotetes]] (lat. [[Dominationes|dominationes]], [[Herrschaften]], hebr. [[Kyriotetes|Tashishim]],  [[Geister der Weisheit]]) 
*[[Dynameis]] (lat. [[Virtutes|virtutes]], [[Mächte]], hebr. [[Dynamis|Hashmalohim]], [[Geister der Bewegung]]) 
*[[Exusiai]] (lat. [[Potestates|potestates]], [[Gewalten]], hebr. [[Elohim]], [[Geister der Form]])


=== Sonstige Überlieferung ===
===[[Dritte Hierarchiestufe]]===  
*[[Archai]] (lat. [[Principates|principates]], [[Fürstentümer]], [[Urengel]], [[Urbeginne]], [[Urkräfte]], [[Geister der Persönlichkeit]])
*[[Archangeloi]] (lat. [[Archangeli|archangeli]], [[Erzengel]], [[Söhne des Feuers]], [[Feuergeister]], [[Erzboten]])
*[[Angeloi]] (lat. [[Angeli|angeli]], [[Engel]], [[Söhne des Zwielichts]], [[Geister der Dämmerung]], [[Söhne des Lebens]], [[Boten]])


[[Datei:Wessobrunner Schöpfungsbericht.png|miniatur|Das Wessobrunner Gebet, Handschrift um 814]]
== Die Offenbarung der Hierarchien in der Natur ==


Das ''Wessobrunner Gebet'' gebraucht eine Reihe von Formeln zur Beschreibung der Vorzeit, als noch nichts war, die denen der ''Vǫluspá'' gleichen.
{{GZ|Derjenige nun, dem zum Bewußtsein gekommen ist durch seherische
Forschung, daß innerhalb unserer Erde waltet im erdigen
Element das Wesen der Throne oder der Geister des Willens, im
Wässerigen das Wesen der Geister der Weisheit, im Luftförmigen
das der Geister der Bewegung, im Wärmehaften das der Elohim,
der steigt allmählich auf zu der Erkenntnis, daß bei der Ballung der
Wolken, bei jenem eigenartigen, in unserem Erdenumkreise vor
sich gehenden Wässerigwerden des Gasförmig-Wässerigen, am
Werke sind jene Wesenheiten, die der Hierarchie der Cherubime
angehören. So sehen wir auf unser Festes, auf das, was wir als elementarisches
Erdendasein bezeichnen, und schauen in ihm ein
Durcheinanderwirken der Elohim mit den Thronen. Wir richten
den Blick aufwärts und sehen, wie in dem Luftförmigen, in dem
ja allerdings die Geister der Bewegung walten, wie da am Werke
sind die Cherubime, damit das Wässerige, das aus dem Bereiche der
Geister der Weisheit aufsteigt, sich zu Wolken ballen kann. Im Umkreise
unserer Erde walten ebenso wahr die Cherubime, wie da walten
innerhalb des elementarischen Daseins unserer Erde die Throne,
die Geister der Weisheit, die Geister der Bewegung. — Und wenn
wir jetzt sehen das Weben und Wesen dieser Wolkenbildungen selber,
wenn wir das sehen, was gleichsam als ihr Tieferes verborgen
ist, was sich nur zuweilen kundgibt, so ist es der aus der Wolke herausdringende
Blitz und Donner. Das ist auch nicht etwas, was aus
dem Nichts herauskommt. Dieser Tätigkeit liegt für den Seher zugrunde
das Weben und Wesen derjenigen Geister der Hierarchien,
die wir als die Seraphime bezeichnen. Und damit haben wir, wenn
wir in unserem Erdenbereich bleiben, wenn wir bis zum nächsten
Umkreis gehen, alle einzelnen Stufen der Hierarchien gefunden.|122|120f}}


Midgard, [[Altnordische Sprache|altnordisch]] miðgarðr, ist als Bezeichnung für die irdische Welt auch im [[Gotische Sprache|Gotischen]] als midjungards, im [[Altenglische Sprache|Altenglischen]] als middangeard, im [[Altsächsische Sprache|Altsächsischem]] als middilgard und im [[Althochdeutsche Sprache|Althochdeutschen]] als mittigart belegt. Aus der ostnordischen Überlieferung ist das [[Schwedische Sprache|schwedische]] Wort Ghinmendegop für einen gewaltigen, grundlosen Abgrund erhalten geblieben, das dem westnordischen Ginnungagap entspricht.<ref>Adam von Bremen: ''Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum''. Um 1075, in der Übersetzung von J.C.M. Laurent: ''Hamburgische Kirchengeschichte.'' 1893, IV 39 (Scholion)</ref>
{{GZ|Nicht wahr, die Exusiai, die Geister der Form, sind direkt sinnlich
wahrzunehmen in den Planeten; das ist einfach ihre Seite, die sie uns
zuwenden. Die Geister der Bewegung sind direkt wahrzunehmen in
den Fixsternen; das ist die Seite, die sie uns zuwenden. Aber die
Cherubim und Seraphim, die sind so nicht sinnlich wahrnehmbar, daß
sie uns gewissermaßen ihre andere Seite zuwenden. Aber sie sind so
stark unwahrnehmbar - ich bitte, das eben hinzunehmen und etwas
darüber nachzudenken -, daß die Unwahrnehmbarkeit schon wiederum
wahrnehmbar wird. Also dasjenige, was in der Welt lebt durch
Cherubim und Seraphim, das ist in so hohem Grade unwahrnehmbar,
daß die Unwahrnehmbarkeit schon wiederum wahrgenommen wird.
Es entzieht sich das so stark dem menschlichen Bewußtsein, daß
der Mensch dieses Dem-Bewußtsein-Entziehen merkt.


Einen Abstammungsmythos überliefert Tacitus. Demnach verehrten die Germanen einen Gott namens [[Tuisto]], der aus der Erde entsprossen beziehungsweise geboren war. Sein Sohn [[Mannus (Gott)|Mannus]] hatte drei Söhne, nach deren Namen sich die drei Stammesverbände der Germanen benannten und von denen sie ihre Abstammung herleiteten.<ref>Tacitus: ''Germania'' 2,3–4</ref> Darüber hinaus könnte Tacitus' dunkle Beschreibung des [[Semnonenhain|heiligen Hains]] der [[Semnonen]] in zweierlei Hinsicht Schöpfungsmythen enthalten.<ref>Tacitus: ''Germania'' 39,1</ref> So heißt es, dass die Semnonen von diesem Hain ihren Ursprung nahmen. Des Weiteren könnte man in dem rituellen Menschenopfer die kultische Wiederholung der mythischen Zerstückelung Ymirs sehen.<ref>Vergleiche Gerhard Perl: ''Tacitus – Germania.'' 1990, S. 236.</ref>
So kann man sagen: Die Cherubim, die kommen schon wiederum
zum Vorschein, wenn auch eben sich das gerade auf die Weise dokumentiert,
daß sie so tief verborgen sind, daß man ihre Verborgenheit
merkt. Die Cherubim erscheinen nicht nur symbolisch, sondern ganz
objektiv in dem, was sich in der Gewitterwolke zuträgt, in dem, was
sich zuträgt, wenn ein Planet beherrscht wird von vulkanischen Kräften.
Und die Seraphim kommen in dem, was als Blitz aus der Wolke
zuckt, oder in dem, was als Feuer in den vulkanischen Wirkungen
zutage tritt, wirklich so zum Vorschein, daß eben ihre Unwahrnehmbarkeit
in diesen gigantischen Wirkungen der Natur wahrnehmbar
wird.


Die ''Getica'' enthält eine dunkle Stelle, in der die [[Ostgoten]] ihre siegreichen Heerführer vergöttlichten und sie Ansis nannten. Einer jener Helden namens Gapt wurde als Stammvater des ostgotischen Königsgeschlechts der [[Amaler]] angesehen.<ref>Jordanes: ''De origine actibusque Getarum (Getica)'' XIII,78; XIV,79</ref> Möglicherweise geht diese Überlieferung auf einen Mythos der Goten zurück, der ihre Abstammung vom Gott [[Gautr|Gaut]] ableitete.
Daher haben in alten Zeiten, wo man solche Dinge durchschaut hat,
die Menschen auf der einen Seite hingeblickt zum Sternenhimmel, der
ihnen das Mannigfaltigste geoffenbart hat: die Geheimnisse der Exusiai,
die Geheimnisse der Dynamis. Dann haben sie die höheren Geheimnisse
zu enthüllen versucht in dem, worüber sich der Mensch
heute lustig macht: aus dem Inneren der menschlichen Leiber - wie
man trivial sagt -, aus den Eingeweiden. Dann aber waren sie sich
dessen bewußt, daß die größten Wirkungen, die wirklich dem Sonnensystem
gemeinschaftlich sind, von einer ganz umgekehrten Seite her
sich in den Feuer- und Gewitterwirkungen, in den Erdbeben und vulkanischen
Wirkungen ankündigen. Das Schöpferischste, das in den
Seraphim und Cherubim liegt, kündigt sich an durch seine zerstörerischste
Seite, kurioserweise. Es ist eben die Kehrseite, es ist das
absolut Negative, aber das Geistige ist so geistig stark da, daß eben
schon seine Unwahrnehmbarkeit, sein Nichtdasein, wahrgenommen
wird von den Sinnen.|180|103f}}


== Die einzelnen Schöpfungsmythen ==
==Siehe auch==
[[Herrschaftsgebiete der Hierarchien]], [[Erzengel-Regentschaften]], [[Trinität]], [[Erste Hierarchie]], [[Zweite Hierarchie]], [[Dritte Hierarchie]], [[Vierte (zukünftige) Hierarchie]]


''Siehe auch: [[Nordische Mythologie]] und [[Germanische Mythologie]]''
==Literatur==
{{Glomer|anthroposophie/religion-kultus/christologie-hierachienlehre|Christologie & Hierarchien}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Grundelemente der Esoterik'', [[GA 93a]] (1976), S 97f., Berlin, 8. Oktober 1905
* [[Rudolf Steiner]]: ''Das Johannes-Evangelium'', [[GA 103]] (1995), ISBN 3-7274-1030-2 {{Vorträge|103}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Geheimnisse der biblischen Schöpfungsgeschichte'', [[GA 122]] (1984), ISBN 3-7274-1220-8 {{Vorträge|122}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Lehrerkonferenzen, Bd. I'', [[GA 300a]]
* [[Hans-Werner Schroeder]]: ''Mensch und Engel''. Die Wirklichkeit der Hierarchien, Fischer TB, Frankfurt a.M. 1982, S. 151


Schöpfungsmythen spiegeln den Menschen, seine Kultur und sein Verständnis, wie die Welt funktioniert. Die sozialen, religiösen und technischen Errungenschaften erhalten durch sie eine Begründung und eine Bekräftigung. In alten Zeiten galten diese Mythen als wahre Geschichten, und bei vielen Naturvölkern mussten die geschilderten Urzeitvorgänge im Kult wiederholt und erneuert werden zur Erhaltung der Welt und des Lebens.<ref>Ferdinand Hermann: ''Symbolik in den Religionen der Naturvölker.'' Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart 1961, S. 127&nbsp;f.</ref> Gleichwohl ist die Forschung bis heute außerstande, die überlieferten germanischen Schöpfungsmythen in einem derartigen Zusammenhang als sinnvolles Ganzes zu deuten.
{{GA}}


=== Die Vorzeit ===
== Weblinks ==


Die Schilderungen zur Vorzeit enthalten die Vorstellungen darüber, was in der Urzeit war, bevor die bestehende Welt (und damit Raum und Zeit) geschaffen wurden.
* [http://www.unifr.ch/bkv/kapitel3682.htm Dionysius Areopagita: ''Himmlische Hierarchie''] in der [http://www.unifr.ch/bkv Bibliothek der Kirchenväter]
* [http://www.odysseetheater.org/jump.php?url=http://www.odysseetheater.org/ftp/bibliothek/Philosophie/Areopagita/Dionysius_Areopagita_Himmlische_Hierarchien.pdf Dionysius Areopagita: ''Himmlische Hierarchie'']. Aus dem Griechischen übersetzt von Josef Stiglmayr. (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 2) München 1911
* [http://www.2dbild.ch/engel/index.php?page=haupt5/unter1/sub5 Das Wesen der Engel in der Anthroposophie]


==== Als Nichts war ====
== Einzelnachweise ==


Der Schöpfungsbericht der nordischen ''Vǫluspá'' beginnt in der dritten Strophe mit diesen Versen, die vom Anbeginn der Zeiten künden, als noch nichts war:
<references>


{|
<ref name="homilie">
|
Gregor der Große: ''Hom. XXXIV in Luc. 7'' (= [[Wikipedia:Jacques Paul Migne|Migne]], [[Wikipedia:Patrologia Latina|PL]] 76, 1246–1259, [http://www.documentacatholicaomnia.eu/04z/z_0590-0604__SS_Gregorius_I_Magnus__Homiliarum_In_Evangelia_Libri_Duo__MLT.pdf.html online]); ''Moralia in Iob <span style="font-variant:small-caps">XXXII, xxiii</span> ([http://monumenta.ch/latein/text.php?tabelle=Gregorius_Magnus&rumpfid=Gregorius%20Magnus,%20Moralia%20in%20Iob,%2032,%20%20%2023&nf=1])
: „Ár var alda • þat er ekki var (þat er Ymir bygði),
</ref>
: vara sandr né sær • né svalar unnir,
: iorð fannz æva • né upphiminn,
: gap var ginnunga, enn gras hvergi.“
:: – ''Vǫluspá'' 3<ref>Lieder-Edda: Vǫluspá 3. Textausgabe nach Titus Projekt, [http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/germ/anord/edda/edda.htm (online)], aufgerufen am 14. Dezember 2009.</ref>
|
: „Es war in alten Zeiten, als nichts war (oder: als Ymir hauste),
: weder Sand noch Meer, noch kühle Wellen,
: Erde fand sich nicht, noch Aufhimmel,
: gähnender Abgrund war und nirgends Gras.“
::&nbsp;
|
|}


Dass der Dichter der ''Vǫluspá'' sie nicht frei erfunden hat, zeigen Verse des christlichen ''Wessobrunner Gebets'', das etwa 200 Jahre zuvor 2.500 Kilometer entfernt im westgermanischen Raum aufgeschrieben wurde.
<ref name="isidor">
Isidor von Sevilla: ''Etymologiae VII, 5'' ([http://penelope.uchicago.edu/Thayer/L/Roman/Texts/Isidore/7*.html#5])
</ref>


{|
<ref name="eriugena">
|
''Libri Sancti Dionysii Areopagitae, quos Ioannes Eriugena transtulit de Graeco in Latinum, iubente ac postulante rege Carolo Ludovici imperatoris filio'' ([http://www.binetti.ru/collectio/theologia/areopag/caelest.shtml#7])
: „[…] ero ni uuas • noh ufhimil
</ref>
: noh paum noh pereg ni uuas
</references>
: ni noh heinig • noh sunna ni scein
: noh mano ni liuhta • noh der mareo seo
: do dar niuuiht ni uuas • enteo ni uuentuo […]“
:: – ''Wessobrunner Gebet'', Zeilen 2−6
|
: „[Als] Erde nicht war, noch Aufhimmel,
: noch Baum noch Berg nicht war,
: noch [Stern] nicht einziger, noch Sonne nicht schien,
: noch Mond nicht leuchtete, noch die glänzende See,
: als da nichts nicht war, [nicht] Enden nicht Wenden […]“
::&nbsp;
|
|}
 
Seit [[Jacob Grimm]]s<ref>Jacob Grimm: ''Deutsche Mythologie.'' 3 Bände. 1875–1878. (Neuauflage: Marix, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-86539-143-8, Band 1, S. 467&nbsp;f.)</ref> Zeiten bezweifelt niemand ernsthaft, dass beide Texte aus einem gemeinsamen älteren Erbe schöpfen. Doch trotz der gemeinsamen Formel ''Erde und Aufhimmel'' und der vergleichbaren Negationsformeln, ist es lediglich wahrscheinlich, aber nicht sicher, dass sie auf ein urgermanisches Schöpfungslied zurückgehen,<ref>Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá.'' 1963, S. 311.</ref> das in Liedform vorgetragen wurde. Das Lied als Träger der Mythen erwähnt bereits Tacitus.
 
{|
|
: „[...] carminibus antiquis
: (quod unum apud illos memoriae et annalium genus est) […]“
:: − <span style="font-variant:small-caps">Tacitus</span>: ''Germania'' 2,3
|
: „In alten Liedern,
: der einzigen Art ihrer geschichtlichen Überlieferung, […]“
::&nbsp;
|
|}
 
===== Archaische Formeln =====
 
[[Datei:Lorenz Froelich-tegning.jpg|miniatur|„Du willst, Walvater, daß wohl ich künde, was alter Mären der Menschen ich weiß.“ (Vǫluspá 1, Genzmer); Odin befragt die [[Völva]] nach Ursprung und Schicksal der Welt, Illustration von [[Lorenz Frølich]], 1895]]
 
Das hohe Alter dieser Verse bekräftigt die altertümliche Formel „als nichts war, weder Erde noch Aufhimmel“, die beide Dichter gebrauchten.
 
Die Formel „Erde und Aufhimmel“ ist mehrfach in der germanischen Welt im Zeitraum vom 8. bis 13. Jahrhundert bezeugt.<ref>Neben ''Vǫluspà'' und ''Wessobrunner Gebet'' zum Beispiel noch im [[Angelsächsischer Flursegen|angelsächsischen Flursegen]]: „eordan ic bidde and upheofon“; im ''[[Heliand]]'': „erda endi uphimil“; in der ''Lieder-Edda: Vafþrúðnismál'' 20: „hvaðan jǫrð of kom eða upphiminn“; auf dem Runenstein von [[Skarpåker]]: „iarþsalrifnaukubhimin“ und dem Runenstab von [[Ribe]].</ref> Christliche Herkunft scheint ausgeschlossen, da die entsprechende christliche Formel immer entgegengesetzt „Himmel und Erde“ lautet.<ref name="ma57f" /> Die Formel stammt somit sicher aus urgermanischer Zeit.<ref name="ma58" /> Aufhimmel meint dabei weder einen besonderen [[Himmel (Religion)|Himmel]] wie den christlichen [[Siebter Himmel|siebten Himmel]], noch kommt das Wort aus der damaligen Alltagssprache.<ref name="ma58" /> Man erklärt sich die rätselhafte Vorsilbe ''auf'' durch die Notwendigkeiten des [[Stabreim]]s. Da die Anfangsbuchstaben von „Erde und Himmel“ nicht konsonantisch miteinander staben, wurde offenbar dem Wort Himmel eine mit Vokal anlautende Vorsilbe hinzugefügt, um einen vokalischen Stabreim zu bilden.<ref name="ma57f" /><ref name="wm496" /> Dieses Begriffspaar gebrauchte man, um die Gesamtheit des Alls auszudrücken. Es entspricht unserem heutigen Begriff „die Welt“.<ref name="ma58" />
 
Ob auch die Formel „als nichts war“ zum germanischen Gemeingut gehörte, darüber sind sich die Forscher uneins. Die Formel ist nämlich nur durch ein ''Vǫluspá''-Zitat in der ''Prosa-Edda'' belegt. In den Handschriftensammlungen ''Codex Regius'' und ''Hauksbók'' steht an dieser Stelle stattdessen „als Ymir hauste“. Da beide Hauptquellen der ''Vǫluspá'' die Ymir-Variante überliefern, sagen einige Forscher, dass sie auch die ursprünglichere sei. Doch geht die Mehrzahl von ihnen wegen der Parallelen im ''Wessobrunner Gebet'' und den [[Schöpfung]]sgeschichten indogermanischer Völker davon aus, dass die ''Prosa-Edda'' die ältere Überlieferung wiedergibt.<ref>Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá.'' 1963, S. 311: unentschieden; Åke Viktor Ström: ''Germanische und Baltische Religion.'' 1975, S. 243&nbsp;f.: unentschieden; Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: RGA 27 (2004), S. 245: „als nichts war.“</ref>
 
Möglicherweise reicht die gesamte Formel „als nichts war, weder Erde noch Aufhimmel“ noch bis in indogermanische Zeit zurück.<ref>Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27.'' 2004, S. 245&nbsp;f.</ref> Parallelen finden sich in Schöpfungsberichten des alten Iran, dem ''[[Bundahischn]]''<ref>''Iranisches Bundahischn.'' XXX, 6</ref> und Indiens, dem ''[[Rigveda]]'', das etwa um 1200 vor Christus entstand.
 
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: „Nasad asin no sad asit tadanim
: nasid rajo no vyoma paro yat.“
:: − ''Rigveda'' X, 129, 1
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: „Weder Nichtsein noch Sein war damals;
: nicht war der Luftraum noch der Himmel darüber.“
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Auch bei den alten Griechen klingt die Formel in einer Komödie des [[Aristophanes]] 414 vor Christus an, die sich vielleicht auf eine alte kosmogonische Vorstellung bezieht:
 
{{Zitat|Nur [[Chaos]] und Nacht und [[Erebos]] war Anfangs,<br />und des [[Tartaros]] Abgrund;<br />Nicht Erde, noch Luft, noch Himmel auch war.|Autor=Aristophanes|Quelle=''[[Die Vögel (Aristophanes)|Die Vögel]]'', 1. Szene}}
 
===== Die Vorstellung des Nichts =====
 
Die vielen Verneinungsformeln, was alles nicht war, drücken aus, dass am Anfang nur der leere Urraum,<ref name="ma58" /><ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 136.</ref> das Nichts, war. Die ''Vǫluspá'' nennt es den ''[[Ginnungagap|gap ginnunga]]''. Snorri Sturluson verstand darunter, ausgehend vom mittelalterlichen Wortsinn des Wortbestandteils ''gap'' ‚Schlund, Abgrund‘ eine Schlucht, die er sinnwidrig zu dem in der ''Vǫluspá'' beschriebenen Nichts zwischen zwei Welten platzierte, die noch dazu älter als die Schlucht sein sollten. Entsprechend deutete man in der älteren Forschung und zum Teil bis heute Ginnungagap als ‚gähnender Schlund‘ ([[Eugen Mogk]]).<ref>Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte.'' Band 2; 1937, § 317. Ablehnend: Eugen Mogk: ''Grundriss der germanischen Philologie.'' Band 2. Doch bejahend eine Vielzahl von Wissenschaftlern: Åke Viktor Ström: ''Germanische und Baltische Religion.'' 1975, S. 245 ‚grundlose Gähnung‘, Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 136 ‚gähnende Urkluft‘, Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27'', 2004, S. 245 ‚klaffender Schlund‘.</ref>
 
Jan de Vries begriff aber Ginnungagap ausgehend von dem sprachlich näher liegenden altnordischen ''ginn'' als ‚der von magischen Kräften erfüllte Urraum‘.<ref name="jv317" /><ref>René L. M. Derolez: ''Götter und Mythen der Germanen.'' 1974 (1959), S. 285.</ref> Demnach war am Anfang also eine Leere, die nichts Materielles enthielt, die aber schon von den geheimnisvollen, unsichtbaren Kräften erfüllt war, die später das Leben erzeugen sollten. Das ist vergleichbar mit den antiken Vorstellungen von [[chaos]], [[prima materia]] und [[prima potentia]].
 
Auch hier gibt es Parallelen in den Schöpfungsmythen der Iraner und Inder, die auf ein mögliches gemeinsames, indogermanisches Erbe hinweisen.<ref>Åke Viktor Ström: ''Germanische und Baltische Religion.'' 1975, S. 245.</ref> Für die Vorstellung des leeren Raums gebraucht der ''Rigveda'' ''gahanam gabhiram'' ‚tiefer Abgrund‘.<ref>''Rigveda'' X, 129, 1 [http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/ind/aind/ved/rv/mt/rv.htm Im Original Online] [http://www.thombar.de/10_lk.htm Übersetzung Online]</ref> Das ''Bundahischn'' verwendet an vergleichbarer Stelle ''tuhigih'' ‚Leere, leerer Raum‘.<ref>''Indisches Bundahischn.'' I, 9 [http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/iran/miran/mpers/bundahis/bunda.htm Im Original Online]</ref>
 
Diesen Mythen ist die alte Vorstellung gemeinsam, dass das Sein aus dem Nichtsein hervorgeht.
 
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: „Devanam yuge prathame
: satah sad ajayata.“
:: − ''Rigveda'' X, 72, 3
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: „Im ersten Zeitalter der Götter
: entstand das Seiende aus dem Nichts.“
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==== Die Entstehung des ersten Wesens ====
 
Die Schilderung, dass Ymir ein Produkt der Elemente Feuer und Eis, von Wärme und Kälte, sei, findet sich nur in der ''Prosa-Edda''. In der ''Lieder-Edda'' heißt es hierzu im Lied ''Vafþrúðnismál'' lediglich, dass in der Urzeit der Riese Aurgelmir entstand, als aus den Élivágar Eitertropfen spritzten, die solange wuchsen, bis daraus ein Riese wurde.<ref>''Lieder-Edda: Vafþrúðnismál'' 28, 31</ref> Auch Tacitus' Bemerkung, wonach [[Tuisto]] aus der Erde geboren sei, trifft vielleicht eine Aussage über die Entstehung des ersten Wesens.<ref>Tacitus: ''Germania'' 2,3</ref>
 
Ymir, altnordisch für ‚Lärmer‘, stammt von indogermanisch ''*i̯̯̯emo-'' ‚Zwilling‘. Da der Riese ohne einen Partner Wesen aus sich selbst erzeugt, deutet man seinen Namen letzten Endes als ‚Zwilling, Zwitter‘.<ref>Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2.'' 1937, § 318: nur ‚Zwilling‘ – Åke Viktor Ström: ''Germanische und Baltische Religion.'' 1975, S. 244 – [[Rudolf Simek]]: ''Götter und Kulte der Germanen.'' 2. Auflage. Verlag C. H. Beck, München 2006 (Erstauflage 2004), ISBN 3-406-50835-9, S. 88.</ref><ref name="me60" /><ref name="re471" /> Doppelgeschlechtliche Urwesen der Vorzeit sind aus vielen Kulturen bekannt.<ref>Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2.'' 1937, § 318: mehrere orientalische Religionen – Bernhard Maier: ''Die Religion der Germanen.'' 2003, S. 60: viele Kulturen.</ref> Als sicher gilt, dass Ymir bereits eine mythische Gestalt in indogermanischer Zeit war, denn die Namen einiger mythischer Wesen aus der indogermanischen Welt sind sprachlich mit ihm verwandt.<ref name="re471" /><ref name="hu248" /> Nach dem indischen ''[[Rigveda]]'' war [[Yama (Todesgott)|Yama]] der erste Mensch und zeugte zusammen mit seiner Zwillingsschwester [[Yami (Mythologie)|Yami]] die ersten Menschen, bevor er als Richter über die Toten in die Unterwelt ging.<ref>''Rigveda.'' X, 10 [http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/ind/aind/ved/rv/mt/rv.htm Original Online] [http://www.thombar.de/10_lk.htm Übersetzung Online]</ref> Der iranische [[Dschamschid|Yima]] im ''Bundahischn'' ist die Herrscherlichtgestalt der paradiesischen Urzeit.<ref>''Iranisches Bundahischn'' XXXI, 4</ref> Bei den Letten ist [[Jumis]] ein Name sowohl für die Zwillingsfrucht (eine Nuss mit zwei Kernen), als auch eines Getreidedämons, der je nach Quelle als Zwitter, Mann oder Frau beschrieben wird.<ref name="re471" /> Diese Parallelen zeigen, dass es sich rein um sprachliche, nicht aber inhaltliche Entsprechungen handelt. Das bedeutet, dass die eddischen Ymir-Mythen nicht zwangsläufig auch indogermanischen Ursprung haben müssen.<ref name="me60" />
 
Wie Ymir so trägt auch Tuisto die Zweiheit im Namen. Der Name stammt nach herrschender Meinung von indogermanisch ''*duis-'' ‚zweimal‘ ab.<ref>Bernhard Maier: ''Die Religion der Germanen.'' 2003, S. 63.</ref> Da Tacitus Tuisto als den göttlichen Vater des Stammvaters der Germanen bezeichnet, ist er vergleichbar mit einem ersten Wesen,<ref name="hb476" /> so dass es nahe liegt, dass Ymir und Tuisto aus derselben mythischen Gestalt hervorgingen. Doch bestand zwischen beiden spätestens in germanischer Zeit keine Identität mehr. Tuisto ist ein Gott und Stammvater der Menschen, Ymir ist ein Riese und Stammvater der Riesen, nicht aber der Menschen. Die Unterschiede sind so schwerwiegend, dass man in der Forschung zum Teil auch sagt, dass beide zwar auf indogermanischen Vorstellungen beruhen, aber nicht auf dieselbe mythische Gestalt zurückgehen.<ref name="re471" />
 
Aurgelmir, der ‚sandgeborene Brüller‘, ist der Vorzeitriese, den Snorri Sturluson mit Ymir gleichsetzt. Es ist gut möglich, dass der Mythos Aurgelmirs aus einer eigenständigen Schöpfungstradition stammt,<ref name="jv317" /><ref name="hu248" /><ref>Åke Viktor Ström: ''Germanische und Baltische Religion.'' 1975, S. 244 hält die Gleichsetzung für abwegig, jedoch ohne Begründung.</ref> dennoch folgt die Forschung überwiegend der Gleichsetzung mit Ymir aus inhaltlichen Gründen,<ref name="hu248" /><ref name="jv321" /><ref>Bernhard Maier: ''Die Religion der Germanen.'' 2003, S. 59.</ref> da der bei Aurgelmir geschilderte Mythos vergleichbar ist mit der Situation, die man bei Ymir erwarten würde.
 
Entsprechend uneinheitlich sind auch die Mythen, wie das erste Wesen in die Welt kam.
 
* '''Ymir: aus der Polarität von Feuer und Eis'''
 
Die [[Alchemie|alchemistisch]] anmutende Schilderung der ''Prosa-Edda'' von der Entstehung des ersten Wesens aus Feuer und Eis hat eine Parallele im iranischen ''Bundahischn'' das vom Wirken des guten Schöpfergotts [[Ahura Mazda|Ohrmazd]] im Licht der Höhe spricht und vom bösen Schöpfergott [[Angra Mainyu|Ahreman]], der in finsterer Tiefe wirkt. Beide Sphären trennt leerer Raum, in dem sich die Welt befindet, in der sich Gutes und Böses mischen.<ref>''Indisches Bundahischn'' I, 1–3. [http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/iran/miran/mpers/bundahis/bunda.htm Im Original Online]</ref> Zwischen ''Prosa-Edda'' und ''Bundahischn'' gibt es Ähnlichkeiten auf Grund der Gegensatzpaare und der Mischung beider Kräfte in dem leeren Raum, der zwischen ihnen liegt. Die Inhalte gelten aber als zu weit voneinander entfernt (Feuer – Eis / oben gut – unten böse), so dass man in der Forschung ein gemeinsames indogermanisches Erbe verneint.<ref name="jv317" /><ref name="de285ff" /><ref>Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27.'' 2004, S. 246&nbsp;f.</ref>
 
Eine ältere nordische oder germanische Tradition kann zwar nicht mit Gewissheit ausgeschlossen werden,<ref name="hu247" /> doch hält es die Forschung für wahrscheinlicher, dass die Entstehung Ymirs aus Feuer und Eis auf eine mittelalterliche Spekulation isländischer Gelehrter oder Snorri Sturlusons zurückgeht ([[Elard Hugo Meyer]], [[Franz Rolf Schröder]]),<ref>Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte.'' Band 2; 1937, § 317 bejahend. Elard Hugo Meyer: ''Germanische Mythologie.'' 1891, Band 3, S. 80&nbsp;ff. Franz Rolf Schröder: … 9, 134 und 11, 3–5</ref> die vielleicht mittelbar vom iranischen Dualismus beeinflusst wurde<ref name="jv317" /><ref>Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá.'' 1963, S. 304 sagt, dass nicht jeder Dualismus dem iranischen Weltbild entspringen müsse.</ref> oder dem mittelalterlichen Verständnis der antiken [[Vier-Elemente-Lehre|Elementenlehre]] entsprang,<ref name="de285ff" /> und Mythen der Eis- und der Feuerwelt mit der Schöpfungsgeschichte zu einer Einheit verband.
 
* '''Aurgelmir: aus den Eitertropfen der Élivágar'''
 
Nach dem Lied ''Vafþrúðnismál'' formte sich der Riese Aurgelmir aus den Eitertropfen (''eitrdropar'') der Élivágar. Die Élivágar sind in der ''Prosa-Edda'' elf Urzeitflüsse, die aus der Quelle Hvergelmir entströmen. Ihre Namen entnahm Snorri Sturluson dem Flusskatalog des Liedes ''Grímnismál''.
 
In der Forschung wird zum Teil angezweifelt, dass die Élivágar ursprünglich als Flüsse gedacht wurden. Auf Grund der Etymologie sieht [[Eyvind Fjeld Halvorsen]] in dem Namen eine Umschreibung für das mythische Urmeer, das die Welt umgab.<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 89 zustimmend: → Eyvind Fjeld Halvorsen: ''Élivágar. ''In: ''Kulturhistorik Leksikon for nordisk Medeltid 3.'' Malmö 1958, S. 597&nbsp;f.</ref> Diese Deutung legt aber wiederum nahe, sie dem Mythenkreis der Wasserkosmogonie ''(→ siehe Abschnitt: [[#Weltentstehung aus dem Meer|Weltentstehung aus dem Urmeer?]]'') zuzuordnen.
 
Den Grundgedanken der Mythe, die Entstehung aus Eitertropfen, hält Jan de Vries zumindest für heidnisch-germanisch.<ref name="jv317" />
 
* '''Tuisto: aus der Erde'''
 
Sieht man in Tuisto das erste Wesen, so trifft Tacitus auch eine Aussage über seine Entstehung. Er sagt, Tuisto sei ''terra editum'' ‚aus der Erde geboren beziehungsweise entsprossen.‘ Nach dieser Beschreibung scheint die Erde Tuisto ungeschlechtlich hervorgebracht zu haben.
 
Die Forschung versteht hier aber die Erde zum Teil als Personifikation der Erde, also als [[Mutter Erde]].<ref name="be439" /><ref>Wolfgang Golther: ''Handbuch der germanischen Mythologie.'' Hirzel, Leipzig 1895. (Neuauflage: Marix, Wiesbaden 2004, ISBN 3-937715-38-X, S. 602.)</ref> Eine vergleichbare Mythe enthält die ''Prosa-Edda'', nach der die erste Kuh Auðhumla den Riesen Ymir nährte ''(→ siehe Abschnitt: [[#Die Urkuh Auðhumla|Die Urkuh Auðhumla]]''). Kühe sind in vielen Mythologien ein mythisches Bild für die Erdmutter.<ref name="be439" /> Im Vergleich mit den Schöpfungsmythen der Naturvölker braucht Mutter Erde aber, um fruchtbar zu sein, einen männlichen Befruchter, Vater Himmel.<ref>Ferdinand Hermann: ''Symbolik in den Religionen der Naturvölker.'' Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart 1961, S. 127.</ref> Daher nahm man in der älteren Forschung auch an, dass Tuisto der Sohn des germanischen Himmelsgotts [[Tyr|*Tiwaz]] sei.<ref>Paul Hermann: ''Deutsche Mythologie.'' 1898. (Neu erschienen in 8. Auflage. Aufbau Taschenbuchverlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-7466-8015-6, S. 361.)</ref> Diese Vermutung versuchte man etymologisch zu untermauern. In einigen Handschriften der ''Germania'' steht anstatt Tuisto ‚Tuisco‘. Liest man diese Schreibvariante als Verhörung für Tiwisko, so ergibt sich die Bedeutung ‚Sohn des Tiwaz‘. Vergleichbar setzt auch die nordische Mythologie eine Beziehung zwischen dem Himmelsgott und der Erde voraus. [[Jörd|Jǫrð]], die nordische Personifikation der Erde, galt als Frau und Tochter Odins, der in seiner Eigenschaft als [[Allvater]] eine andere Himmelsgottheit verdrängt hatte,<ref name="be439" /> nämlich [[Tyr]], der aus dem germanischen *Tiwaz hervorgegangen war. Doch ist Tuisto als Schreibung besser bezeugt und eine Verschreibung von Tuisto zu Tuisco wahrscheinlicher als umgekehrt,<ref>Hermann Reichert: ''Mythische Namen.'' In: ''RGA 20.'' 2002, S. 462.</ref> darüber hinaus würde sich nach der neueren Forschung auch bei Tuisco keine andere Namensbedeutung als bei Tuisto ergeben.<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 443.</ref>
 
==== Die Entstehung der Riesen ====
 
Im nächsten Schritt der germanischen Schöpfungsgeschichte entstanden aus dem Urwesen die Riesen. So heißt es im Lied ''Hyndlulióð'': „Alle Riesen kommen von Ymir.“<ref name="hy33" /> Den passenden Mythos überliefert das Lied ''Vafþrúðnismál'' vom Riesen Aurgelmir, der gemäß ''Prosa-Edda'' mit Ymir eins ist. Demzufolge wuchsen unter Aurgelmirs Arm ein Mädchen und ein Junge, während er durch das Zusammenschlagen der Füße einen sechsköpfigen Sohn erzeugte.<ref>''Lieder-Edda: Vafþrúðnismál'' 33</ref> Die ''Prosa-Edda'' fügt noch hinzu, dass die Riesen nur von jenem sechsköpfigen Sohn abstammen,<ref>''Prosa-Edda: Gylfaginning'' 5</ref> und schweigt sich darüber aus, was aus dem Mann und der Frau hervorging.
 
In der Forschung folgt man überwiegend der Gleichsetzung Snorri Sturlusons von Aurgelmir mit Ymir (siehe oben). Auch spricht nichts dagegen, dem nordischen Mythos germanischen Ursprung zuzugestehen, angesichts der vielen Parallelen in der Welt, in denen das Urwesen noch vor den Göttern die Riesen erzeugt.<ref name="jv318" />
 
Das Lied ''Vafþrúðnismál'' nennt des Weiteren eine Generationenfolge von drei Vorzeitriesen beginnend mit Aurgelmir-Ymir, dessen Sohn [[Thrudgelmir|Þrúðgelmir]] hieß, der wiederum der Vater des Riesen [[Bergelmir]] war, des ältesten noch lebenden Riesen.<ref>''Lieder-Edda: Vafþrúðnismál'' 29, 35. ''Prosa-Edda: Gylfaginning'' 7</ref> Sie beschränkt damit die Anzahl der Generationen der Vorzeitriesen auf drei.
 
==== Die Entstehung der Götter ====
 
Binnen drei Tagen leckte die Urkuh Auðhumla laut ''Prosa-Edda'' mit ihrer Zunge Búri frei, der einen Sohn namens [[Bör|Borr]] zeugte, der wiederum mit seiner Frau der Riesin [[Bestla]] drei Söhne zeugte: [[Odin]], [[Vili]] und [[Vé]].<ref name="pe6" />
 
===== Die Urkuh Auðhumla =====
 
[[Datei:Audhumla by Abildgaard.jpg|miniatur|Auðhumla nährt Ymir und leckt Búri frei; Gemälde von [[Nicolai Abraham Abildgaard]], 1790]]
 
Auðhumla, wörtlich ‚hornloser Reichtum’,<ref>Von altnordisch ''auðr'' ‚Reichtum‘ und ''*humula'' ‚hornlos‘, siehe Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 30, der ihren Namen aber als ‚die (milch-)reiche, hornlose Kuh‘ wiedergibt. − Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2.'' 1937, § 318: ‚die reiche, hornlose Kuh‘.</ref> meint offensichtlich eine hornlose Kuh, wie sie schon Tacitus bei den Germanen bezeugt.<ref>Tacitus: ''Germania.'' 5</ref> Obwohl sie nur durch die ''Prosa-Edda'' belegt ist, geht die Forschung davon aus, dass sie keine Erfindung Snorri Sturlusons ist, sondern auf eine alte Überlieferung zurückgeht, die entweder dem vorderasiatischen oder dem indogermanischen Kulturkreis entstammt.<ref>Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2.'' 1937, § 318: Sowohl vorderasiatische wie auch indogermanische Parallelen, sofern orientalisches Lehngut, dann bereits so früh integriert (Indogermanen), dass es schon Teil der urgermanischen Überlieferung war. – René L. M. Derolez: ''Götter und Mythen der Germanen.'' 1974 (1959), S. 287: Trotz Entsprechungen bei anderen Völkern nicht unbedingt Lehngut. − Åke Viktor Ström: ''Germanische und Baltische Religion.'' 1975, S. 245: Indogermanischer Ursprung wegen indischer und iranischer Parallelen. – Bernhard Maier: ''Die Religion der Germanen'', 2003, S. 59: Vergleiche die ägyptische [[Hathor (Ägyptische Mythologie)|Hathor]] und die griechische Hera und andere alteuropäische, orientalische Göttinnen, somit vielleicht gemeinsames, vorchristliches Erbe aus der Steinzeit. − Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 30&nbsp;f. und Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27.'' 2004, S. 249: Wohl ältere Überlieferung wegen der vielen Parallelen im vorderasiatischen Raum.</ref> Das Urrind am Anfang der Schöpfung hat zahlreiche Entsprechungen, wie sich aus Vergleichen beispielsweise mit der griechischen [[Hera]] ‚die Kuhäugie’, der ägyptischen [[Isis (Ägyptische Mythologie)|Isis]] und auch der germanischen [[Nerthus]], deren Wagen von Kühen gezogen wird, ergibt. Auch das Erzeugen Búris durch Ablecken des Salzes ist ein archaischer Zug, der sich im Glauben antiker Völker widerspiegelt, wonach weibliche Wesen durch Lecken am Salz schwanger werden (Krappe).<ref>Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2.'' 1937, § 318 bejahend: → Krappe 5, 203 – → Eitrem NVA 1914, I, S. 331.</ref> Die Urkuh gilt dabei als Bild für Mutter Erde,<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 30.</ref> die für große Fruchtbarkeit steht.
 
Das Bild der vier Milchströme gehört entweder zum Mythenkreis des kosmischen [[Weltberg]]es, von dem vier Flüsse in die vier Himmelsrichtungen ausströmen,<ref name="jv318" /> oder es rührt als christlicher Einfluss von den vier Paradiesströmen der Bibel her, die ebenso in alle vier Himmelsrichtungen fließen {{Bibel|Gen|2|10-13|ELB}}.<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 31.</ref>
 
===== Búri, Burr und seine drei Söhne =====
 
Nach der ''Prosa-Edda'' ist Búri der Vater von Borr, dessen drei Söhne Odin, Vili und Vé heißen. Die ''Vǫluspá'' erwähnt davon lediglich Burs Söhne, ohne zu sagen wer sie sind. Odin als Sohn Burrs wird aber auch durch das Lied ''Hyndlulióð'' bezeugt. Trotz der leicht unterschiedlichen Schreibweisen sind Bur, Burr und Borr dieselbe Person.
 
Da Búri in der ''Lieder-Edda'' nicht erwähnt wird, besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass er auf eine Erfindung Snorri Sturlusons zurückgeht. Die ''Prosa-Edda'' beschreibt hier aber ein bestimmtes genealogisches Muster, Vater → Sohn → drei Söhne, das bei Tacitus wiederkehrt in Form von ''Tuisto → Mannus → drei Söhne'' und für das es viele Parallelen in der außergermanischen Welt gibt.<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 237: → C. Scott Littleton: ''The ‚Kingship in Heaven‘ Theme.'' In: Jaan Puhvel (Hrsg.): ''Myth and Law among the Indo-Europeans: Studies in Indo-European Comparative Mythology.'' University of California Press, Berkeley etc. 1970, S. 83–121.</ref> Vergleichbar ist auch, dass Mannus ‚Mensch‘ und Burr ‚Sohn‘ bedeutet. Somit dürfte gesichert sein, dass es zu Burr tatsächlich auch eine Vatergestalt in der germanischen Mythologie gab (→ siehe Abschnitt: [[#Tuisto, Mannus und seine Söhne|Tuisto, Mannus und seine Söhne]]).
 
Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob Burrs Vater tatsächlich Búri hieß. In der Forschung werden hierzu nur selten Zweifel erhoben, allgemein übersetzt man seinen Namen entsprechend im Sinne der Vaterrolle zu Burr, so dass man Búri als ‚Erzeuger’ und Burr als ‚Erzeugter’ wiedergibt.<ref name="jv322" /><ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 64&nbsp;f.</ref> Jedoch wurde auch darauf hingewiesen, dass beide Namen im Grunde dasselbe bedeuten, da sie beide von germanisch ''*búriz'' ‚Geborener, Sohn’ abstammen.<ref name="wm496" /><ref>Ludwig Rübekeil: ''Völker und Stammesnamen.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der germanischen Altertumskunde – Bd. 32.'' 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2006, S. 492.</ref> Führt man die Tacitus-Parallele weiter fort, so wäre der eigentliche Erzeuger Burrs ursprünglich Ymir gewesen,<ref>Vergleiche Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá'', 1963, S. 306, Fußnote 14</ref> doch sind die Wesensnaturen bei Snorri Sturluson und bei Tacitus zu verschieden, als dass man davon noch in westnordischer Zeit ausgehen könnte. Die ''Prosa-Edda'' beschreibt eine Theogonie, die ''Germania'' eine Ethnogonie.<ref name="hb476" /> Die Parallele ist somit nur noch formaler Art. Denkbar ist demnach, dass die Wesensnaturen in nachurgermanischer Zeit umgedeutet wurden, und dadurch Ymir als Erzeuger entfiel, nicht aber die Vaterrolle gegenüber Burr, der deswegen einen neuen Vater brauchte.
 
Auch die Natur Búris und Burrs, der Stammväter der Götter, ist nicht eindeutig bestimmbar. Da von Búris Sohn die Götter abstammen, wird in der Forschung meist vertreten, dass auch er ein [[Ase]]ngott sei. Doch weil sein Sohn zusammen mit der Riesin Bestla die Götter erzeugt, kann man ihn auch als Riesen werten.<ref name="simguk90" /> Búri wird in der ''Prosa-Edda'' als ''maðr'' bezeichnet. Das altnordische Wort bedeutet ‚Mensch, Mann (als Gegensatz zur Frau) oder Ehemann’ und weist zumindest auf eine Menschengestalt Búris oder sogar eine Menschennatur in Entsprechung zum Urmenschen Mannus.<ref>Vergleiche Åke Viktor Ström: ''Germanische und Baltische Religion.'' 1975, S. 244, der in Ymir und damit auch in Búri den Vater der Menschen sieht.</ref>
 
Möglicherweise wurden in einer älteren Traditionsschicht auch die Götter als Kinder der Erdmutter angesehen. Zum einen ist die Mutter von Odin und seinen beiden Brüdern, Bestla, als Riesin ein chthonisches Wesen.<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 229.</ref> Auch ihr Name, den man wohl mit ‚die Bastige‘ übersetzen kann, weist auf eine Baumnatur<ref>Vergleiche Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 50.</ref> und somit in dieselbe Richtung. Zum anderen lässt die ''Prosa-Edda'' Odins Großvater Búri aus einem Stein entstehen, was ihn ebenso wie Tuisto aus der Erde entspringen lässt.<ref name="hb476" /> Vielleicht besteht auch eine Verbindung zum Ahnenkult, da der Stein zugleich auch ein Ahnensitz ist.<ref>Hermann Reichert: ''Mythische Namen.'' In: ''RGA 20.'' 2002, S. 470 weist in anderem Zusammenhang darauf hin, dass die Asengötter mit dem Ahnenkult verbunden waren.</ref>
 
Keineswegs gesichert ist, dass die Söhne Burrs tatsächlich Odin, Vili und Vé hießen, auch wenn diese Namensdreiheit schon auf urgermanische Zeit zurückgeht, da sie einen alten Stabreim enthält, der sich erst in nordischer Zeit auflöste, als aus *Wodanaz Odin wurde.<ref name="jv322" /><ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 470 – Bernhard Maier: ''Die Religion der Germanen'', 2003, S. 59.</ref> Denkbar ist nämlich wegen der einzigen Götterdreiheit, die die ''Vǫluspá'' im Zusammenhang mit der Schöpfung der Menschen namentlich nennt, dass sie mit den Söhnen Burrs Odin, Hœnir und Loðurr meint.<ref>Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá'', 1963, S. 318. – Ferdinand Hermann: Symbolik in den Religionen der Naturvölker. Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart 1961, S. 132 sagt, dass bei den Naturvölkern der Weltschöpfergott auch zugleich derjenige ist, der die Menschen erschafft. Im Rückschlussverfahren würde das Schier bestätigen.</ref>
 
=== Die Erschaffung und Einrichtung der Welt ===
==== [[Weltentstehung]] aus Ymirs Körper ====
 
{|
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: „Ór Ymis holdi var iorð um scǫpuð,
: enn ór beinom biorg,
: himinn ór hausi […],
: enn ór sveita siór.“
:: − ''Vafþrúðnismál'' 21<ref>Lieder-Edda: Vafþrúðnismál, 21. Textausgabe nach Titus Projekt, URL: http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/germ/anord/edda/edda.htm, aufgerufen am 4. Dezember 2009.</ref>
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: „Aus Ymirs Fleisch wurde die Erde geschaffen,
: und aus den Knochen die Berge,
: der Himmel aus dem Schädel […],
: und aus dem Blut das Meer.“
:: − Übersetzung nach Arnulf Krause.<ref name="Edda. 2004">[[Arnulf Krause]]: ''Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda.'' Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 3-15-050047-8.</ref>
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[[Datei:Ymir gets killed by Froelich.jpg|miniatur|hochkant|Aus Ymirs Körper entsteht die Welt; Illustration von Lorenz Frølich, um 1900]]
 
Die Entstehung der Welt aus dem Körper des Urwesens ist keine Erfindung der Edda-Dichter, sondern gehört sicher zur nordischen Mythologie, da [[Kenning]]ar von [[Skalde]]n des 10. und 11. Jahrhunderts überliefert sind, die dieselbe Aussage voraussetzen.<ref name="simguk90" />
 
[[Jacob Grimm]] verglich die eddische Weltschöpfung unter anderem mit einer Mythe des [[apokryph]]en [[2. Henoch|Buchs Henoch]],<ref>Jacob Grimm: ''Deutsche Mythologie.'' 3 Bände; 1875–1878. (Neuauflage: Marix, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-86539-143-8, Band 1, S. 468–470)</ref> die schildert, wie [[Adam und Eva|Adam]] aus den Teilen des Kosmos gebildet wurde.<ref>''2. Buch Henoch'', 30 [http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/michael.luetge/Himmelsr2.html Online]</ref> Daraus schloss Elard Hugo Meyer auf christlichen Einfluss, da der eddische Mythos das sogenannte Adam-Apokryph nachahme.<ref>Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2.'' 1937, § 319 → Elard Hugo Meyer: ''Germanische Mythologie.'' 1891, Bd. 1, S. 77–79 – Siehe auch Wolfgang Golther: ''Handbuch der germanischen Mythologie.'' Hirzel, Leipzig 1895. Neuauflage: Marix, Wiesbaden 2004, ISBN 3-937715-38-X, S. 618 f., der sich selbst aber dafür entscheidet, dass beide Mythen unabhängig voneinander entstanden sind.</ref> Jedoch handelt es sich dabei um eine genau entgegengesetzte Vorstellung, die zudem keine Volksanschauung wiedergibt, sondern nur eine gelehrte Spekulation (M. Förster).<ref>Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2'', 1937, § 319: → M. Förster: ''ARW 11.'' S. 522.</ref>
 
Die nordische Erzählung hat viele Entsprechungen unter den Völkern der Welt.<ref name="jv319" /><ref name="hu250" /><ref name="rslex237" /> Die Schöpfung der Welt aus Ymir muss daher nicht unbedingt Lehngut darstellen,<ref name="jv319" /><ref name="de287" /> und hat vielleicht indogermanischen Ursprung.<ref>Åke Viktor Ström: ''Germanische und Baltische Religion'', 1975, S. 245 − weitere Nennungen bei Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27'', 2004, S. 250, der selbst keine Stellungnahme abgibt. − Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 498 bezieht sich bei seiner Bewertung des Alters des Weltentstehungsmythos merkwürdigerweise nur auf die ''Prosa-Edda'' und führt die Gleichsetzung des Mikrokosmos mit dem Makrokosmos ohne Eingehen auf die indogermanischen Parallelen auf gängige mittelalterliche Analogieschlüsse zurück.</ref> Das ''Puruşa-Lied'' im indischen ''Rigveda''<ref>''Rigveda'' X, 90 [http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/ind/aind/ved/rv/mt/rv.htm Original Online] [http://www.thombar.de/10_lk.htm Übersetzung Online]</ref> berichtet ebenso von der Entstehung der Welt aus dem Körper eines Urwesens, das von den Göttern geopfert wurde, jedoch bestehen nur wenige Übereinstimmungen bei den Gleichsetzungen zwischen Körperteilen und Weltbestandteilen.<ref name="hu250" /> Zudem gibt es noch eine [[Manichäismus|manichäische]] Form des Mythos, in der die Gleichsetzungen Himmel = Haut, Erde = Fleisch, Berge = Knochen, Gewächse = Haare vorkommen ''(Schkand-Gumanig-Vizar)'', sowie eine weitere Parallele im ''Bundahischn''.<ref>Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2'', 1937, § 320: → Bundahischn 28</ref>


Die Trennung des Einen, das aus dem Chaos entstanden war, in die vielen Teile der Welt wird im Mythos gewöhnlich als ein Opfer oder ein Selbstmord des Urwesens aufgefasst.<ref>Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2'', 1937, § 318: → Franz Rolf Schröder: 11, 93</ref> Einige Forscher vertreten deswegen in Anlehnung an das ''Puruşa-Lied'' die Auffassung, dass die Götter Ymir töteten, um eine rituelle Opfergabe darzubringen.<ref>Quellen bei Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27'', 2004, S. 250.</ref> Unabhängig davon steht hinter dem Bau der Welt aus den Teilen des Urwesens die alte Idee, dass Makrokosmos und Mikrokosmos einander entsprechen.<ref name="jv319" /><ref name="hu250" />
[[Kategorie:Wichtige, auch von der Anthroposophie geteilte und vertretene klassische, neue oder geänderte Theorie]]
 
[[Kategorie:Die Hierarchien und die Planeten|!]]
==== Weltentstehung aus dem Urmeer ====
[[Kategorie:AnthroWiki:Lesenswert]]
 
[[Kategorie:Glaube und Dogma]]
Es gibt einige Hinweise, dass die ''Vǫluspá'' von einer anderen Weltschöpfung als die Lieder ''Vafþrúðnismál'' und ''Grímnismál'' berichtet. Möglicherweise holten Burs Söhne die Erde aus den Tiefen des Ozeans an die Wasseroberfläche, auf der sie seitdem schwimmt. Das drückt die ''Vǫluspá'' zwar nicht eindeutig aus, doch sie deutet es an. Zudem würde diese Art der Weltschöpfung mit anderen eurasischen und nordamerikanischen Schöpfungsmythen übereinstimmen (Franz Rolf Schröder, Kurt Schier).<ref>Franz Rolf Schröder: ''Die Göttin des Urmeeres und ihr männlicher Partner.'' In: Helmut de Boor und Ingeborg Schröbler (Hrsg.): ''Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB). Band 1960, Heft 82.'' Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1960, S. 221–264 (S. 252 f.) – Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá'', 1963.</ref> Die Wasserkosmogonie der ''Vǫluspá'' ist in der Forschung umstritten. Sie wird von einigen namhaften Forschern bejaht,<ref>Neben Franz Rolf Schröder und Kurt Schier zum Beispiel Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2'', 1937, § 320, der aber nicht tiefer auf sie eingeht.</ref><ref name="be438" /><ref name="hu251" /> aber nicht von allen.<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 237 lehnt sie ab, da es nach seiner Meinung außerhalb der Vǫluspá keinen weiteren Hinweis auf eine Wasserschöpfung in der germanischen Mythologie gebe.</ref>
[[Kategorie:Hierarchien|!]]
 
Der deutlichste Hinweis wird in den Endzeit-Schilderungen der ''Vǫluspá'' ausgesprochen. Nachdem die große Schlacht zwischen den Göttern und ihren Gegnern geschlagen ist, in der die bestehende Weltordnung unterzugehen drohte, heißt es:
 
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: „Sér hon upp koma ǫðro sinni
: iorð ór ægi, iðiagrœna; […]“
:: − ''Vǫluspá'' 59<ref name="titus.uni-frankfurt.de">Lieder-Edda: Völuspá, 3–4. Textausgabe nach Titus Projekt, URL: http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/germ/anord/edda/edda.htm, aufgerufen am 4. Dezember 2009.</ref>
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: „Sie sieht ein zweites Mal aufsteigen
: die Erde aus dem Meer, die neu ergrünte; […]“
:: − Übersetzung von Arnulf Krause.<ref name="Edda. 2004" />
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Das setzt voraus, dass die Erde zuvor schon ein erstes Mal aus dem Wasser kam. Da aber kein Vers der ''Vǫluspá'' davon klar berichtet, könnte es vielleicht nur angedeutet worden sein. Eine entsprechende Stelle wäre in den Vorzeitmythen zu vermuten, da die Endzeit in den Mythen häufig die Vorzeit spiegelt.<ref>Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá'', 1963, S. 315.</ref> Dort gibt es tatsächlich ein paar dunkle Verse, mit denen man ansonsten nichts anzufangen weiß:
 
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: „Gap var ginnunga, […].
: Áðr Burs synir biǫðom um ypþo,
: þeir er miðgarð, mœran, scópo […]“
:: − ''Vǫluspá'' 3&nbsp;f.<ref name="titus.uni-frankfurt.de" />
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: „[Nichts war, nur der] Ginnungagap war, […].
: Bis Burs Söhne das Land hoben,
: sie, die Midgard, den mächtigen, schufen […]“
:: − Übersetzung nach Arnulf Krause.<ref name="Edda. 2004" />
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Daraus geht hervor, dass Burs Söhne Land aus dem Ginnungagap hoben, jedoch nicht, dass sie es aus dem Wasser holten, abgesehen davon, dass Snorri Sturluson in seiner ''Prosa Edda'' unter dem Ginnungagap zweifellos eine Schlucht und kein Meer verstand. Noch fragwürdiger wird die Wasserschöpfung dadurch, dass die ''Vǫluspá'' wenige Verse zuvor die Existenz Ymirs bezeugt: „Urzeit war es, als Ymir hauste“, wodurch der Eindruck entsteht, dass sie damit auf den Mythos der Weltentstehung aus Ymirs Körper anspielt. Auf der anderen Seite kann nicht erklärt werden, wozu Burs Söhne die Erde aus einem Graben zu heben hatten, wenn sie doch die Welt aus dem Körper Ymirs geschaffen hatten.
 
Diese Widersprüche lassen sich mit den zur Verfügung stehenden Quellen nicht auflösen. Es ist dabei zu bedenken, dass Schöpfungsmythen tausende Jahre zurückreichen können, sich im Laufe der Zeit durchaus verändern und sich mit konkurrierenden Schöpfungsmythen verbinden können.
 
Es ist gut möglich, dass Ymir zum Beispiel nicht zum ursprünglichen Traditionsgut der ''Vǫluspá'' gehörte, da es an der einzigen Stelle des Schöpfungsliedes, in der Ymir erwähnt wird, eine Überlieferungsalternative der ''Prosa-Edda'' gibt: „Urzeit war es, als nichts war“,<ref>Siehe Abschnitt: [[#Archaische Formeln|Archaische Formeln]]</ref> die besser zum Mythenkreis indogermanischer Völker passt. Genauso gut möglich ist, dass Ymir ursprünglich zur Schöpfungsgeschichte der ''Vǫluspá'' gehört, ohne dass seine Rolle darin näher bestimmt werden kann.
 
Das Verständnis von Snorri Sturluson, wonach Ginnungagap eine Schlucht sei, ist offenbar stark von der sprachlichen Bedeutung des Worts zu seiner mittelalterlichen Zeit geprägt. Diese Bedeutung muss nicht die Bedeutung sein, die der Ginnungagap ursprünglich hatte. Es fällt beispielsweise auf, dass in den Texten und Karten der hochmittelalterlichen bis neuzeitlichen nordischen [[Kosmographie]] der Ginnungagap ein Meeressund ist, der sozusagen den weltlichen Überrest des mythischen Ginnungagaps darstellt.<ref>Rudolf Simek: Altnordische Kosmographie. Ergänzungsband Nr. zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 1990, ISBN 3-11-012181-6, S. 188.</ref> Folgt man Jan de Vries Deutung, so bedeutet Ginnungagap ohnehin nicht Schlucht, sondern eine Leere, die mit magischen Kräften gefüllt ist. Im Vergleich mit den Schöpfungsmythen anderer Völker zeigt sich, dass Urleere und Urmeer miteinander austauschbare Begriffe für das Chaos sind.<ref name="ks310-312" /> Darüber hinaus wäre es unter den Mythen der Welt einmalig, dass die Götter die Erde aus einem Graben heben, wogegen es unzählige Mythen gibt, in denen die Erde aus der Tiefe eines Urmeers geholt wird,<ref name="ks310-312" /> vor allem im eurasisch-nordamerikanischen Raum, aber auch im ''Rigveda''<ref>Rigveda X, 129, 1</ref> und in babylonisch-akkadischen Mythen.
 
Die vielen Negationsformeln, was am Anfang in der Vorzeit alles nicht war, insbesondere die Formel, dass Himmel und Erde noch nicht waren, finden sich nicht nur in der germanischen Schöpfungsgeschichte, sondern insbesondere auch in eurasischen Wasserkosmogonien, die davon berichten, dass tauchende Wasservögel die Erde aus der Meerestiefe holen.<ref>Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá'', 1963, S. 314&nbsp;f. – Vergleiche auch Franz Rolf Schröder: ''Die Göttin des Urmeeres und ihr männlicher Partner.'' In: Helmut de Boor und Ingeborg Schröbler (Hrsg.): ''Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB). Band 1960, Heft 82.'' Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1960, S. 221–264 (S. 252&nbsp;f.)</ref> Die Tauchervögel sind wiederum selbst nur Helferfiguren eines [[Therianthropie|theriomorphen]] Schöpfergotts, der die Erde ursprünglich alleine aus der Tiefe hob.<ref>[[Edith Marold]]: ''Kosmogonische Mythen in der Húsdrápa des Úlfr Uggason.'' In: ''International Scandinavian and Medieval Studies in Memory of Gerd Wolfgang Weber.'' Triest, 2000, S. 281–292 (S. 285) mit Verweis auf [[Mircea Eliade]].</ref> Demnach werden die drei Götter, Burs Sohne, wohl in älterer Zeit tierische Helferfiguren des Schöpfergotts gewesen sein.<ref>Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá'', 1963, S. 328–330.</ref>
 
Welche Tiergestalt sie ursprünglich hatten, ist in der nordischen Mythologie nicht mehr erkennbar. Die wenigen Spuren, die es in den Schöpfungsmythen gibt, führen zu Schwänen oder Seehunden.<ref>Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá'', 1963, S. 328–330 nur andeutend, ausführlich dazu: Franz Rolf Schröder: ''Die Göttin des Urmeeres und ihr männlicher Partner.'' In: Helmut de Boor und Ingeborg Schröbler (Hrsg.): ''Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB). Band 1960, Heft 82.'' Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1960, S. 221–264 (S. 252&nbsp;ff.)</ref><ref>Edith Marold: ''Kosmogonische Mythen in der Húsdrápa des Úlfr Uggason.'' In: ''International Scandinavian and Medieval Studies in Memory of Gerd Wolfgang Weber.'' Triest, 2000, S. 281–292 (S. 285).</ref>
 
Schwäne kommen in Frage, weil sie gemäß ''Prosa-Edda'' in der Quelle der Urðr am Weltenbaum schwimmen. In der Forschung wird der Name Hœnirs zum Teil als Schwan gedeutet.
 
Die fragmentarisch erhaltene [[Húsdrápa]] des Skalden [[Úlfr Uggason]] überliefert hingegen eine Mythosscherbe, in der die Götter Heimdallr und Loki in Seehundgestalt<ref>''Prosa-Edda, Skáldskaparmál'' 8</ref> miteinander kämpfen:
 
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: „Ráðgenginn bregðr ragna
: rein at Singasteini
: frægr við firnaslægjan
: Fárbauta mög vári;
: móðöflugr ræðr mæðra
: mögr hafnýra fögru,
: kynni ek, áðr ok einnar
: átta, mærðar þáttum.“
:: − <span style="font-variant:small-caps">Úlfr Uggason</span>: ''Húsdrápa''<ref>Úlfr Uggason: ''Húsdrápa'', Strophe ?, überliefert in Snorri Sturluson: ''Prosa-Edda, [[Skáldskaparmál]]'' 18</ref>
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: „Der ratkluge, berühmte Wächter der Götter [Heimdallr]
: nimmt beim [[Singasteinn]] das Land
: vom überaus schlauen
: Sohn des [[Farbauti]] [Loki] weg.
: Voll von Mut herrscht der Sohn von acht und einer Mutter [Heimdallr]
: über die schöne Meerniere;
: ich verkünde (das) zuvor
: in den Abschnitten des Lobgedichts.“
:: − Übersetzung von [[Edith Marold]].<ref>Edith Marold: ''Kosmogonische Mythen in der Húsdrápa des Úlfr Uggason.'' In: ''International Scandinavian and Medieval Studies in Memory of Gerd Wolfgang Weber.'' Triest, 2000, S. 281–292 (S. 284).</ref>
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Auch diese Strophe ist dunkel. Es gibt eine Fülle von Deutungen und Übersetzungsvorschlägen zu ihr, da sie sprachlich und inhaltlich schwer zu verstehen ist. Man kann in dem angerissenen Mythos einen weiteren Erdentstehungsmythos aus dem Wasser sehen,<ref name="hu251" /> oder sogar eine Ausformung der Wasserschöpfung der ''Vǫluspá'', wenn man ihn so versteht, dass Loki beim Hochholen der Erde vom Meeresgrund ein Stück Erde für sich behalten wollte, das Heimdallr ihm im Kampf entwand.<ref>Edith Marold: ''Kosmogonische Mythen in der Húsdrápa des Úlfr Uggason.'' In: ''International Scandinavian and Medieval Studies in Memory of Gerd Wolfgang Weber.'' Triest, 2000, S. 281–292 (S. 284&nbsp;f.).</ref> Auch hierzu gibt es Parallelen in anderen Schöpfungsgeschichten. Der [[Singasteinn]] könnte dabei der Ort des Kampfes sein, aber auch das Stück Erde, um das gekämpft wurde. Jedoch krankt die Deutung daran, dass sie keinen Anhaltspunkt dafür hat, ob es in diesem Mythos eine dritte Gottheit gab, damit er als Fortsetzung des Mythos von der Erdhebung durch die Dreiheit der Söhne Burs gelten kann.<ref>Edith Marold: ''Kosmogonische Mythen in der Húsdrápa des Úlfr Uggason.'' In: ''International Scandinavian and Medieval Studies in Memory of Gerd Wolfgang Weber.'' Triest, 2000, S. 281–292 (S. 285).</ref>
 
[[Datei:Yggdrasil.jpg|miniatur|Die Welt mit Yggdrasil, dem Weltenbaum, in der Mitte; Illustration von [[Oluf Olufsen Bagge]], 1847]]
 
In allen Typen von Wasserkosmogonien wächst ein Baum in der Mitte des Urmeers, der sowohl Zentrum der Welt als auch zugleich die Gesamtheit der Welt ist.<ref name="ks332f" /> Vergleichbar dazu ist der Weltenbaum, von dessen Fuß alle Flüsse der Welt ausgehen. Das Meer kann hier ein See oder auch nur eine Quelle sein. Dies entspricht den Beschreibungen des germanischen Weltenbaums Yggdrasil. Auch hierfür gibt es einen dunklen Hinweis in der ''Vǫluspá'':
 
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: „Ec man iǫtna, ár um borna,
: þá er forðom mic fœdda hǫfðo;
: nío man ec heima, nío íviði,
: miǫtvið mœran fyr mold neðan.“
:: − ''Vǫluspá'' 2<ref name="titus.uni-frankfurt.de" />
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: „Ich erinnere mich der Riesen, der ehedem geborenen,
: die mich einst aufgezogen haben;
: neun Welten gedenk ich, neun Ästen,
: des herrlichen Weltbaums unter der Erde.“
:: − Übersetzung von Arnulf Krause.<ref name="Edda. 2004" />
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Man kann die Stelle durchaus so lesen, dass der Weltenbaum in der Vorzeit in einer Erde keimte, die sich damals noch unter Wasser befand.<ref name="ks332f" /> Im gleichen Zusammenhang ist auch die Quelle am Weltenbaum zu sehen: die Urðrquelle, die Quelle Hvergelmir, von der alle Flüsse ins Meer münden, und auch die Élivagár sind letztlich alle Teil der Wasserkosmogonie.<ref name="ks332f" /> Zu diesem Mythenkreis gehört auch die Schöpfung der ersten Menschen aus Hölzern, da dieser Mythos im selben Erzählstrom der ''Vǫluspá'' steht.<ref name="hu251" />
 
Die Mythen der Wasserkosmogonie sind sehr alt und stammen wohl noch aus der vorindogermanischen Zeit von Nomaden- oder Jägerkulturen.<ref>Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá'', 1963, S. 326.</ref> Offensichtlich konnte der Dichter der ''Vǫluspá'' noch auf ein sehr altes Überlieferungsmaterial zugreifen, das er recht getreu wiedergab. Snorri Sturluson konnte offenbar mit einer Wasserkosmogonie nichts mehr anfangen, was der Umstand belegt, dass er genau jene Stellen der ''Vǫluspá'' nicht übernommen hat, obwohl sie das Werk ist, auf das er sich am meisten stützt.
 
==== Der Untergang der Vorzeit-Riesen ====
 
Aus Ymirs Blut entstand das Meer. Doch nach der ''Prosa-Edda'' strömte aus Ymirs Wunden so viel Blut, dass die Vorzeitriesen dabei ertranken. Nur der Riese [[Bergelmir]] konnte sich mit seiner Frau retten, da er in einem ''lúðr'' Zuflucht fand.<ref>''Prosa-Edda: Gylfaginning'' 7</ref> Snorri Sturluson zitiert dabei auch Verse aus dem ''Vafþrúðnismál'', die jedoch nur belegen, dass Bergelmir ein Vorzeitriese war und auf das besagte ''lúðr'' gelegt wurde, ohne dass das Lied einen Bezug zu einer Sintflut herstellt.<ref>''Lieder-Edda: Vafþrúðnismál'' 35</ref>
 
In der Forschung werden erhebliche Bedenken erhoben, die Sintflut der ''Prosa-Edda'' als ursprünglichen Teil der germanischen Schöpfungsgeschichte anzuerkennen. Weder setzt das Lied ''Vafþrúðnismál'' eine Sintflut voraus, noch gibt es andere Hinweise auf eine Sintflut in der germanischen Mythologie, so dass christlicher Einfluss durch die biblische Sintflut {{Bibel|Gen|7|1–24|LUT}} gut möglich ist. Auch kann der ''lúðr'', auf den Bergelmir gelegt wird, nicht genau bestimmt werden.<ref>Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá'', 1963, S. 306.</ref> Altnordisch ''lúðr'' kann ‚hohler Stamm, Gefäß, Mahlkasten des Mühlsteins, Wiege, Schiff oder Kriegshorn’ bedeuten,<ref>Gerhard Köbler: ''Altnordisches Wörterbuch.'' 2. Auflage. 2003, S. 22 – Vergleiche dazu Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá'', 1963, S. 106, Fußnote 15 – Vergleiche auch Walter Baetke: ''Wörterbuch der altnordischen Prosaliteratur.'' 1. & 2. Auflage. In digitaler Fassung, Greifswald 2006, S. 392, der nur die Bedeutungen ‚Unterlage des Mühlsteins’ und ‚Kriegshorn’ angibt.</ref> ohne dass man Anhaltspunkte dafür hat, welche Bedeutung im Lied gemeint ist.
 
Jan de Vries ging davon aus, dass der Christ Snorri Sturluson einen Sintflutmythos in seiner heimischen Mythologie erwartete und das ''Vafþrúðnismál'' entsprechend verstand. Deswegen deutete er ''lúðr'' im Sinne von ‚Wiege’ als Bild für Bergelmir als Stammvater des Reifriesengeschlechts.<ref name="jv321" />
 
Jedoch kennen viele Schöpfungsmythen in der ganzen Welt das Motiv, dass die Urwelt durch eine Katastrophe vernichtet wird. In ¾ aller Fälle durch eine Sintflut, sei es aus Unzufriedenheit des Schöpfers mit seinem Werk oder weil die Geschöpfe gegen ihren Schöpfer aufbegehren oder auch grundlos.<ref>Ferdinand Hermann: Symbolik in den Religionen der Naturvölker. Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart 1961, S. 133&nbsp;f. Viele dieser Sintflutmythen gehören nach Hermann zu Wasserkosmogonien.</ref> Deswegen darf trotz der Nähe zur biblischen Sintflut nicht zwingend auf christliches Lehngut der ''Prosa-Edda'' geschlossen werden.<ref name="de287" /> Nach [[Gabriel Turville-Petre]] gibt es auch bedeutende Unterschiede zwischen beiden Fluten. Die germanische Sintflut entstand noch vor der Weltschöpfung und hängt mit ihr unmittelbar zusammen, die biblische hingegen fand erst danach statt. Die germanische Sintflut vernichtet alle Riesen, die biblische alle Menschen. Und während die eine aus dem Blut Ymirs hervorging, so ging die andere aus Wasser hervor.<ref>Åke Viktor Ström: ''Germanische und Baltische Religion'', 1975, S. 245&nbsp;f.: → E. O. Gabriel Turville-Petre: ''Professor Dumézil and the Literature of Iceland.'' In: ''Hommages à Georges Dumézil. Revue d’études latines''; Brüssel 1960, S. 209–214.</ref>
 
In diesen Sintflutmythen ist es auch nicht ungewöhnlich, dass Überlebende ungewöhnliche Gegenstände zu ihrer Errettung benutzen. So deutet man ''lúðr'' als ‚Mahlkasten‘<ref>So die gängigen Übersetzungen: [[Arnulf Krause]]: ''Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda (Übersetzung).'' Reclam Verlag, 2004, S. 81 − [[Arthur Häny]]: ''Die Edda. Götter- und Heldenlieder der Germanen (Übersetzung).'' 3. Auflage. Manesse Verlag, Zürich 1989 (Erstauflage 1987), S. 83 − [[Felix Genzmer (Rechtswissenschaftler)|Felix Genzmer]]: ''Die Edda (Übersetzung).'' Sonderdruck nach der Erstauflage von 1981, Diederichs Verlag, München 2008, ISBN 978-3-7205-2759-0, S. 49.</ref> oder auch nur profan als ‚Floß‘.<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 497.</ref>
 
Letzten Endes kann aber auf Grund der Quellenlage nicht entschieden werden, ob die germanische Sintflutgeschichte eine Annäherung der ''Prosa-Edda'' an das Christentum darstellt oder ob sie auf einer authentischen germanischen Überlieferung beruht.<ref name="hu250" />
 
==== Die Ordnung der Welt ====
 
Nach der Schöpfung schien der ''Vǫluspá'' zufolge die Sonne auf die Steine der Erde und ließ das erste Gras (''laukr'', eigentlich ‚Lauch‘) wachsen. Aber Sonne, Mond und Sterne wussten noch nicht, wohin sie gehörten. So gaben die Götter gemeinsam der Nacht und den Tageszeiten ihre Namen, damit die Zeit gezählt werden konnte.<ref>''Lieder-Edda: Vǫluspá 6''</ref> Nicht ausgesprochen, aber offensichtlich vorausgesetzt wird, dass die Götter den Gestirnen ihre Bahnen zuwiesen.<ref>Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27'', 2004, S. 252.</ref>
 
Die ''Prosa-Edda'' geht nicht auf die Verleihung der Namen ein, drückt aber aus, dass die Götter die Laufbahnen der Gestirne bestimmten und dass dadurch die Jahreszählung geordnet wurde. Darüber hinaus beschreibt sie, wie die Götter ihr gestalterisches Werk fortsetzten. Die kreisrunde Erde war demnach ringsum vom Meer umgeben, den Riesen wiesen sie als Wohnort die Strände zu. Dann schufen sie einen geschützten Ort in der Mitte der Erde, Midgard (Miðgarðr) genannt, den sie später den Menschen zuteilten. Für sich selbst bauten sie eine Burg darüber namens [[Asgard (Mythologie)|Ásgarðr]]. Beide Welten verbanden sie mit der Regenbogenbrücke [[Bifröst (Mythologie)|Bifrǫst]].<ref>''Prosa-Edda: Gylfaginning 8&nbsp;f., 13''</ref>
 
Von diesen Mythen ist lediglich der Begriff Midgard ‚die mittlere Umfriedung‘<ref name="be438" /> sicher ein Teil der urgermanischen Vorstellungswelt. Nur dieses Wort hat Entsprechungen in anderen germanischen Sprachen.
 
=== Das Goldzeitalter ===
 
Als die Götter ihr Werk vollendet hatten, trafen sie sich laut ''Vǫluspá'' auf ihrem Versammlungsort Idafeld ([[Idafeld|Iðawǫll]]). Sie bauten dort Altar, Tempel (''hǫrgr ok hof hátimbráðr'', so aber nur in der ''Codex-Regius''-Fassung überliefert) und eine Schmiede, in der sie Werkzeuge herstellten. Sie waren unbeschwert, hatten viel Gold und vertrieben sich ihre Zeit beim Brettspiel, bis ihnen drei Riesentöchter einen Besuch abstatteten. Daraufhin nahmen die Götter den Schöpfungsprozess wieder auf, und schufen das [[Zwerg (Mythologie)|Volk der Zwerge]].<ref>''Lieder-Edda: Vǫluspá'' 6–8</ref> Die ''Prosa-Edda'' wiederholt viele der Angaben der ''Vǫluspá'' und führt sie weiter aus. Sie nennt diese Zeit das ''gullaldr'' ‚[[Goldenes Zeitalter|Goldzeitalter]]‘. Abweichend erklärt sie, dass die Götter als erstes einen ''hof'' ‚Hof‘ für ihre zwölf Sitze bauten und für die Göttinnen einen ''hǫrgr'' ‚Tempel‘ namens [[Wingolf]]. Als dann die Frauen aus Riesenheim kamen und alles verdarben, schufen die Götter erst die Gesetze und dann die Zwerge.<ref name="pe14" />
 
Dieser rätselhafte Zeitabschnitt der germanischen Schöpfungsgeschichte ist nur durch die Edda-Literatur belegt. Auf seine Stellung in den Schöpfungsmythen und seine Authentizität geht die jüngere Forschung in den Zusammenfassungen zur Schöpfungsgeschichte nicht oder nur am Rande ein. In der älteren Forschung diskutiert beispielsweise Jakob Grimm über Zusammenhänge zur [[Weltalter der Antike|Lehre von den Weltzeitaltern]] in der griechischen Mythologie<ref>Jacob Grimm: ''Deutsche Mythologie.'' 3 Bände. 1875–1878. (Neuauflage: Marix, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-86539-143-8, Band 1, S. 581.)</ref> und Karl Joseph Simrock interpretiert das Goldzeitalter als zeitlose und goldlose Phase der Unschuld, die mit der Entdeckung des materiellen Goldes endet, da dadurch die Gier nach dem Metall in die Welt kommt und das Wirken der Zeit einsetzt.<ref>Karl Simrock: ''<span dir="ltr">Handbuch der Deutschen Mythologie mit Einschluss der nordischen.</span>'' Verlag Adolf Marcus, Bonn 1855, S. 52–54, [http://books.google.de/books?id=iSZbAAAAQAAJ&printsec=frontcover&dq=simrock+handbuch+der+deutschen+mythologie&hl=de&ei=N8mFTcXDN8OaOoP1iYAJ&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1&ved=0CDYQ6AEwAA#v=onepage&q=goldene%20zeit&f=false Online].</ref> Beide stellen das nordische Goldzeitalter zum verlorenen Paradies der Vorzeit.<ref>Jacob Grimm: ''Deutsche Mythologie'', 3 Bände. 1875–1878. (Neuauflage: Marix, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-86539-143-8, Band 1, S. 612 f.); Karl Simrock: ''<span dir="ltr">Handbuch der Deutschen Mythologie mit Einschluss der nordischen.</span>'' Verlag Adolf Marcus, Bonn 1855, S. 173.</ref>
 
Die Vorstellung eines goldenen Zeitalters als eines verlorenen vorzeitlichen Paradieszustandes gehört zu vielen Schöpfungsmythen der Welt. In der Regel leben in diesen Mythen die Wesen jener Zeit ewig, da weder Krankheit, Zwietracht noch Tod bekannt sind. Meist haben sie nicht zu arbeiten und doch reichlich zu essen. Dieser Zustand währt solange, bis die Wesen des goldenen Zeitalters ihr Ende durch Vergehen oder das Auflehnen gegen den Willen des Schöpfers herbeiführen. Im Anschluss daran werden die Wesen sterblich und somit tritt der Tod in die Schöpfung.<ref>Ferdinand Hermann: Symbolik in den Religionen der Naturvölker. Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart 1961, S. 138&nbsp;f.</ref>
 
==== Symbolik der Kulturerrungenschaften in der Vǫluspá ====
 
In der Darstellung der ''Vǫluspá'' wird besonders herausgehoben, dass die Götterwelt bestimmte Kulturerrungenschaften der Menschenwelt spiegelt: die Verehrung höherer Mächte, das [[Thing]], das Schmiedehandwerk, das Spiel in Form des Brettspiels und der Bezug zu Gold als etwas höchst Wertvollem. Da die Götterwelt jener der Menschen im Mythos zeitlich vorangeht, wird dadurch ausgedrückt, dass die Götter die Stifter der Kultur sind.
 
===== Schmiede =====
 
Schmiede litten in alten Zeiten ein hohes Ansehen wegen ihres Wissens um die Metallbearbeitung, das den Schmied und seine Kunst aber auch übernatürlich wirken ließ. Sie gelten allgemein als Hüter des Feuers, doch wurde in der altnordischen Literatur der Schmied auch oft als Begriff für Schöpfer gebraucht, ''schmieden'' und ''erschaffen'' konnten synonym verwendet werden.<ref>Jón Hnefill Aðalsteinsson: ''Schmied, Schmiedehandwerk, Schmiedewerkzeuge.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Bd. 27.'' 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2004, ISBN 3-11-018116-9, S. 194&nbsp;f.</ref> Diese Vorstellung wurde in späterer Zeit sogar auch auf [[Jesus Christus|Christus]] übertragen, der in einem isländischen Psalm als Himmelsschmied bezeichnet wird. Die ''Vǫluspá'' stellt somit die Götter als Schmiede dar, weil sie die Welt erschaffen hatten.
 
===== Brettspiel =====
 
[[Datei:Æsir games by Frølich.jpg|miniatur|„Sie pflogen heiter im Hof des Brettspiels, nichts aus Golde den Göttern fehlte.“ (Vǫluspá 8, Genzmer); Illustration von Lorenz Frølich, 1895]]
 
Welches Brettspiel in der ''Vǫluspá'' gemeint ist, kann man nicht sagen. Das Lied nennt lediglich das Material, aus dem die ''teflðu'' „Spielbretter“ waren, nämlich Gold. Was gespielt wurde, bleibt letztlich offen.
 
Vom Früh- bis zum Hochmittelalter lassen sich anhand archäologischer Funde in Verbindung mit spärlichen schriftlichen Zeugnissen zwei Arten von Brettspielen im (nord-)germanischen Raum unterscheiden. Zum einen ein Glücksspiel namens [[Alea (Spiel)|Alea]], das ab dem 4. Jahrhundert aus dem [[Ludus Duodecim Scriptorum]] entstanden war, und als Vorläufer des [[Backgammon]] gilt. Zum anderen das Strategiespiel [[Hnefatafl]], wohl ein Nachfolger des [[Ludus Latrunculorum]], bei dem beide Spieler über eine unterschiedliche Anzahl an Spielfiguren verfügten, und die zahlenmäßig schwächere Partei den sogenannten Königsstein zu verteidigen hatte. Dieses Spiel wurde zwischen dem 10. bis 12. Jahrhundert durch das [[Schachspiel]] verdrängt. Beide Spiele wurden als Grabbeilagen gefunden, das Strategiespiel stand in höherem Ansehen.<ref>Ingo Gabriel: ''Spiel und Spielzeug: Brettspiel.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der germanischen Altertumskunde.'' Band 29, 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2005, ISBN 3-11-018360-9, S. 358–360.</ref>
 
Jan de Vries verstand das ''Vǫluspá''-Brettspiel als rituelles Strategiespiel, das er sich unter Hinweis auf Spielaussagen der isländischen ''[[Hervarar saga ok Heiðreks konungs|Hervarar-Saga]]'' als Kampf zwischen Ordnung und Chaos dachte, ein Abbild des Kampfes, der sich ohne Unterlass in der Welt wiederhole.<ref>Vergleiche Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2'', 1937, § 136</ref> Im Gegensatz dazu entscheidet sich Hilda R. Ellis-Davidson dafür, in dem Brettspiel der ''Vǫluspá'' eher das Glücksspiel mit den Würfeln zu sehen, weil es ein Ausdruck der Unwägbarkeiten der Schicksalsmacht sei, die nach ihrer Ansicht nur eine Strophe später die Götter vom Spielen abbringen.<ref name="da163" /> Man ordnete das Spiel auch einem indogermanischen Kontext zu, in dem man es mit dem Spiel im indischen [[Rajasuya]] verglich und es entsprechend als ordnende, schicksalsbestimmende Macht auffasste.<ref>Siehe Åke Viktor Ström: ''Indogermanisches in der Völuspá.'' In: ''Numen, Vol. 14, No. 3'' 1967, S. 167–208 (S. 177), der selbst wieder verweist, nämlich auf L. Renou, J. Filliozat: ''L'Inde classique'', I S. 357 und Jan Gonda: ''Die Religionen Indiens.'' I S. 140, 166.</ref>
 
Am Ende ist es vielleicht auch nicht wichtig, welches Spiel die Götter spielten, sondern lediglich, dass sie ''spielten''. Denn solange die Götter spielen und sich ihrem unschuldigen Vergnügen hingeben können, herrscht Friede und Eintracht.<ref>Åke Viktor Ström: ''Indogermanisches in der Völuspá.'' In: ''Numen, Vol. 14, No. 3'' 1967, S. 167–208 (S. 177)</ref>
 
===== Altar und Tempel =====
 
Die Götter errichten auch einen ''hǫrgr hátimbráðr'' ‚hochgezimmerte(r) Steinaltar, Opferstätte‘ und einen ''hof'' ‚Tempel‘. ''Hǫrgr'' ist der Name für einen germanischen Opferaltar, der als solcher archäologisch schon seit der [[Jungsteinzeit]] belegt ist. Das Wort dürfte ursprünglich nur ‚heilige Stätte‘ bedeutet haben. Ein ''hǫrgr hátimbráðr'' deutet somit auf eine Holzkonstruktion auf oder um einen steinernen Altar.<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 200.</ref> Tempel sind aber selbst in spätheidnischer Zeit so gut wie nicht in der germanischen Welt bezeugt.
 
Warum ausgerechnet die Götter Altar und Tempel errichten, ist ein Rätsel. Aus der ''Vǫluspá'' ergibt sich zwar im Rückschlussverfahren, dass es die Schicksalsmacht gab, der die Götter unterworfen waren ''(→ siehe Abschnitt: [[#Die Schicksalsmacht|Die Schicksalsmacht]])'', doch bleibt mangels anderer Hinweise ein Zusammenhang zur heiligen Stätte der Götter eine bloße Vermutung.
 
==== Das Ende des Goldzeitalters ====
 
Das Goldzeitalter endet, als drei Frauen die Götter aufsuchen. Wie sie heißen und was genau geschieht, bleibt unausgesprochen. Die ''Vǫluspá'' beschreibt sie als ''ámátkar mjǫk'' ‚sehr abscheuliche‘ ''þursa meyjar'' ‚[[Thursen]]-Mädchen‘ aus ''[[Jötunheim|jǫtunheimum]]'' ‚Riesenheim‘. Die ''Prosa-Edda'' nennt sie die ''kvinnanna'' ‚Frauen‘ aus Riesenheim, die alles verdarben. Unmittelbar darauf (als notwendige Maßnahme?) nehmen die Götter den Schöpfungsprozess wieder auf, und erschaffen die Zwerge und danach die Menschen.
 
Somit handelt es sich um eine Dreiheit von Jungfrauen, die entweder sehr hässlich oder übermächtig,<ref name="da163" /> also mächtiger als die Götter, sind. Auch die Charakterisierung als Thursen hat Aussagekraft. In der Edda-Literatur werden die Urriesen ausnahmslos als ''jǫtunn'' bezeichnet. Das ist eines von mehreren nordischen Wörtern für ‚Riese‘, aber es ist das einzige ohne schlechten Beigeschmack. Im Gegensatz dazu steht Thurse für einen Riesen, der den Göttern (und damit den Menschen) feindlich gesinnt ist und seine Kräfte und seinen Zauber zerstörerisch gegen sie einsetzt.
 
Um einen Angriff scheint es sich nicht zu handeln, jedoch drückt schon allein die Wortwahl der ''Vǫluspá'' eine Absicht der drei Frauen gegen die Götter aus, die den Frieden der Götterwelt zerstörte. Man hat gemutmaßt, dass die drei Jungfrauen die Gier nach Gold und damit Zwist und Hader in die Welt brachten und bezieht sich dabei auch auf eine Parallele im iranischen Bundahischn:<ref>Åke Viktor Ström: ''Indogermanisches in der Völuspá.'' In: ''Numen, Vol. 14, No. 3'' 1967, S. 167–208 (S. 177, 184) Arthur Häny: ''Die Edda. Götter- und Heldenlieder der Germanen (Übersetzung).'' 3. Auflage. Manesse Verlag, Zürich 1989 (Erstauflage 1987), ISBN 3-7175-1730-9 , S. 543, Anmerkung Nr. 7</ref>
 
{{Zitat|[Mitten im göttlichen Frieden kommen Verführerinnen und eine von ihnen, Jahi, spricht:] Erhebe dich, Vater, denn wir wollen jenen Streit beginnen, durch den [[Ahura Mazda|Ohrmazd]] und die Amahrspanden in die Enge getrieben werden und Unheil haben sollen!|Quelle=''Bundahischn'' 4:2}}
 
Man kann aber aus dem Textzusammenhang der ''Vǫluspá'' heraus in ihnen auch die drei [[Nornen]] sehen ''(→ siehe Abschnitt: [[#Die Schicksalsmacht|Die Schicksalsmacht]])''.<ref name="da163" /> Mangels anderer Hinweise bleiben die Deutungen Spekulation.
 
=== Die Erschaffung der Zwerge ===
 
→ ''Siehe auch: [[Zwerg (Mythologie)|Zwerg]] und [[Dvergatal]]''
 
[[Datei:Singular dwarf by Frølich.jpg|miniatur|hochkant|Ein Zwerg; Illustration von Lorenz Frølich, 1895]]
 
Nach der ''Vǫluspá'' berieten sich die Götter darüber, wer das Volk der Zwerge aus dem Blute und den Knochen Ymirs erschaffen solle. Sie schufen sie in Menschengestalt ''(mannlíkun)'', Zwerge aus Erde ''(iǫrð)'' wie der zweitgeschaffene Zwerg [[Durin]]n bemerkte. Wer von den Göttern es schlussendlich tat, verschweigt die ''Vǫluspá''.<ref>''Lieder-Edda: Vǫluspá'' 9&nbsp;f.</ref> Die ''Prosa-Edda'' zitiert einen Teil jener ''Vǫluspá''-Stelle, liefert aber eine ausführlichere und auch etwas andere Version. Danach waren die Zwerge als erste im Fleisch Ymirs, lebendig geworden und lebten als Maden. Erst nach dem Ratschluss der Götter wurden ihnen Menschengestalt und Geist verliehen und als ihr Aufenthaltsort das Erdinnere und die Felsen bestimmt.<ref name="pe14" />
 
Welche Bedeutung den Zwergen in der germanischen Schöpfungsgeschichte zukam, wird in den Zusammenschauen der jüngeren Forschung zur Schöpfungsgeschichte meist nicht erwähnt. Nach einer Meinung beruht der Erschaffungsmythos der Zwerge in der ''Vǫluspá'' lediglich auf der Fantasie des Dichters und nicht auf volkstümlichen Anschauungen.<ref name="rslex505" /> Immerhin gelten sie jedoch landläufig wie die Riesen als Ureinwohner des Landes (zum Beispiel im Schöpfungsmythos des [[Straßburger Heldenbuch]]s).<ref name="kb599" /> Ihr Kennzeichen ist, dass sie im Erdinneren leben und somit als Erd- beziehungsweise [[Berggeist]]er angesehen werden können. Das Wort ''Zwerg'' weiß man nicht zu deuten, man bringt es mit indogermanischen Wörtern in Verbindung, die auf ‚Trugwesen‘ oder ‚schädigendes Wesen‘ deuten.<ref name="rslex505" /><ref name="kb599" /> Die böse Gesinnung der Zwerge war ein urtümlicher Zug ihres Wesens, der sich in der mittelalterlichen Dichtung verlor und auf einer Verwechslung mit den [[Elfen|Alben]] beruhen könnte.<ref>Karl Christoph Berger: ''Zwerge.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der germanischen Altertumskunde – Bd. 34.'' 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2007, ISBN 978-3-11-018784-7, S. 599&nbsp;f.</ref> Teilweise wird in der Forschung vertreten, dass die Zwerge Reste der germanischen [[Ahnenverehrung]] darstellen. Obwohl die Überlieferungen Bestandteile eines Totenglaubens enthalten, ist die Deutung jedoch umstritten.<ref name="kb599" /><ref>Rudolf Simek: Totenglaube und Totenbrauch. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der germanischen Altertumskunde – Bd. 31.'' 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2006, ISBN 3-11-018386-2, S. 81 sagt, dass die Verbindung zwischen Zwerg und Ahnenverehrung sehr fraglich sei. – Während Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 505 sich eher dafür ausspricht, eine Verbindung zwischen Zwergen und Totendämonen anzuerkennen, als eine Verbindung zwischen Zwergen und Naturgeistern (eine etwaige Vermischung beider Vorstellungen einkalkulierend).</ref> Einen Zusammenhang zwischen Tod und Zwerg legen aber auch mehrere Zwergnamen der ''Vǫluspá'' im sogenannten [[Dvergatal]] nahe. Der Gedanke ist nicht ganz fernliegend, da die Germanen ihre Toten zum Teil in Sippengräbern bestatteten, die die Form eines Berges nachahmten ([[Grabhügel|Totenhügel]]).<ref name="Derolez 277" /> Ebenso umstritten ist in der Forschung, ob die Zwerge einen Beitrag zur Erschaffung der Menschen geleistet haben, in dem sie die Menschengestalten formten, die die Götter dann belebten.<ref>Vergleiche die knappe Darstellung dieser Forschungsmeinung bei Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27'', 2004, S. 254: → Gro Steinsland: ''Ask og Embla – fri fantasi eller gammel tradisjon? Om et mulig imago dei-motiv i Vǫluspás skapelsesmyte.'' In: ''Sagnaheimur (Studies in Honour of Hermann Pálsson on his 80th birthday, 26. May 2001).'' Wien 2001, S. 247–262. – Wolfgang Golther: ''Handbuch der germanischen Mythologie.'' Hirzel, Leipzig 1895. Neuauflage: Marix, Wiesbaden 2004, ISBN 3-937715-38-X, S. 181.</ref>
 
=== Die Entstehung der Menschen ===
 
Aus heidnisch-germanischer Zeit sind zwei verschiedene mythische Modelle überliefert, die die Herkunft des Menschengeschlechts erklären. Im einen Fall ist der Mensch ein schöpferisches Werk der Götter ([[Anthropogonie]]). Im anderen Fall stammen die Menschen einer bestimmten Volksgruppe von einem gemeinsamen göttlichen oder vergöttlichten Ahnen ab ([[Ethnogonie]]), so dass diese Abstammungsmythen zugleich auch Mythen von der Entstehung der Menschen beinhalten.<ref>Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27'', 2004, S. 253.</ref>
 
==== Abstammungsmythen ====
===== Tuisto, Mannus und seine drei Söhne =====
 
Stammväter der Germanen sind laut Tacitus Tuisto ''(→ siehe Abschnitt: [[#Die Entstehung des ersten Wesens|Die Entstehung des ersten Wesens]])'' und dessen Sohn [[Mannus (Gott)|Mannus]].
 
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: „Celebrant […] Tuistonem, deum terra editum,
: ei filium Mannum, originem gentis conditoremque,
: Manno tres filios assignant, e quorum nominibus
: proximi Oceano Ingaevones, medii Herminones, ceteri Istaevones vocentur.“
:: − <span style="font-variant:small-caps">Tacitus</span>: ''Germania'' 2,3
|
: „[…] feiern die Germanen Tuisto, einen erdentsprossenen Gott.
: Ihm schreiben sie einen Sohn Mannus als Urvater und Gründer ihres Volkes zu,
: dem Mannus wiederum drei Söhne; nach deren Namen, heißt es,
: nennen sie die Stämme an der Meeresküste Ingävonen, die in der Mitte Herminonen und die übrigen Istävonen.“
::&nbsp;
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|}
 
[[Datei:Mannus söner.jpg|miniatur|Die drei Söhne des Mannus; Zeichnung von [[Carl Larsson]], 1893]]
 
Mannus wird im Folgenden zwar als Gott ''(deo)'' bezeichnet, doch dürfte das auf eine Interpretation von Tacitus zurückgehen, da der Name Mannus ‚Mensch‘ bedeutet, was ihn als Menschen ausweist.<ref>Gerhard Perl: ''Tacitus – Germania'', 1990, S. 131: ‚Mensch‘ ist die ursprüngliche Bedeutung des althochdeutschen Wortes ''man'' ‚Mann, Mensch‘, vergleiche englisch ''woman''</ref> Sein Name deutet des Weiteren darauf hin, dass die Germanen nur sich selbst (wie viele andere Völker auch) als Menschen betrachteten.<ref name="pe131" /> Die Vorstellung der ethnischen Zusammengehörigkeit aufgrund gemeinsamer genealogischer Verwandtschaft findet man auch zum Beispiel bei den Griechen.<ref name="pe131" />
 
Wie Tuisto geht Mannus als mythische Gestalt sicher auf indogermanische Zeit zurück.<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 264.</ref> In Indien gelten die Menschen als Nachkommen des [[Manu (Hinduismus)|Manu]], [[Sanskrit]] für ‚Mann, Mensch’.<ref>''Rigveda'' I, 68, 7</ref> Er war Urkönig und Herausgeber des Gesetzbuches [[Manusmriti]]. Die iranische Mythologie gebraucht an einer Stelle die Wendung ''Manuš. ciθra'' ‚von Manuš abstammend’ und bezeugt damit, dass einst ein Stammvater namens [[Manu (iranische Mythologie)|Manu]] eine große Bedeutung hatte. Die [[Lyder]] führten nach [[Herodot]] ihre Abstammung auf den Urahn [[Manes (Lydien)|Mānes]] zurück, der ihr erster König war.<ref>Herodot: ''Historien'', [http://www.perseus.tufts.edu/cgi-bin/ptext?doc=Perseus%3Atext%3A1999.01.0126&layout=&loc=1.94 1,94] und [http://www.perseus.tufts.edu/cgi-bin/ptext?doc=Perseus%3Atext%3A1999.01.0126&layout=&loc=4.45 4,45]</ref>
 
Im Grunde beschreibt Tacitus dieselbe Entwicklung wie die ''Prosa-Edda''-Genealogie in Form von ''Búri → Burr → drei Söhne''. Tuisto entsteht zuerst ungeschlechtlich aus der Erde. Dann zeugt er, wie sein Name verrät, kraft seiner Doppelgeschlechtlichkeit aus sich selbst heraus Mannus, der wiederum durch seine Menschennatur sich als erster geschlechtlich vermehrt und auf diese Weise drei Söhne erzeugt.<ref name="pe131" />
 
Das Abstammungsmuster der doppelten Dreizahl tritt in der germanischen Mythologie mehrmals in Erscheinung.
 
{| class="wikitable" border="1"
|+ Genealogiemuster der doppelten Dreizahl
! Stufe !! Muster !! Germania !! Vǫluspá !! Prosa-Edda
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| Vater ||&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;A&nbsp;&nbsp;|| Tuisto || (Ymir?)<ref>Vergleiche Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá'', 1963, S. 306, Fußnote 14</ref> || Búri
|-
| Sohn ||&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;B&nbsp;&nbsp;|| Mannus || Bur || Burr
|-
| 3 Söhne || C&nbsp;&nbsp;D&nbsp;&nbsp;E || Ing(uo), Irmin(us), Ist(io) || Burs Söhne (Odin, Hœnir und Loðurr oder Odin, Vili, Vé?) || Odin, Vili, Vé
|}
 
Es handelt sich dabei um ein genealogisches Muster, das auch unter den Griechen, den Persern, den Babyloniern und den Phöniziern verbreitet ist (C. Scott Littleton).<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 237: → C. Scott Littleton: ''The ‚Kingship in Heaven‘ Theme.'' In: Jaan Puhvel (Hrsg.): ''Myth and Law among the Indo-Europeans: Studies in Indo-European Comparative Mythology.'' University of California Press, Berkeley etc. 1970, S. 83–121. – Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá'', 1963, S. 106: Schon [[Karl Viktor Müllenhoff]] machte auf diese Gleichungen aufmerksam, Franz Rolf Schröder fand Entsprechungen zweifacher Dreizahlen bei den Griechen und Skythen und Adolf Dyroff verglich das Abstammungsmuster insbesondere mit der griechischen Generationenfolge [[Uranos]] → [[Kronos]] → [[Zeus]], [[Hades]], [[Poseidon]].</ref> Doch nur unter den Germanen stehen die Namen der drei Söhne im Stabreim.<ref name="pe131" />
 
===== Stammvater der Semnonen? =====
 
Des Weiteren könnte Tacitus noch einen Abstammungsmythos der Semnonen andeuten.<ref>Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: RGA 27, 2004, S. 243.</ref>
 
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: „Vetustissimos se nobilissimosque Sueborum Semnones memorant; fides antiquitatis religione firmatur. Stato tempore in silvam auguriis patrum et prisca formidine sacram omnes eiusdem sanguinis populi legationibus coeunt caesoque publice homine celebrant barbari ritus horrenda primordia. Est u. a.ia luco reverentia: nemo nisi vinculo ligatus ingreditur, ut minor et potestatem numinis prae se ferens. Si forte prolapsus est, attolli et insurgere haud licitum: per humum evolvuntur. Eoque omnis superstitio respicit, tamquam inde initia gentis, ibi regnator omnium deus, cetera subiecta atque parentia.“
:: − <span style="font-variant:small-caps">Tacitus</span>: ''Germania'' 39,1
|
: „Als die ältesten und vornehmsten Sueben betrachten sich die Semnonen. Den Glauben an ihr hohes Alter bestätigt ein religiöser Brauch. Zu bestimmter Zeit treffen sich sämtliche Stämme desselben Geblüts, durch Abgesandte vertreten, in einem Haine, der durch die von den Vätern geschauten Vorzeichen und durch uralte Scheu geheiligt ist. Dort leiten sie mit öffentlichem Menschenopfer die schauderhafte Feier ihres rohen Brauches ein. Dem Hain wird auch sonst Verehrung gezeigt: niemand betritt ihn, er sei denn gefesselt, um seine Unterwürfigkeit und die Macht der Gottheit zu bekunden. Fällt jemand hin, so darf er sich nicht aufheben lassen oder selbst aufstehen; auf dem Erdboden wälzt er sich hinaus. Insgesamt gründet sich der Kultbrauch auf den Glauben, dass von dort der Stamm sich herleite, dort der allbeherrschende Gott wohne, dem alles unterworfen, gehorsam sei.“
::&nbsp;
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|}
 
Ein Abstammungsmythos würde dann vorliegen, wenn die im Hain verehrte Gottheit der Ahnherr der Semnonen wäre. Mit jener Gottheit scheint wohl Woden/Odin gemeint zu sein.<ref>Gerhard Perl: ''Tacitus – Germania'', 1990, S. 236.</ref>
 
===== Gaut, Stammvater der Goten? =====
 
Ein weiterer Abstammungsmythos der Menschen, genauer der Goten, von einem Gott könnte in Jordanes' ''Getica'' enthalten sein.
 
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: „[…] per loca victoria iam proceres suos,
: quorum quasi fortuna vincebant,
: non puros homines,
: sed semideos id est Ansis vocaverunt.
: [...]
: Horum ergo heroum, ut ipsi suis in fabulis referunt,
: primus fuit Gapt, qui genuit Hulmul.“
:: − <span style="font-variant:small-caps">Jordanes</span>: ''De origine actibusque Getarum'' XIII, 78; XIV, 79
|
: „Weit und breit siegten sie [die Goten] und nannten ihre Edlen,
: deren Glück [Schicksal] sie ihren Sieg verdankten,
: nicht mehr einfache Menschen
: sondern Ansen, das heißt Halbgötter.
: […]
: Der erste jener Helden also war, wie sie selbst in ihren Sagen berichten,
: Gapt, der den Hulmul zeugte.“
:: (Übersetzung von Wilhelm Martens)
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Der Stammbaum, den Jordanes mit Gapt beginnt, bezieht sich formal nur auf das ostgotische Königsgeschlecht der [[Amaler]], jedoch lässt die Bemerkung, dass die [[Goten]] ihre Heerführer nach einer bestimmten siegreichen Schlacht zu Halbgöttern erhoben, die sie Ansis (gotisch wahrscheinlich für [[Ase]]n) nannten, darauf schließen, dass Stammvater und Sage von einem alten Abstammungsmythos der Goten abgeleitet sind.<ref>Mit diesem Ergebnis: Hermann Reichert: ''Mythische Namen.'' In: ''RGA 20.'' 2002, S. 470 + Claus von Carnap-Bornheim: ''Heros Eponymos.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Bd. 14.''2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York, ISBN 3-11-016423-X, S. 430.</ref> Gapt, wohl ein Schreibversehen für Gaut, ist die gotische Entsprechung des nordischen Odinsnamens Gautr ‚Götländer‘.<ref>Hermann Reichert: ''Mythische Namen.'' In: ''RGA 20.'' 2002, S. 470.</ref> Doch erst die Skandinavier setzten beide miteinander gleich, bei den Goten war Gaut noch eine eigenständige mythische Gestalt.<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 128.</ref> Möglicherweise galt somit Gaut als Stammvater der Goten.
 
===== Heimdallrs Söhne =====
 
[[Datei:Rig in Great-grandfather's Cottage.jpg|miniatur|Urgroßvater und Urgroßmutter saßen einst mit Ríg beisammen; Zeichnung von [[W. G. Collingwood]], 1908]]
 
Eine nordische Ethnogonie deutet die ''Vǫluspá'' in der Fassung des ''Codex Regius'' an, in dem sie die Menschen als Söhne Heimdallrs ''(mǫgu Heimdallar)'' bezeichnet.<ref>''Lieder-Edda: Vǫluspá'' 1</ref> Hierzu gesellt sich das mittelalterliche Lied ''Rígsþula'', das eine [[Soziogonie]] beschreibt, nach welcher der sonst unbekannte Gott [[Ríg]] ‚König‘ der Ursprung der drei Stände Knecht, Bauer und Adel ist, wobei die wohl jüngere Prosa-Einleitung des Lieds ausdrücklich Ríg mit Heimdallr gleichsetzt.<ref>''Rígsþula'' 1&nbsp;ff.</ref>
 
[[Georges Dumézil]] sah in dieser Soziogonie den nordischen Nachhall der Gesellschaftsordnung indogermanischer Zeiten, doch [[Klaus von See]] legte schlüssig dar, dass das ''Rígsþula'' die gesellschaftlichen Verhältnisse der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in [[Norwegen]] spiegelt, die es so noch nicht einmal zur Wikingerzeit gegeben hatte.<ref>Bernhard Maier: ''Die Religion der Germanen'', 2003, S. 133: ohne Referenz für Georges Dumézil, → Klaus von See u.a.: Kommentar zu den Liedern der Edda. Heidelberg 1997&nbsp;ff., Band 3, S. 477–513 (insbesondere S. 483&nbsp;f.)</ref> Somit handelt es sich nicht um einen alten Mythos mit keltischen Anklängen, sondern um den Kunstmythos (vergleichbar einem Kunstmärchen) eines unbekannten Gelehrten des 13. Jahrhunderts, der entweder das Ziel verfolgte, den gottgewollten Ursprung der Stände zu erklären ([[Andreas Heusler (Altgermanist)|Andreas Heusler]]) oder kultisches Wissen zum Thema zu vermitteln, wie das [[Sakralkönigtum]] von einem König auf seinen Nachfolger übergeht (Jere Fleck).<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 350: → Andreas Heusler: ''Heimat und Alter der eddischen Gedichte.'' In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 116 (1906), S. 249–281. Jere Fleck: ''Konr-Óttar-Geirroðr: A Knowledge Criterion for Succession to the Germanic Sacred Kingship.'' In: Scandinavian Studies 42 (1970), S. 39–49.</ref> Fraglich ist auch die nachträgliche Gleichsetzung von Ríg mit Heimdallr, da Ríg im Lied das Runenwissen weitergibt, was mehr auf Odin als auf Heimdallr weist.<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 350.</ref> Dennoch scheinen die Einleitungen des ''Rígsþula'' wie der ''Vǫluspá'' eine Abstammungsbeziehung zwischen Heimdallr und den Menschen vorauszusetzen,<ref>Vergleiche Franz-Reiner Erkens: ''Sakralkönigtum.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Bd. 26.'' 2. Auflage. Verlag De Gruyter, Berlin/New York 2004, S. 283 – Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2'', 1937, S. 300 geht nicht auf einen Abstammungsmythos ein, sondern schließt aus ''Vǫluspá 1'', dass Heimdallr in bestimmten Fällen als höchster Gott der Menschenwelt gegolten hat.</ref> die aber mangels anderer Quellen dunkel bleibt.
 
==== Der Schöpfungsmythos von Askr und Embla ====
 
→ ''Hauptartikel: [[Ask und Embla|Askr und Embla]]''
 
[[Datei:Ask and Embla by Robert Engels.jpg|miniatur|hochkant|Die Entstehung von Askr und Embla: „Seele gab Odin, Sinn gab Hönir, Leben gab Lodur und lichte Farbe.“ (Vǫluspá 12, Genzmer) Illustration von [[Robert Engels]], 1913.]]
 
Die ''Vǫluspá'' erzählt, dass die Götter Odin, Hœnir und Loðurr am Strand Askr und Embla fanden, die kaum Kraft hatten und noch ohne Schicksal ''(ørlǫg)'' waren. Sie schufen daraus die Menschen, in dem sie sie mit Atem, Geist, Lebenswärme oder Blut ''(lá)'' und göttlichem oder gutem Aussehen versahen.<ref name="vö17" /> Das Schicksal der Menschen teilen aber die Nornen zu.<ref name="vö20" /> Die ''Prosa-Edda'' hingegen widerspricht der ''Vǫluspá'' gleich mehrfach. Nach ihr trafen Burrs Söhne, also Odin, Vili und Vé, am Strand auf zwei Baumstämme ''(tré)'', die noch keine Namen trugen. Erst die Götter gaben ihnen ihre Namen und machten sie zu Menschen. Zwar lässt auch Snorri Sturluson die Nornen das Schicksal der Menschen bestimmen, aber sie werden bei ihm zuvor durch den Allvater Odin als Schicksalsherrscher eingesetzt.<ref>''Prosa-Edda: Gylfaginning'' 9, 14&nbsp;f.</ref>
 
Askr bedeutet ‚Esche‘, Embla vielleicht ‚Ulme‘ ([[Sophus Bugge]]), eher aber ‚Schlingpflanze‘ ([[Hans Sperber]]).<ref name="jv322" /><ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 90: → Hans Sperber: ''Embla.'' In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 34 (1910), S. 219–222. Sophus Bugge: ''Helge-digtene i den Aeldre Edda.'' In: der englischen Übersetzung: ''The Home of the Eddic Poems'', 1896, S. XXVIII.</ref> Der Mythos besagt nicht nur, dass die Menschen von Bäumen abstammen, sondern er enthält auch ein sehr altes mythisches Bild, das das Feuermachen als Geschlechtsakt versteht, denn es beinhaltet die Vorstellung, wie ein Bohrer aus hartem Eschenholz sich in weicherem Holz reibt bis ein Funke entsteht ([[Adalbert Kuhn]]).<ref>Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte'', Band 2; 1937, § 322. Adalbert Kuhn: 1, S. 36–43.</ref>
 
Die ältere Forschung sah diesen Mythos christlich beeinflusst wegen der Gleichheit der Anfangsbuchstaben zu [[Adam und Eva]], sowie der mittelalterlichen Auslegung der christlichen Lehre, dass die ersten Menschen durch die [[Dreifaltigkeit]] geschaffen wurden.<ref>Wolfgang Golther: ''Handbuch der germanischen Mythologie''. Hirzel, Leipzig 1895. Neuauflage: Marix, Wiesbaden 2004, ISBN 3-937715-38-X, S. 629.</ref> Der Name von Askr geht wegen der sprachlichen Verwandtschaft zu [[Oeric|Aesc]], dem Stammvater des Königsgeschlechts der Aescingar, auf mindestens urgermanische Zeit zurück.<ref>Vergleiche Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 29, der das Alter als „eher“ alt einstuft.</ref> Auch die schwere Übersetzbarkeit von Embla weist auf ein hohes Alter ihres Namens. Falls Embla tatsächlich ‚Schlingpflanze’ bedeutet, würde somit das Namenspaar Askr und Embla sicher aus indogermanischer Zeit stammen.<ref>Bernhard Maier: ''Die Religion der Germanen'', 2003, S. 64.</ref> Die Vorstellung, dass die Menschen von den Bäumen kommen, ist ebenso alt und geht möglicherweise auf einen indogermanischen Mythos zurück.<ref>Åke Viktor Ström: ''Germanische und Baltische Religion'', 1975, S. 246, der ganz sicher von einem indogermanischen Mythos ausgeht.</ref> Nach [[Hesiod]] stammten die Menschen des dritten Zeitalters von den Eschen ab.<ref>Hesiod, ''[[Werke und Tage]]'' 145</ref> Auch stehen Eschenmenschen bei ihm in einem Bezug zu Feuer.<ref>Hesiod, ''[[Theogonie]]'' 563</ref> In der iranischen Mythologie wuchsen [[Mahle (Mythologie)|Mahle]] und [[Mahliyane]] verbunden durch einen Stängel und 15 Blättern aus der Erde empor.
 
Innerhalb der eddischen Literatur sind die Götter, die die ''Vǫluspà'' nennt, wohl aus älterer Überlieferung.<ref name="jv322" /> Man ging zwar durchaus davon aus, dass Snorri Sturluson auf eine andere Tradition zurückgriff ([[Eugen Mogk]]), doch ergibt sich der Austausch der Dreiheit schon aus dem Erzählzusammenhang der ''Prosa-Edda'' ([[Sigurdur Nordal]]).<ref>Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte'', Band 2;, 1937, § 316. Eugen Mogk: ''Grundriss der germanischen Philologie.'' Band 1, S. 235. Sigurður Jóhannesson Nordal: Völuspà, S. 120.</ref> Offensichtlich griff Snorri Sturluson bei der Abfassung der ''Prosa-Edda'' auf die Söhne Burrs bei der Weltschöpfung zurück, um beide Mythen miteinander zu harmonisieren. Warum Hœnir und Loðurr neben Odin ausgewählt waren, aus Hölzern Menschen zu machen, ist nicht mehr nachvollziehbar, da sich über beide Gottheiten kein klares Bild gewinnen lässt.<ref name="jv322" /><ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 199, 246.</ref> Loðurr wird in der Forschung (wie schon in der westnordischen Literatur zuvor) meist mit [[Loki]] gleichgesetzt.
 
Nach einem so interessanten wie umstrittenen Vorschlag [[Gro Steinsland]]s führte es dazu, dass auch die Menschwerdung letztlich in drei Stufen erfolgte.<ref>Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: RGA 27 (2004), S. 254. Gro Steinsland: ''Antropogonimyten i Vǫluspá. En tekst- og tradisjonskritisk anlyse.'' In: ''Arkiv för nordisk filologi 98 (1983), S. 80–107. Gro Steinsland: ''Ask og Embla – fri fantasi eller gammel tradisjon? Om et mulig imago dei-motiv i Vǫluspás skapelsesmyte.'' In: ''Sagnaheimur (Studies in Honour of Hermann Pálsson on his 80th birthday, 26. May 2001).'' Wien 2001, S. 247–262.</ref> Die Richtigkeit dieses Konzepts kann letztlich nicht bewiesen werden, es bewegt sich aber im Rahmen der Quellen, denn die ''Vǫluspá'' weist vor der Menschwerdung auf diese drei Merkmale hin: Die Götter fanden drei Formen, die ohne menschliches Leben und noch ohne Schicksal waren.
 
{| class="wikitable" border="1"
|+ Modell der Menschwerdung in der Vǫluspá nach Gro Steinsland
! Phase !! Handelnde Macht !! Tätigkeit
|-
| 1 || Zwerge || Anfertigung der Menschenformen
|-
| 2 || Götter || Belebung der Menschen
|-
| 3 || Nornen || Festlegung der Menschenschicksale
|}
 
==== Schöpfung oder Abstammung? ====
 
Der Abstammungsmythos ist mit dem Schöpfungsmythos nicht vereinbar. Entweder sind die Menschen genetische Abkömmlinge der Götter oder die Götter haben sie geschaffen. Ein Teil der Forschung geht wegen der eindeutigen Parallelen zu Mythologien indogermanischer Völker und einer Vielzahl an Ethnographien germanischer Stämme und Königsgeschlechter davon aus, dass die Abstammung des Menschen von den Göttern der ursprünglichere Mythos ist,<ref name="re471" /><ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 24.</ref> und führt den Schöpfungsmythos des Menschenpaares durch eine Göttertrias entweder auf den Einfluss südöstlicher Vorstellungen zurück<ref>Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 24 ohne Begründung und ohne Eingehen auf die indogermanischen Parallelen.</ref> oder geht davon aus, dass die Germanen keinen gemeinsamen Menschenentstehungsmythos besaßen.<ref name="re471" /> Jedoch kann man streng genommen heute nur sagen, dass wohl beide Mythen schon auf indogermanischen Vorstellungen beruhen, ohne dass bekannt ist, wie sie nebeneinander bestehen konnten.
 
=== Die Schicksalsmacht ===
→ ''Hauptartikel: [[Germanische Schicksalsvorstellungen]]''
[[Datei:Nornir by Pietsch.jpg|miniatur|hochkant|Die drei Jungfrauen an der Quelle des Schicksals; Zeichnung von [[Ludwig Pietsch]], 1865]]
Die ''Vǫluspá'' lässt an mehreren Stellen durchscheinen, dass neben den Göttern noch eine weitere Macht ihr Wirken aufnimmt, nämlich die [[Schicksal]]smacht. Als Askr und Embla noch Holz und noch nicht Mensch waren, waren sie noch schicksalslos ''(ørlǫglausa)''.<ref name="vö17" /> Die Götter schufen zwar aus den beiden Hölzern die ersten Menschen, aber ihr Schicksal teilten ihnen die [[Nornen]] zu. Ihre Aufgabe bestand darin, darüber zu bestimmen, welches Leben ein Mensch führen wird und welches Schicksal ''(ørlǫg)'' ihn ereilt.<ref name="vö20" /> Beschrieben werden sie als drei Mädchen ''(meyjar)'', also Jungfrauen, deren Heimat die [[Quelle der Urd|Quelle der Urðr]] am Weltenbaum Yggdrasil ist. Ihre Namen lauten [[Urd|Urðr]] ‚Schicksal, Tod‘, wörtlich ‚das Gewordene‘, [[Verdandi|Verðandi]] ‚das Werdende‘ und [[Skuld]] ‚das Gesollte‘. Außerhalb der Schöpfungsgeschichte verwendet der Dichter der ''Vǫluspá'' den Begriff ''ragnarǫk'' für das Endzeitgeschehen, in dem die alten Götter im Kampf untergehen.<ref>''Lieder-Edda: Vǫluspá'' 44</ref> ''Ragnarǫk'' bedeutet wörtlich übersetzt ‚Schicksal der Götter‘. Als diese Zeit anbricht, heißt es ''mjǫtuðr kyndisk'' ‚das Schicksal entflammt‘.<ref>''Lieder-Edda: Vǫluspá'' 46</ref> Damit bindet die ''Vǫluspá'' wesentliche nordische Schicksalsbegriffe wie ''mjǫtuðr'', ''ørlǫg'' und ''urðr'' in den von ihr erzählten Lauf des Weltgeschehens ein.
 
Die ''Vǫluspá'' geht anscheinend von einer Schicksalsmacht aus, die über allem steht und einer höheren Ordnung angehört. Nicht nur den Menschen werden eine Bestimmung und ein Schicksal gegeben, sondern auch die Götter haben eine schicksalhafte Vorbestimmung, die sie nicht ändern können und die sich schlussendlich erfüllt. Im Rückschluss ergibt sich daraus, dass die Schicksalsmacht mächtiger als ihre eigene Macht ist und sie ihr unterworfen sind.<ref>Vergleiche: Rudolf Simek: ''Schicksalsglaube.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27.'' 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2004, ISBN 3-11-018116-9, S. 9 – Bernhard Maier: ''Die Religion der Germanen'', 2003, S. 62&nbsp;f. – Hans-Peter Hasenfratz: ''Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus.'' Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 113&nbsp;f. – Hilda Roderick Ellis-Davidson: ''Pagan Europe'', 1988, S. 163&nbsp;ff.</ref> Diese Schicksalsmacht wird in der ''Vǫluspá'' personifiziert durch die drei Nornen Urðr, Verðandi und Skuld.
 
Die Namen der drei Nornen stammen wohl erst aus mittelalterlicher Zeit. Verðandi ist in der westnordischen Literatur sonst nicht belegt, Skuld nur noch als Name einer [[Walküre]]. Auch der Nornenname Urðr, der in der Wissenschaft zum Teil bis heute als alter Name gilt, ist nicht älter als die Namen der anderen zwei Nornen.<ref>Gerd Wolfgang Weber: ''Wyrd'', 1969, S. 151&nbsp;f.</ref> Ihr Name taucht meist im Zusammenhang mit der Quelle '''U'''rðrbrunnr auf und diese wird häufiger als die Norne genannt, so dass anscheinend der Brunnenname auf die Norne überging. Demnach wäre der Name des Brunnens als '''''u'''rðrbrunnr'' ‚Quelle des Schicksals‘ zu übersetzen.<ref>Gerd Wolfgang Weber: ''Wyrd'', 1969, S. 151&nbsp;f.</ref> Das Namenskonzept der drei Nornen stammt vermutlich aus vergleichbaren mittelalterlichen Vergangenheit-Gegenwart-Zukunfts-Konzepten der drei [[Moiren]] beziehungsweise [[Parzen]].<ref>Gerd Wolfgang Weber: ''Wyrd'', 1969, S. 150.</ref>
 
Gleichwohl scheinen die drei Jungfrauen an der Quelle des Schicksals wohl aus alter Zeit zu stammen, da der Vorstellungskomplex dreier Schicksalsfrauen nicht nur in der westnordischen Volksüberlieferung sehr verbreitet ist.<ref>Vergleiche: Rudolf Simek: ''Schicksalsglaube.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27.'' 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2004, ISBN 3-11-018116-9, S. 9 der es als möglich ansieht, dass die drei Schicksalsgöttinnen älteren Datums sind. − Gerd Wolfgang Weber: ''Wyrd'', 1969, S. 153 spricht sich wegen nordischer? Volkssagen und -glauben eindeutig dafür aus, dass die drei Schicksalsfrauen auf alten Vorstellungen beruhen.</ref> Im Ergebnis sind somit die Namen der Nornen sehr jung, aber ihre Dreiheit und ihre Aufgaben können auf älteren Vorstellungen beruhen.
 
Zur Schicksalsmacht in Gestalt der drei Nornen gehört in der ''Vǫluspá'' neben dem mythischen Bild der Schicksalsquelle am Weltenbaum, auch der Weltenbaum selbst, da er ebenso wie die Nornen zu einer Ordnung gehört, die dem Wirken der Götter entzogen ist, und demnach der Sphäre der Schicksalsmacht zugeordnet werden kann.<ref>Vergleiche Hilda Roderick Ellis-Davidson: ''Pagan Europe'', 1988, S. 165.</ref> Denn der Weltenbaum keimt schon vor der Schöpfung unter der Erde<ref name="vö2" /> und er überlebt das Endzeitgeschehen der Ragnarǫk. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die ''Vǫluspá'' den Weltenbaum in ihrer Einleitung ''(mjǫtvið)'', den ‚Maßbaum‘ nennt.<ref name="vö2" /> Mit ''mjǫt'' ‚Maß‘ beginnt auch der nordische Schicksalsbegriff ''mjǫtuðr'', der eigentlich ‚der Schicksalszumessende‘ bedeutet.<ref>Vergleiche Åke Viktor Ström: ''Germanische und Baltische Religion'', 1975, S. 254.</ref>
 
Verwunderlich ist, dass die ''Vǫluspá'' keine unmittelbare Begegnung zwischen den Göttern, die die Welt erschaffen, und den Nornen, die ihr Schicksal bestimmen und ihnen ihren Willen aufzwingen, beschreibt und nichts näher darüber sagt, wie sich die beiden Mächte zueinander verhalten. Die einzige Stelle in der Schöpfungsgeschichte der ''Vǫluspá'', die darauf anspielen könnte, sind jene dunklen Verse, in denen drei Thursinnen aus Riesenheim das Ende des goldenen Zeitalters heraufbeschwören.<ref>Hilda Roderick Ellis-Davidson: ''Pagan Europe'', 1988, S. 163 spricht sich für diese Deutung aus. – Wolfgang Golther: ''Handbuch der germanischen Mythologie.'' Hirzel, Leipzig 1895. Neuauflage: Marix, Wiesbaden 2004, ISBN 3-937715-38-X, S. 144 stellt die Deutung als möglich in den Raum.</ref> Auch diese werden wie die Nornen als Jungfrauen bezeichnet, auch sie bilden eine Dreiheit und auch sie bestimmen den Lauf der Dinge und dennoch befremdet, dass sie die ''Vǫluspá'' als Thursen, als böse übelwollende Riesinnen bezeichnet. Das religiöse Konzept [[Drei heilige Frauen|dreier heiliger Frauen]], das nicht nur auf die nordische Welt beschränkt ist, weist sie überwiegend als beschützend, wohltätig und mütterlich aus. Aber vielleicht haben sie eine helle und eine dunkle Seite, so wie das Leben aus der Erde kommt und schlussendlich wieder in sie zurückgeht.<ref name="da163" />
 
=== Allvater ===
 
[[Datei:Georg von Rosen - Oden som vandringsman, 1886 (Odin, the Wanderer).jpg|miniatur|hochkant|Odin, der Wanderer; [[Georg von Rosen]], 1886]]
 
Die christlichen Einflüsse auf die Eddatexte werden oft als Verfälschung der heidnischen Mythen gewertet. Dabei wird übersehen, dass Mythen nur dann überleben können, wenn sie sich an neue herrschende Geistesströmungen anpassen. Möglicherweise tat der ''Christ'' Snorri Sturluson, als er seine ''Prosa-Edda'' abfasste, genau dieses.<ref>Vergleiche Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27'', 2004, S. 247, der es für wahrscheinlich hält, dass Snorri Sturluson „in irgendeiner Weise, die alte Religion (zumindest Teile davon) der christlichen Gedankenwelt anzunähern versuchte.“ Heinrich Beck: ''Snorri Sturlusons Sicht der paganen Vorzeit.'' 1994, S. 25–31.</ref> So führte er eine Gestalt in die germanische Schöpfungsgeschichte ein, die deutlich christliches Gepräge aufweist und den obersten heidnischen Gott Odin als Allvater mit dem christlichen Gott harmonisiert.<ref name="hu247" /> Die Gestalt dieses christlichen Allvaters ist die jüngste Schicht der germanischen Kosmogonie.
 
Demnach schuf Allvater Himmel, Erde und Luft sowie alles, was dazugehört. Er ist der älteste der Götter, lebt für alle Zeiten und bewirkt alle Dinge, die großen und die kleinen. Zwölf seiner Namen, die er im alten Asgard trug, werden genannt, doch ist es Odin, den sie meinen. Dieser schuf auch den Menschen und gab ihm seine unsterbliche Seele ''(ǫnd)''. Der Mensch, der nach rechter Sitte lebt, wird nach dem Tod zu Allvater nach [[Gimle (Mythologie)|Gimle]] kommen, während die Bösen zu [[Hel (Mythologie)|Hel]] fahren, welche aber keineswegs mit der christlichen Hölle gleichzusetzen ist, da es in Hel nicht die Folter und Schrecken der christlichen Hölle gibt.<ref>''Prosa-Edda: Gylfaginning'' 3</ref> Odin und seine beiden Brüder werden die Lenker von Himmel und Erde sein.<ref name="pe6" />
 
== Literatur ==
 
''In der Reihenfolge des Erscheinungsjahrs. ''
 
* Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte.'' Band 2: ''Religion der Nordgermanen.'' Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin/ Leipzig 1937.
* René L. M. Derolez: ''De Godsdienst der Germanen.'' 1959 (dt. Götter und Mythen der Germanen, übersetzt von Julie von Wattenwyl, Verlag Suchier & Englisch, 1974, {{OCLC|256147286}})
* Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá.'' In: Hugo Kuhn, Kurt Schier (Hrsg.): ''Märchen, Mythos, Dichtung. − Festschrift zum 90. Geburtstag Friedrich von der Leyens am 19. August 1963.'' Beck Verlag, München 1963, S. 303–334.
* Gerd Wolfgang Weber: ''Wyrd – Studien zum Schicksalsbegriff der altenglischen und altnordischen Natur.'' Verlag Gehlen, Bad Homburg/ Berlin/ Zürich 1969.
* Åke Viktor Ström, Haralds Biezais: ''Germanische und Baltische Religion.'' Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1975, ISBN 3-17-001157-X.
* Hilda Roderick Ellis-Davidson: ''Pagan Europe – Early Scandinavian and Celtic Religions.'' Manchester University Press, 1988, ISBN 0-7190-2579-6. [http://www.google.com/books?id=Tn-7AAAAIAAJ&pg=PA173&dq=Ymir&ei=nWE5SumfKJboyASjoISeAw&hl=de (In Auszügen online)]
* Gerhard Perl: ''Tacitus – Germania.'' In: Joachim Herrmann (Hrsg.): ''Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas.'' Zweiter Teil, Berlin 1990, ISBN 3-05-000571-8.
* Heinrich Beck: ''Erde.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der germanischen Altertumskunde.'' Band 7, 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/ New York 1989, ISBN 3-11-011445-3.
* Hermann Reichert: ''Mythische Namen.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der germanischen Altertumskunde.'' Band 20, 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/ New York 2002, ISBN 3-11-017164-3.
* Bernhard Maier: ''Die Religion der Germanen – Götter, Mythen, Weltbild.'' Verlag Beck, München 2003, ISBN 3-406-50280-6.
* Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der germanischen Altertumskunde.'' Band 27, 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/ New York 2004, ISBN 3-11-018116-9. [http://www.google.com/books?id=WtDT7H2tsGQC&pg=PA250&dq=Ymir&ei=nWE5SumfKJboyASjoISeAw&hl=de (In Auszügen online)]
* Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X.
 
== Einzelbelege ==
<references>
<ref name="be438">Heinrich Beck: ''Erde.'' In: ''RGA 7'', 1989, S. 438.</ref>
<ref name="be439">Heinrich Beck: ''Erde.'' In: ''RGA 7'', 1989, S. 439.</ref>
<ref name="da163">Hilda Roderick Ellis-Davidson: ''Pagan Europe.'' 1988, S. 163.</ref>
<ref name="de285ff">René L. M. Derolez: ''Götter und Mythen der Germanen.'' 1974 (1959), S. 285–287.</ref>
<ref name="Derolez 277">Vergleiche René L. M. Derolez: ''Götter und Mythen der Germanen.'' 1974 (1959), S. 277, der einen Zusammenhang zwischen den Erd„bewohnern“ Toter und Zwerg sieht.</ref>
<ref name="de287">René L. M. Derolez: ''Götter und Mythen der Germanen.'' 1974 (1959), S. 287.</ref>
<ref name="hb476">Heinrich Beck: ''Probleme der völkerwanderungszeitlichen Religionsgeschichte.'' In: Dieter Geuenich (Hrsg.): ''Die Franken und die Alemannen bis zur "Schlacht bei Zülpich" (496/97). Ergänzungsband Nr. 19 zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde.'' Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 1998, ISBN 3-11-015826-4, S. 476.</ref>
<ref name="hu247">Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27'', 2004, S. 247.</ref>
<ref name="hu248">Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27'', 2004, S. 248.</ref>
<ref name="hu250">Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27'', 2004, S. 250.</ref>
<ref name="hu251">Anders Hultgård: ''Schöpfungsmythen.'' In: ''RGA 27'', 2004, S. 251.</ref>
<ref name="hy33">''Lieder-Edda: Hyndlulióð'' 33</ref>
<ref name="jv317">Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2.'' 1937, § 317</ref>
<ref name="jv318">Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2.'' 1937, § 318</ref>
<ref name="jv319">Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2.'' 1937, § 319</ref>
<ref name="jv321">Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2.'' 1937, § 321</ref>
<ref name="jv322">Jan de Vries: ''Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 2.'' 1937, § 322</ref>
<ref name="kb599">Karl Christoph Berger: ''Zwerge.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der germanischen Altertumskunde – Bd. 34.'' 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2007, ISBN 978-3-11-018784-7, S. 599.</ref>
<ref name="ks310-312">Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá.'' 1963, S. 310–312.</ref>
<ref name="ks332f">Kurt Schier: ''Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá.'' 1963, S. 332&nbsp;f.</ref>
<ref name="ma57f">Bernhard Maier: ''Die Religion der Germanen.'' 2003, S. 57&nbsp;f.</ref>
<ref name="ma58">Bernhard Maier: ''Die Religion der Germanen.'' 2003, S. 58.</ref>
<ref name="me60">Bernhard Maier: ''Die Religion der Germanen.'' 2003, S. 60.</ref>
<ref name="pe6">''Prosa-Edda: Gylfaginning.'' 6</ref>
<ref name="pe14">''Prosa-Edda: Gylfaginning.'' 14</ref>
<ref name="pe131">Gerhard Perl: ''Tacitus – Germania.'' 1990, S. 131.</ref>
<ref name="re471">Hermann Reichert: ''Mythische Namen.'' In: ''RGA 20.'' 2002, S. 471.</ref>
<!--
<ref name="rs8 hr269">Rudolf Simek: ''Schicksalsglaube.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27.'' 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2004, ISBN 3-11-018116-9, S. 8&nbsp;f.; Heinrich Reichert: ''Held, Heldendichtung und Heldensage, § 2-6.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 14.'' 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016423-X, S. 269.</ref>
 
<ref name="rs9">Rudolf Simek: ''Schicksalsglaube.'' In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): ''Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27.'' 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2004, ISBN 3-11-018116-9, S. 9.</ref>
-->
 
<ref name="rslex237">Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 237.</ref>
<ref name="rslex505">Rudolf Simek: ''Lexikon der germanischen Mythologie.'' 3. Auflage. 2006, S. 505.</ref>
<ref name="simguk90">[[Rudolf Simek]]: ''Götter und Kulte der Germanen.'' 2. Auflage. Verlag C. H. Beck, München 2006, ISBN 3-406-50835-9, S. 90.</ref>
<ref name="vö2">''Lieder-Edda: Vǫluspá.'' 2</ref>
<ref name="vö17">''Lieder-Edda: Vǫluspá.'' 17</ref>
<ref name="vö20">''Lieder-Edda: Vǫluspá.'' 20</ref>
<ref name="wm496">[[Wolfgang Meid]]: ''Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache.'' In: Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.): ''Germanische Religionsgeschichte – Quellen und Quellenprobleme.'' Ergänzungsband Nr. 5 zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/ New York 1999, ISBN 3-11-012872-1, S. 496. [http://www.google.com/books?id=HlAKSrsxu44C&pg=PA495&dq=Ymir&ei=nWE5SumfKJboyASjoISeAw&hl=de (In Auszügen online)]</ref>
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[[Kategorie:Germanische Mythologie]]
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Version vom 15. September 2020, 12:01 Uhr

Die Neun Chöre der Engel, Byzantinisches Kuppelmosaik im Baptisterium der Basilica di San Marco (Venedig).

Als Hierarchie (von griech. ἱεραρχία hierarchia, aus ἱερός, hieros, „heilig“ und ἀρχή, archē, „Führung, Herrschaft“, daraus ab dem 17. Jahrhundert kirchenlateinisch hierarchia „Rangordnung der Weihen“) wird ganz allgemein ein System einander gemäß einer bestimmten Rangordnung über- bzw. untergeordneter Elemente oder Wesen bezeichnet.

Geistige Hierarchien

Neun Chöre der Engel, die in drei Hierarchien geordnet sind, bilden nach christlicher Anschauung die Gemeinschaft der kosmischen Intelligenzen (→ Kosmische Intelligenz). Von den Kabbalisten werden sie auch, da sie sich von der Materie volkommen getrennt halten, als Separate Intellekte (hebr. שכלים נפרדים Sechalim nifradim) bezeichnet. In der Anthroposophie werden mit den Hierarchien die an der Entwicklung der Welt beteiligten, gemäß ihres Entwicklungsgrades nach Rangstufen geordneten geistigen Wesenheiten bezeichnet. Über ihnen steht die Trinität als die höchste Quelle der göttlichen Schöpferkraft. Die Hierarchien sind in ihrer geistigen Entwicklung dem Menschen vorangeschritten und haben an seiner Entwicklung sowie an der Erdenentwicklung wesentlichen Anteil. Gemäß ihres geistigen Reifegrads lassen sie sich in verschiedene Gruppen einordnen. Im anthroposophischen Sprachgebrauch ist oft zusammenfassend von den Hierarchien die Rede, wenn die genannten Wesenheiten als Ganzes gemeint sind.

Angelologie

Mariä Aufnahme in den Himmel von Francesco Botticini (1446–1497). Maria und Jesus sind von den in drei Stufen gegliederten neun Engelschören umgeben.

Die Angelologie (von griech. ἄγγελος angelos „Sendbote“, λόγος logos „Wort, Lehre“), die Lehre von den Engelhierarchien („Engel“ hier als Oberbegriff für geistige Wesen, nicht im engeren Sinne für die Angeloi), geht im Christentum auf die Schrift über die «Himmlischen Hierarchien»[4] von Dionysius Areopagita zurück. Dionysius wird im Neuen Testament als erster Bischof Athens erwähnt (Apostelgeschichte des Lukas Apg 17,34 LUT). Da die Niederschrift der mit seinem Namen versehenen Lehren jedoch erst im frühen 6. Jahrhundert erfolgte, vermutet die herkömmliche Forschung, dass ein unbekannter Autor jener Zeit der Urheber gewesen sei. Dieser habe den Namen des Dionysius Areopagita lediglich als Pseudonym benutzt (daher auch „Pseudo-Dionysius“ genannt).

Nach Rudolf Steiner gehen die überlieferten Inhalte tatsächlich auf den in der Bibel erwähnten Dionysius Areopagita zurück:

„Die Lehre von den Göttern ist zuerst in ein System gebracht worden von dem Schüler des Apostels Paulus, Dionysius dem Areopagiten. Sie ist aber erst im 6. Jahrhundert aufgeschrieben worden. Die Gelehrten leugnen deshalb die Existenz des Dionysius Areopagita und sprechen von den Schriften des Pseudo-Dionysius, als ob man erst im 6. Jahrhundert alte Überlieferungen zusammengestellt habe. Der wahre Sachverhalt ist nur zu konstatieren durch das Lesen in der Akasha-Chronik. Die Akasha-Chronik aber lehrt, daß Dionysius wirklich in Athen gelebt hat, daß er von Paulus eingeweiht worden ist und von ihm den Auftrag erhalten hat, die Lehre von den höheren Geistwesen zu begründen und besonderen Eingeweihten zu erteilen. Gewisse hohe Lehren wurden damals niemals aufgeschrieben, sondern nur durch mündliche Tradition fortgepflanzt. Auch die Lehre von den Göttern wurde so von Dionysius seinen Schülern gegeben und von diesen wiederum weitergegeben. Der direkte Schüler wurde dann mit Absicht wieder Dionysius genannt, so daß der letzte, der die Lehre von den Göttern aufschrieb, einer in dieser Reihe war, die alle Dionysius genannt wurden.

Diese Lehre von den Göttern, wie sie Dionysius gegeben hat, umfaßt dreimal drei Glieder der göttlichen Wesenheiten...

Über den Seraphim stehen dann göttliche Wesenheiten von solcher Erhabenheit, dass das menschliche Fassungsvermögen nicht ausreicht, um sie zu begreifen. Nach der dritten Stufe folgt die vierte Hierarchie: Der Mensch, als der zehnte in der ganzen Reihe.“ (Lit.:GA 93a, S. 97f)

Gregor der Große (ca. 540 - 604) übernahm die Engellehre für die Kirche.[1] Ab dem 7. Jahrhundert verbreitete sich die Lehre vor allem durch Isidor von Sevilla, der in seiner Etymologiae ein ganzes Kapitel den Engeln widmet.[2] Im 9. Jahrhunder übersetzte Johannes Scottus Eriugena am Hof Karls des Kahlen die griechischen Schriften des Dionysius ins Lateinische[3], wodurch sie in der Folge eine immer weitere Verbreitung fanden. In Dante Alighieris «Göttlicher Komödie» erläutert Beatrice im Canto XXVIII des Paradiso ausführlich die neun Chöre der Engel.

Gliederung der Hierarchien

Rudolf Steiner nennt – neben den von Dionysius Areopagita verwendeten – weitere Namen für die Hierarchien aus anderen okkulten Überlieferungen, die im Folgenden in Klammern hinzugefügt sind. Zu den Namen merkt er an:

"Die Namen der Hierarchien sind keine Eigennamen, sondern Namen für gewisse Bewußtseinsstufen des großen Universums, und die Wesen rücken von einer Stufe zur anderen. Eliphas Levi hat das klar gesehen und betont, daß man es bei diesen Namen mit Rangstufen zu tun hat, mit Hierarchien." (Lit.: GA 93a, S. 98)

Folgt man der von Dionysius Areopagita gegebenen christlichen Terminologie, ergibt sich die folgende Einteilung der Hierarchien:

Trinität

Vater - Sohn - Heiliger Geist

Erste Hierarchiestufe

Zweite Hierarchiestufe

Dritte Hierarchiestufe

Die Offenbarung der Hierarchien in der Natur

„Derjenige nun, dem zum Bewußtsein gekommen ist durch seherische Forschung, daß innerhalb unserer Erde waltet im erdigen Element das Wesen der Throne oder der Geister des Willens, im Wässerigen das Wesen der Geister der Weisheit, im Luftförmigen das der Geister der Bewegung, im Wärmehaften das der Elohim, der steigt allmählich auf zu der Erkenntnis, daß bei der Ballung der Wolken, bei jenem eigenartigen, in unserem Erdenumkreise vor sich gehenden Wässerigwerden des Gasförmig-Wässerigen, am Werke sind jene Wesenheiten, die der Hierarchie der Cherubime angehören. So sehen wir auf unser Festes, auf das, was wir als elementarisches Erdendasein bezeichnen, und schauen in ihm ein Durcheinanderwirken der Elohim mit den Thronen. Wir richten den Blick aufwärts und sehen, wie in dem Luftförmigen, in dem ja allerdings die Geister der Bewegung walten, wie da am Werke sind die Cherubime, damit das Wässerige, das aus dem Bereiche der Geister der Weisheit aufsteigt, sich zu Wolken ballen kann. Im Umkreise unserer Erde walten ebenso wahr die Cherubime, wie da walten innerhalb des elementarischen Daseins unserer Erde die Throne, die Geister der Weisheit, die Geister der Bewegung. — Und wenn wir jetzt sehen das Weben und Wesen dieser Wolkenbildungen selber, wenn wir das sehen, was gleichsam als ihr Tieferes verborgen ist, was sich nur zuweilen kundgibt, so ist es der aus der Wolke herausdringende Blitz und Donner. Das ist auch nicht etwas, was aus dem Nichts herauskommt. Dieser Tätigkeit liegt für den Seher zugrunde das Weben und Wesen derjenigen Geister der Hierarchien, die wir als die Seraphime bezeichnen. Und damit haben wir, wenn wir in unserem Erdenbereich bleiben, wenn wir bis zum nächsten Umkreis gehen, alle einzelnen Stufen der Hierarchien gefunden.“ (Lit.:GA 122, S. 120f)

„Nicht wahr, die Exusiai, die Geister der Form, sind direkt sinnlich wahrzunehmen in den Planeten; das ist einfach ihre Seite, die sie uns zuwenden. Die Geister der Bewegung sind direkt wahrzunehmen in den Fixsternen; das ist die Seite, die sie uns zuwenden. Aber die Cherubim und Seraphim, die sind so nicht sinnlich wahrnehmbar, daß sie uns gewissermaßen ihre andere Seite zuwenden. Aber sie sind so stark unwahrnehmbar - ich bitte, das eben hinzunehmen und etwas darüber nachzudenken -, daß die Unwahrnehmbarkeit schon wiederum wahrnehmbar wird. Also dasjenige, was in der Welt lebt durch Cherubim und Seraphim, das ist in so hohem Grade unwahrnehmbar, daß die Unwahrnehmbarkeit schon wiederum wahrgenommen wird. Es entzieht sich das so stark dem menschlichen Bewußtsein, daß der Mensch dieses Dem-Bewußtsein-Entziehen merkt.

So kann man sagen: Die Cherubim, die kommen schon wiederum zum Vorschein, wenn auch eben sich das gerade auf die Weise dokumentiert, daß sie so tief verborgen sind, daß man ihre Verborgenheit merkt. Die Cherubim erscheinen nicht nur symbolisch, sondern ganz objektiv in dem, was sich in der Gewitterwolke zuträgt, in dem, was sich zuträgt, wenn ein Planet beherrscht wird von vulkanischen Kräften. Und die Seraphim kommen in dem, was als Blitz aus der Wolke zuckt, oder in dem, was als Feuer in den vulkanischen Wirkungen zutage tritt, wirklich so zum Vorschein, daß eben ihre Unwahrnehmbarkeit in diesen gigantischen Wirkungen der Natur wahrnehmbar wird.

Daher haben in alten Zeiten, wo man solche Dinge durchschaut hat, die Menschen auf der einen Seite hingeblickt zum Sternenhimmel, der ihnen das Mannigfaltigste geoffenbart hat: die Geheimnisse der Exusiai, die Geheimnisse der Dynamis. Dann haben sie die höheren Geheimnisse zu enthüllen versucht in dem, worüber sich der Mensch heute lustig macht: aus dem Inneren der menschlichen Leiber - wie man trivial sagt -, aus den Eingeweiden. Dann aber waren sie sich dessen bewußt, daß die größten Wirkungen, die wirklich dem Sonnensystem gemeinschaftlich sind, von einer ganz umgekehrten Seite her sich in den Feuer- und Gewitterwirkungen, in den Erdbeben und vulkanischen Wirkungen ankündigen. Das Schöpferischste, das in den Seraphim und Cherubim liegt, kündigt sich an durch seine zerstörerischste Seite, kurioserweise. Es ist eben die Kehrseite, es ist das absolut Negative, aber das Geistige ist so geistig stark da, daß eben schon seine Unwahrnehmbarkeit, sein Nichtdasein, wahrgenommen wird von den Sinnen.“ (Lit.:GA 180, S. 103f)

Siehe auch

Herrschaftsgebiete der Hierarchien, Erzengel-Regentschaften, Trinität, Erste Hierarchie, Zweite Hierarchie, Dritte Hierarchie, Vierte (zukünftige) Hierarchie

Literatur

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Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Gregor der Große: Hom. XXXIV in Luc. 7 (= Migne, PL 76, 1246–1259, online); Moralia in Iob XXXII, xxiii ([1])
  2. Isidor von Sevilla: Etymologiae VII, 5 ([2])
  3. Libri Sancti Dionysii Areopagitae, quos Ioannes Eriugena transtulit de Graeco in Latinum, iubente ac postulante rege Carolo Ludovici imperatoris filio ([3])


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