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Martin Scherber (* 16. Januar 1907 in Nürnberg; † 10. Januar 1974 ebenda) war ein deutscher Komponist und Schöpfer der Metamorphosensinfonik.
[[Bild:Scherber Martin (1907-1974).jpg|right|thumb|Martin Scherber um das Jahr 1930, vermutlich in Aussig an der Elbe]]  
 
== Kindheit und Jugend ==
In den frühen Morgenstunden des 16. Januar 1907 erblickte Martin Scherber als drittes und jüngstes Kind von Marie und Bernhard Scherber <ref> Bernhard Scherber * 1. Dezember 1864 in Klein Tschachwitz bei Dresden - † 8. Juni 1941 in Nürnberg; Maria Scherber geb. Egloff * 20. Juli 1878 in Maxhütte/Oberpfalz - † 11. März 1963 in Nürnberg </ref>  in Nürnberg das Licht der Welt. Sein Vater war erster Kontrabassist am Städtischen Opernhaus (heute: [http://de.wikipedia.org/wiki/Staatstheater_N%C3%BCrnberg Staatstheater Nürnberg]) <ref> Booklet zur ''Sinfonie No. 3 in h-moll durch Martin Scherber'', Peermusic Classical, Hamburg/ col legno Bad Wiessee 2001, S. 7. </ref>, seine Mutter arbeitete in dessen Verwaltung, bis die Kindererziehung ihre Hauptaufgabe wurde.
 
Als Kind hatte er eine weit zurückgehende Erinnerung, empfand sich ‚aus dem Paradies’ verstoßen und erlebte sich, insbesondere, wenn ihm Märchen erzählt wurden, in eine Bilderwelt versetzt, die ihm Kunde vom eigentlichen Leben zuzuströmen schien. Er war ein stilles Kind, voller Fragen – ohne zu fragen.  ''„Dieser Tatbestand , dass mir abwechselnd die Innenwelt zu einer real erlebten und angeschauten Welt wurde, wobei dann die Außenwelt wie ein leiser Traum war, und dann wieder die Welt, die mit Augen gesehen wird, real erlebbar wurde, wodurch die Innenwelt verfinstert wurde – etwa wie die Sterne durch die Sonne unsichtbar werden – dieser Tatbestand, das Leben in zwei nicht voll verstandenen Welten – ist mir der eigentliche ‚Schlüssel’ geworden für alle Welträtsel und [Welt]geheimnisse.“'' <ref> Martin Scherber ''Autobiographische Notiz 1'' aus dem Nachlaß; Archiv des Bruckner-Kreises Nürnberg (A/BRK-N)</ref> 
 
Mit sieben Jahren kam er in die in seiner direkten Nachbarschaft liegende Volksschule <ref>heute Bismarck-Schule </ref>. Hier hatte er große Sorge, dass ihm das geschilderte Erleben 'wegpädagogisiert' würde, wie er sich später erinnernd ausdrückte. Es blieb ihm aber geschützt und dadurch erhalten. Früh zeigten sich technische, musikalische und darüber hinausgehende Begabungen, welche in einem liebevollen Mitleben seiner natürlichen und sozialen Umwelten bestanden.
 
Er kam 1918 auf die Oberrealschule <ref> Oberrealschule an der Löbleinstraße; heute: [http://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Sachs-Gymnasium_N%C3%BCrnberg Hans-Sachs-Gymnasium Nürnberg]</ref>, da sein Vater meinte, er wäre prädestiniert für das Ingenieurdasein.  Schließlich entschied er sich aber für die Musik. 
 
Beim immer umfangreicher ausgeübten Musizieren – er hatte mit etwa fünf Jahren bei seinem strengen Vater angefangen, Geige zu spielen, wozu bald Klavier kam – erlangte er eine Geistesgegenwart, welche ihm erlaubte, ohne Noten, die er nicht lernen wollte, synchron mit seinem Mitspieler zu spielen. Eine Eigenschaft, die später beim Unterrichten dazu führte, dass er praktisch gleichzeitig mit den Taktfehlern seiner Schülerinnen und Schüler mitsprang. Wenn er musizierte hatte er das Empfinden ''‚hinter die Wände’'' zu treten, später kam, als er mit dreizehn Jahren anfing zu komponieren, das Erleben dazu, wie er eingebettet war in eine '' 'Hülle aus Musik' '' , oder wie er es auch ausdrückte - in eine '' 'Mutterhülle aus Klängen' '' <ref> Martin Scherber: ''Autobiographische Notiz 2.'' Archiv Bruckner-Kreis Nürnberg (A/BRK-N). </ref>.  Diese  rätselhaften Erlebnisse versuchte er von da an zu ergründen. 
 
== Studium in München und Zeit in Aussig ==
Ab September 1925 besuchte er die Staatliche Akademie der Tonkunst in München <ref> heute: [http://website.musikhochschule-muenchen.de/de/index.php Hochschule für Musik und Theater] </ref>. Dazu erhielt er Stipendien <ref> Vermutlich von der Stadt Nürnberg - für die gesamte Studienzeit an der Akademie 1925-28 </ref>. Gleichzeitig studierte er als Gasthörer an der Universität München Philosophie. Hier befasste er sich besonders mit Erkenntnistheorie, d.h. der Verständigung des tätigen Bewusstseins mit sich selbst und den Eingliederungsmöglichkeiten dieser Bewusstseinstätigkeiten in das Weltgeschehen. Beides - die Innen- und Außensicht - verschmolz er mit seinem künstlerischen Erleben und gewann dadurch eine sichere Basis für das Erfassen der sich dabei bietenden Zusammenhänge. Die verborgen gebliebenen Fragen seiner Kindheit konnten nun richtig gestellt werden.  Dabei stieß er zuerst auf das Werk von [http://wiki.anthroposophie.net/Goethe Johann Wolfgang von Goethe] (1749-1832), dessen umfassende Weltsicht und künstlerische Art, mit den inneren und äußeren Phänomenen umzugehen, ihn unmittelbar ansprach.
Während seiner Goethestudien fragte er den Fremden, welcher sich  bei seinen Eltern eingemietet hatte und eine kleine Bibliothek besaß, nach Schriften über Goethe und er erhielt das Buch ‚Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung’ <ref>  '' 'Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller' '' von 1886;  Rudolf Steiner Verlag Dornach, 8. neu durchgesehene Auflage 2003 ('''G'''esamt'''A'''usgabe) GA 2, ISBN 978-3-7274-0020-9 </ref>. Der Autor dieser Abhandlung - [http://wiki.anthroposophie.net/Steiner Rudolf Steiner] (1861-1925) - berührte ihn durch seine unkonventionelle und lebendige Darstellungsweise gerade der Fragen, die ihm so am Herzen lagen. So begann er fortan dessen erkenntnispraktische und spirituelle Hinweise mit der ihm eigenen Selbständigkeit zu erproben. Dadurch gelang es ihm, allmählich bewusster an die inneren Quellen der Musik heranzukommen.
 
Nach seiner Münchner Zeit – vermutlich hatte er dort in der Nähe des Englischen Gartens gewohnt – ging er nach [http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Ast%C3%AD_nad_Labem  Aussig], heute Tschechien. Dort war er am Stadttheater von 1929-33 Korrepetitor, später Kapellmeister und Chorleiter. Obwohl er große Anerkennung fand <ref> ''"Grandiose Goethefeier im Stadttheater"''  mit Prolog von Martin Scherber, Zeitung Aussig, 1932 </ref>, verließ er 1933 die Elbestadt. Er machte sich selbständig, leitete Chöre, Ensembles und wirkte, von 1940-46 durch Kriegsdienst und Gefangenschaft unterbrochen, als Privatmusiklehrer und freischaffender Komponist in Nürnberg.
[[File:Martin Scherber am Bechsteinflügel in seinem Musikzimmer - 1950er Jahre.jpg|left|200px|thumb| Der Komponist am Bechsteinflügel in seinem Musikzimmer während der Entstehungszeit der Grossen Metamorphosensinfonien am Anfang der 1950er Jahre]]
 
== Nürnberg - Hauptort eines verborgenen Wirkens ==
Hier entstanden seit 1935 in aller Stille die meisten seiner Werke: Kammermusiken und Chöre a capella oder mit Begleitung; Lieder  und Liedzyklen; der Zyklus 'ABC-Stücke für Klavier' (ca. 1935-65) - ein Versuch, die deutschen Sprachlaute 'musikalisch erklingen zu lassen'; seine Klavierbearbeitungen der Bruckner-Symphonien Nr. 3-9 (1948-50) und die beiden großen Metamorphosensymphonien in den Jahren 1951-55 als Fortsetzung des sinfonischen Anfangs von 1938. Auch von diesen gibt es Auszüge für zwei Klaviere.
 
Martin Scherber  verbrannte alle Werke, die er vor dem Jahre 1935 geschrieben hatte. Darunter waren Walzer, Märsche, Rhapsodien, Passacaglias, Fugen, Variationen, Klaviersonaten, ein Streichtrio und Teile der Goethelieder von 1930. Verschollen blieben die Toten-, Bergmanns- und Winterlieder; die Klavierstücke ''‚Der Teufel entführt eine Seele’'' und die Märchenmusik für Streichorchester ''‚Prinzessin Sternröslein’''  (Aussig). Aufgetaucht sind wieder einige seinerzeit verschenkte Kompositionen wie die sieben Goethelieder von 1930, die sich vierzig Jahre später bei der Sängerin Magda Steiner-Hauschild in Wien wiederfanden, welche in Aussig zu Scherbers dortiger Zeit debutierte und nach seinem Unfall wieder Kontakt mit ihm aufnahm. 
 
Die Anregungen, die ihm durch die Werke von Goethe und Steiner zuflossen, waren einige der frühen Voraussetzungen für Scherbers spätere künstlerische Erkenntniserlebnisse. Die Entdeckung der Metamorphose als ''‚Wesenselement der Musik’'' <ref> Henning Kunze: ''Die Metamorphose als Wesenselement der Musik.'' In: ''Die Drei.'' 9/1990, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1990, S. 676-687, Hinweise auf die Zweite Sinfonie </ref> wurde dadurch vorbereitet. Sie ging ihm in den beginnenden 1930er Jahren auf und wurde allmählich durch die meditative Arbeit <ref> Henning Kunze: ''Zur Dritten Symphonie von Martin Scherber.'' Booklet zur Dritten, Peermusic Classical/col legno, 2001, S. 4-7. </ref> und seine sich ausweitende innere musikalische Entwicklung  hervorgeholt. In einem Brief an Magda Steiner schreibt er im Januar 1932 ''„Mit dem Komponieren steht es augenblicklich ein wenig schlimm – ich merke beim Phantasieren, das etwas ganz anderes werden will. Es ist noch nicht bestimmt [...] Es muß eine ganz neue Art der Musik, eine ganz neue Einstellung zur Musik heraufkommen.“'' Das empfanden auch viele seiner zeitgenössischen Komponistenkollegen und suchten nach eigenständigen Wegen. Es dauerte aber Jahre bis Scherber seine Fähigkeiten so weit gesteigert hatte, dass als Ansatz die I. Symphonie niedergeschrieben werden konnte. Eigentlich wollte er ein Chorwerk schaffen. Das war 1938.
Erst nach seinen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg <ref> Er wurde am 6.11.1940 als Soldat nach Brockzettel einberufen, war mit der schweren Bahnflak in Deutschland, Polen, Frankreich und Dänemark unterwegs, kam ins Musikcorps nach Rerik, war Sanitäter vom 7.5.-29.11.1945 in Lüneburg, wurde dann in Munsterlager vom 29.11.1945-22.1.1946 gefangen gesetzt und schließlich über Lüneburg nach Nürnberg entlassen </ref>, und nachdem er auch die Symphonik von [http://de.wikipedia.org/wiki/Anton_Bruckner Anton Bruckner] genau durchgenommen hatte, war das Terrain bereitet für die Weiterführung der symphonischen Entwicklung zu den Grossen Metamorphosensymphonien im Beginn der 1950er Jahre.
 
== Die Metamorphose als Wesenselement der Musik == 
Metamorphosensinfonik ist komplexe Wandlungsmusik.  In ihr pulsiert reines Leben. Darum kann man auch von organischer Musik sprechen. Sie wird nicht konstruiert <ref> siehe Darstellung bei Henning Kunze ''‚Die Metamorphose ale Wesenselement der Musik’'' Anmerkung 11 </ref>.
 
Musik-Metamorphosen erwachsen aus dem Unhörbaren - der Quellsphäre der Musik - und konzentrieren  sich allmählich zu einem Themenkeim <ref> Booklet zur Symphony No. 2, Cascade Medien, Staufen im Breisgau 2010 ''‚Grosse Metamorphosensymphonie in f-moll’'', Seite 6-10 </ref>. Dieser beherrscht die ganze sinfonische Entwicklung. Aus dieser Einheit erwachsen alle Differenzierungen. Denn trotz der Vielheit der sich eröffnenden musikalischen Wege bleibt der Inhalt des Themas stets anwesend, immer produktiv,  weiterschreitend, zielstrebig... Das 'Ganze' beherrscht die 'Teile' und letztere leben aus dem ersteren. Alle Orchesterstimmen werden aus dem Thema und seinem Umfeld entwickelt.
 
Sätze mit jeweils thematischen Neuanfängen, wie in der klassischen Sinfonie, kann es nicht mehr geben, wohl aber Glieder. Die historischen Satzcharaktere gehen sich durchdringend in das Ganze über. Sie sind formale und erlebnismäßige Vorläufer der Metamorphosensinfonik. 
 
Daraus folgt, dass hier kein kontrapunktisches, kein lineares oder sich additiv vernetzendes, kompositorisches, also zusammensetzendes Bewußtsein tätig ist, welches auf zu verarbeitende  'gute Einfälle' oder 'faszinierende Anregungen' oder schicksalhafte Lebensimpulse warten muss, um diese nach bestimmten Methoden auszuführen <ref>  ''„Ich behaupte nur, daß sie [die Inspiration] keineswegs eine Voraussetzung für den schöpferischen Akt ist, sondern  daß sie in zeitlicher Folge eine Äußerung von sekundärer Art ist“.'' [...] ''„Im eigentlichen Sinn bedeutet Kunst so viel, wie Werke nach bestimmten Methoden herstellen.“'' Nach Igor Strawinskys ''‚Musikalische Poetik’''; aus einem Brief Martin Scherbers an Fred Thürmer vom 27.6.1955, Zitat leicht nach dem Werk korrigiert.  Strawinsky, Igor: ''Musikalische Poetik'', Wiesbaden 1960, S. 34. </ref>, sondern ein alles gleichzeitig umfassendes Bewußtsein - ein sich in den Quellströmen der Musik frei bewegendes sowohl individualisiertes als auch  universalisiertes  'Erlebnisbewußtsein' . Dieses handhabt die äußerlichen [http://de.wikipedia.org/wiki/Parameter_%28Musik%29  musikalischen Parameter] als bewirkte Ausdrucksweisen lebendiger Zusammenhänge, verwebt sie und läßt sie so zu einem  hörbaren musikalischen Organismus heranreifen.
Auch die zur Darbietung nötigen Instrumente mit ihren spezifischen Charakteren und Aussageweisen gehen aus diesem Erlebnisbewusstsein hervor <ref> Friedrich Oberkogler. ''Vom Wesen und Werden der Musikinstrumente'', Novalis Verlag, Schaffhausen, 1985; ISBN 3721400062</ref>.
Scherber schilderte diese Art von Bewusstseinstätigkeiten als ein ‚Über-Kreuz-Erleben’. ''„Im Innern nicht ich, sondern die Welt; außen nicht die Welt, sondern sich selbst.“'' Die dabei durchzumachenden Erlebnisse ''„können nicht in Worte gebracht werden, nur zunächst in Tongebilde: dramatisch-symphonisches Geschehen. Wesentlich: der schöpferische Mensch ist dabei wacher (gesteigertes Bewusstsein), die Erlebnisse realer!“''
Metamorphosenmusik geht über traditionell geschaffene Musik mit ihren Modulations- und Variationsweisen, über kombinatorische, serielle, aleatorische, über computergenerierte Musik hinaus, obwohl sie Elemente dieser Kompositionsweisen in sich trägt. Sie wird durch strenge Schulung aus bewußt gewordenen Lebensprozessen und umfassenderen Schöpfungstätigkeiten  gewonnen. Es gibt folglich keine Konstruktionen, keine Sensationen oder Sentimentalitäten etc.. wie Scherber in seinem Hinweis [http://www.martin-scherber.de/von-urquellen.html '''Von Urquellen'''] deutlich macht.
 
Der Tonkünstler ordnet Disharmonisches und Konsonantisches zeitgerecht in den Musikstrom ein, läßt beides angemessenerweise zur Geltung kommen, und löst, wenn nötig, sentimental ausufernde Konsonantik, brutal und zerstörerisch sich breit machende Disharmonik im Harmonischen der Musik auf. Er beherrscht das Ganze, denn er lebt in ihm und dieses gibt den Gliedern ihren Sinn. Disharmonien lässt er als Anregungen und Weckimpulse;  Konsonanzen als Ruhe-, Festigungs- und Regenerationsphasen gelten. Eine hypertrophiernde Emanzipation der Disharmonien oder anderer vereinzelter musikalischer Elemente, eine Musik ohne Herz und Zentrum, kann es hier nicht geben.
Das musikalische Thema durchdringt bei Scherber als sich wandelndes bewusstseinstiftendes Element, als ‚unendliche Melodie’ die sinfonischen Entwicklungen, die Rhythmen strömen in reiner schöpferischer Energie dahin und sogar die Harmonik gerät in Bewegung, wird lebendig. Sie ‚kippt’ fortwährend aus ihrer Vertikalität und sucht zusammen mit Melodie und Rhythmus ihre musikalische Vollendung. 
 
Es wirken - und das macht die Beurteilung der Metamorphosenmusik erst einmal nicht leicht - viele historisch-musikalische Elementarprozesse in ihr. Umgekehrt wirft sie Licht auf die bisherige Musikevolution. Das Neue lebt im 'Wie' der Durchführungen, denn Metamorphosensinfonien sind 'Durchführungssinfonien'. Feine Wandlungen des sich scheinbar Wiederholenden und die besondere Art des Einsatzes der disharmonischen und konsonantischen  Elemente bewirkt, dass das musikalische Bewußtsein sich ‚auf der Wanderschaft’ erlebt. Metamorphosensinfonik ist eben offene, eigentlich nur anregende Musik und kann nicht zuende sein, selbst wenn sie endet.
 
Metamorphosenmusik ist absolute Musik. Sie hat unmittelbar mit dem menschlichen Leben und seinen Entwicklungsmöglichkeiten in der Welt, in welche der Mensch mit seinen Erkenntnisbemühungen, Freuden, Leiden und Taten eingebettet ist, zu tun. Doch ist in ihr trotz diese Bezuges kein Programm zu vermuten. Sie ist in ihrer Absolutheit weder wurzellos noch abstrakt, sondern dient den  Lebensbedürfnissen der Menschen in ihrer Zeit.
 
Die Metamorphosenmusik steht, trotz der schriftlichen Fixierung, der echten musikalischen Improvisation nahe. Sie stellt in der Regel einen kleinen Ausschnitt aus dem Gesamterleben des Komponisten dar, der nicht nur eine starke Konzentration auf dem Wege zu ihr, sondern auch bei der Umkehrung in das sinnlich Fassbare und Präsente herbeiführen muss.
 
Die Klavierimprovisation gehörte beispielsweise zu den besonderen Fähigkeiten von Martin Scherber. Ein Können, welches durch den spirituellen Anschluss an die Sphären des Lebens, an die tieferen Quellen der Musik überhaupt, seine Wirksamkeit entfaltet. Nicht umsonst waren alle großen Komponisten wie [http://de.wikipedia.org/wiki/Van_Beethoven Ludwig van Beethoven] oder Anton Bruckner  begnadete Improvisatoren, weil sie sich seelisch frei entweder spontan beim Spielen in die Quellregionen der Musik hineinspürten, oder bei ihren schriftlich ausgearbeiteten Werken aus diesen heraus - eben authentisch - komponieren konnten.
 
== Alltagsarbeit ==
Neben dem Unterrichten und Komponieren leitete Scherber über Jahrzehnte hinweg (1946-74) Kurse und Arbeitskreise zu erkenntnistheoretischen, künstlerischen und sozialen Themen. Er war ein sensibler, humorvoller, sehr aufmerksam zuhörender Gesprächspartner und war fähig, in den Fragen, Problemen und Idealen seiner Gesprächspartner zu leben. Daraus erwuchsen die Anregungen, die er hier und da geben konnte - und lebenslange Freund- und zeitbedingte Feindschaften. Auch seine umfangreichen Korrespondenzen geben davon Kunde. Er wanderte gerne in der Fränkischen Schweiz, den Alpen, der Lüneburger Heide und an der Nordsee. Im Familiengarten nicht weit von seiner Wohnung konnte man ihn regelmäßig treffen. <ref> Seine Wohnung lag in der Nürnberger Schoppershofstrasse 34. Der Garten war im Osten von ihr, jenseits der Welserstrasse auf der später auch der Unfall geschah. Heute ist das Gelände überbaut. Aus der Welserstrasse wurde eine doppelspurigen Hauptverkehrsader</ref> Spazierengehen und Gärtnern wäre er seiner Gesundheit schuldig, sagte er immer. Darum sparte er sich auch die dafür notwendige Zeit bewußt ab. 
 
== Unfall ==
Im Mai 1970 setzte ein schwerer Unfall diesen Tätigkeiten ein Ende - gerade als mit der Veröffentlichung seines symphonischen Werkes begonnen werden sollte. Ein volltrunkener Autofahrer fuhr Scherber auf einem Spaziergang zusammen, so muss der Tatbestand berichtet werden. Nach schwierigen Operationen, wochenlanger künstlicher Ernährung und einem achtmonatigen Krankenhausaufenthalt blieb er zeitlebens - wegen verbliebener Lähmungen - an den Rollstuhl gefesselt und konnte musikalisch und kompositorisch nicht mehr arbeiten. Was dieser brutale Eingriff in die Biographie eines so sensiblen Künstlers bedeutete, dürfte schwer nachvollziehbar sein. Er unterstützte die Veröffentlichung jedoch weiterhin mit besten Kräften und führte seinen Hauptarbeitskreis bis zu seinem Lebensende fort.
 
Er starb am 10. Januar 1974 in seiner Heimatstadt am Versagen der beim Unfall gequetschten Nieren (akute Zuckerkrankheit) - inmitten heftiger Auseinandersetzungen mit der Versicherung des Unfallfahrers, die ihm, obwohl gerichtlich seine Unschuld festgestellt worden war, eine Mitschuld am Unfall diktieren wollte.
 
== Werke (Auszug) ==
; Klavierwerke
* Tänze für zwei Klaviere zu je vier Händen
* ABC-Stücke für Klavier (ca.1938–1963), UA: offen
[[Datei:Partiturtitel von Martin Scherber Symphonie no.2 in f-moll -Nuremberg.jpg|right|200px|thumb| Partiturtitel der Grossen Metamorphosensinfonie in f-moll (1951/52), Faksimileausgabe bei Hans Bosannek, Nürnberg 1973]]
 
; Klavierbearbeitungen
* Max Reger: Symphonischer Prolog für Großes Orchester von 1908 (1926)
* Anton Bruckner: Sinfonien No. 3 bis 9, (1948-50)
* Martin Scherber: Sinfonien No. 1 bis 3, (1951-55)
; Sinfonische Musik
* 1. Sinfonie in d-moll 1938 (Überarbeitung 1952), UA 11. März 1952 in Lüneburg; Lüneburger Sinfonie-Orchester, Dirigent Fred Thürmer
* 2. Sinfonie in f-moll 1951–1952, UA 24. Januar 1957 in Lüneburg; Niedersächsisches Sinfonie-Orchester Hannover, Dirigent Fred Thürmer
* 3. Sinfonie in h-moll 1952–1955, UA offen
 
; Vokalwerke
* Goethelieder (1930), 7 Vertonungen
* Stör’ nicht den Schlaf 1936 (Morgenstern)
* Wanderers Nachtlied 1937 (Goethe)
* Kinderliederzyklen 1930/1937 (Scherber (9), Brentano (18))
* Hymne an die Nacht 1937 (Novalis)
* Chöre a cappella (10) und Chöre mit Klavier oder Orchester (3 Stücke)
 
; Texte
* Von Urquellen wahrhaft moderner Kunst und der Allverbindung des vereinsamten Menschen (1972)
* Warum heute wieder Märchen? (1972)
* Aphorismen I + II (1976 und 1993)
 
[[Datei:Martin Scherber Cover vom Booklet der II. Symphonie in f-moll.jpg|right|200px|thumb|Titelseite der II. Symphonie (1952-55) als CD im Digipak mit Texten in deutscher, englischer, französischer, spanischer und russischer Sprache, Veröffentlichung 2010]]
 
== Diskografie ==
Große Metamorphosensinfonien
* Sinfonie No. 3 in h-moll, 2001 bei col legno WWE 1 CD 20078; World Premiere Recording. Herausgeber: Peermusic Classical, Hamburg 2001.
* Sinfonie No. 2 in f-moll, 2010 bei cascade Order No. 05116; am@do-classics. World Premiere Recording. Herausgeber: Bruckner-Kreis, Nürnberg 2010
 
== Anmerkungen ==
<references/>
 
== Weblinks ==
{{wikiquote}}
{{Commonscat|Martin Scherber (composer)|Martin Scherber}}
* [http://www.martin-scherber.de Website über Martin Scherber] mit Hörbeispielen
* [http://www.russiandvd.com/store/album_asx.asp?sku=39643 Sinfonie No.3] Grosse Metamorphosensinfonie in h-moll
* [http://www.youtube.com/watch?v=cRryODgJp7A Sinfonie No.2] Hörproben aus der Grossen Metamorphosensinfonie in f-moll
*[http://www.youtube.com/watch?v=YzebrDEENrA&feature=related 'Über allen Gipfeln ist Ruh'] Aus dem Goetheliederzyklus von 1930
* [https://portal.d-nb.de/opac.htm?query=scherber%2C+martin&method=simpleSearch Werke Scherbers in der DNB] Katalog der [[Deutsche Nationalbibliothek|Deutschen Nationalbibliothek]] (Deutsches Musikarchiv)
* {{DNB-Portal|123998301|TYP=Werke von und über}}
* [http://www.bsb-muenchen.de/OPACplus.92.0.html] - [[Bayerische Staatsbibliothek]], München.
* [http://aleph.onb.ac.at/F/61AMSP7SH2Y2G7PHYJUD6CDB6QX63VVFQNLNNA3191JNF1MKLY-20131?func=find-b&find_code=WRD&adjacent=N&request=Martin+Scherber&x=12&y=10] - [[Österreichische Nationalbibliothek]] Katalog der Musiksammlung, Wien.
* [http://entrypoint.bl.uk/Results.aspx?query=martin+scherber&Web=True&ILS=True&CB=True&BLD=True] - [[British Library]] Online Catalogue, London.
* [http://www.loc.gov/search/?q=martin+scherber&st=list] - [[Library of Congress]] Online Catalog, Washington.
* [http://www.collectionscanada.gc.ca/lac-bac/results/all?form=all&lang=eng&FormName=Fed+Simple+Search&SourceQuery=&ResultCount=5&PageNum=1&MaxDocs=-1&SortSpec=score+desc&Language=eng&SearchIn_1=&SearchInText_1=Martin+Scherber&Operator_1=AND&SearchIn_2=&SearchInText_2=&Operator_2=AND&SearchIn_3=&SearchInText_3=&Sources_1=amicus&Sources_2=mikan&Sources_3=genapp&Sources_4=web&soundex=&cainInd=] - [[Library and Archives Canada]] (Nationalbibliothek Canada); Ottawa, Québec.
 
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[[Kategorie:Deutscher Komponist]]
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{{Personendaten
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Version vom 25. März 2012, 23:16 Uhr

Martin Scherber (* 16. Januar 1907 in Nürnberg; † 10. Januar 1974 ebenda) war ein deutscher Komponist und Schöpfer der Metamorphosensinfonik.

Martin Scherber um das Jahr 1930, vermutlich in Aussig an der Elbe

Kindheit und Jugend

In den frühen Morgenstunden des 16. Januar 1907 erblickte Martin Scherber als drittes und jüngstes Kind von Marie und Bernhard Scherber [1] in Nürnberg das Licht der Welt. Sein Vater war erster Kontrabassist am Städtischen Opernhaus (heute: Staatstheater Nürnberg) [2], seine Mutter arbeitete in dessen Verwaltung, bis die Kindererziehung ihre Hauptaufgabe wurde.

Als Kind hatte er eine weit zurückgehende Erinnerung, empfand sich ‚aus dem Paradies’ verstoßen und erlebte sich, insbesondere, wenn ihm Märchen erzählt wurden, in eine Bilderwelt versetzt, die ihm Kunde vom eigentlichen Leben zuzuströmen schien. Er war ein stilles Kind, voller Fragen – ohne zu fragen. „Dieser Tatbestand , dass mir abwechselnd die Innenwelt zu einer real erlebten und angeschauten Welt wurde, wobei dann die Außenwelt wie ein leiser Traum war, und dann wieder die Welt, die mit Augen gesehen wird, real erlebbar wurde, wodurch die Innenwelt verfinstert wurde – etwa wie die Sterne durch die Sonne unsichtbar werden – dieser Tatbestand, das Leben in zwei nicht voll verstandenen Welten – ist mir der eigentliche ‚Schlüssel’ geworden für alle Welträtsel und [Welt]geheimnisse.“ [3]

Mit sieben Jahren kam er in die in seiner direkten Nachbarschaft liegende Volksschule [4]. Hier hatte er große Sorge, dass ihm das geschilderte Erleben 'wegpädagogisiert' würde, wie er sich später erinnernd ausdrückte. Es blieb ihm aber geschützt und dadurch erhalten. Früh zeigten sich technische, musikalische und darüber hinausgehende Begabungen, welche in einem liebevollen Mitleben seiner natürlichen und sozialen Umwelten bestanden.

Er kam 1918 auf die Oberrealschule [5], da sein Vater meinte, er wäre prädestiniert für das Ingenieurdasein. Schließlich entschied er sich aber für die Musik.

Beim immer umfangreicher ausgeübten Musizieren – er hatte mit etwa fünf Jahren bei seinem strengen Vater angefangen, Geige zu spielen, wozu bald Klavier kam – erlangte er eine Geistesgegenwart, welche ihm erlaubte, ohne Noten, die er nicht lernen wollte, synchron mit seinem Mitspieler zu spielen. Eine Eigenschaft, die später beim Unterrichten dazu führte, dass er praktisch gleichzeitig mit den Taktfehlern seiner Schülerinnen und Schüler mitsprang. Wenn er musizierte hatte er das Empfinden ‚hinter die Wände’ zu treten, später kam, als er mit dreizehn Jahren anfing zu komponieren, das Erleben dazu, wie er eingebettet war in eine 'Hülle aus Musik' , oder wie er es auch ausdrückte - in eine 'Mutterhülle aus Klängen' [6]. Diese rätselhaften Erlebnisse versuchte er von da an zu ergründen.

Studium in München und Zeit in Aussig

Ab September 1925 besuchte er die Staatliche Akademie der Tonkunst in München [7]. Dazu erhielt er Stipendien [8]. Gleichzeitig studierte er als Gasthörer an der Universität München Philosophie. Hier befasste er sich besonders mit Erkenntnistheorie, d.h. der Verständigung des tätigen Bewusstseins mit sich selbst und den Eingliederungsmöglichkeiten dieser Bewusstseinstätigkeiten in das Weltgeschehen. Beides - die Innen- und Außensicht - verschmolz er mit seinem künstlerischen Erleben und gewann dadurch eine sichere Basis für das Erfassen der sich dabei bietenden Zusammenhänge. Die verborgen gebliebenen Fragen seiner Kindheit konnten nun richtig gestellt werden. Dabei stieß er zuerst auf das Werk von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), dessen umfassende Weltsicht und künstlerische Art, mit den inneren und äußeren Phänomenen umzugehen, ihn unmittelbar ansprach. Während seiner Goethestudien fragte er den Fremden, welcher sich bei seinen Eltern eingemietet hatte und eine kleine Bibliothek besaß, nach Schriften über Goethe und er erhielt das Buch ‚Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung’ [9]. Der Autor dieser Abhandlung - Rudolf Steiner (1861-1925) - berührte ihn durch seine unkonventionelle und lebendige Darstellungsweise gerade der Fragen, die ihm so am Herzen lagen. So begann er fortan dessen erkenntnispraktische und spirituelle Hinweise mit der ihm eigenen Selbständigkeit zu erproben. Dadurch gelang es ihm, allmählich bewusster an die inneren Quellen der Musik heranzukommen.

Nach seiner Münchner Zeit – vermutlich hatte er dort in der Nähe des Englischen Gartens gewohnt – ging er nach Aussig, heute Tschechien. Dort war er am Stadttheater von 1929-33 Korrepetitor, später Kapellmeister und Chorleiter. Obwohl er große Anerkennung fand [10], verließ er 1933 die Elbestadt. Er machte sich selbständig, leitete Chöre, Ensembles und wirkte, von 1940-46 durch Kriegsdienst und Gefangenschaft unterbrochen, als Privatmusiklehrer und freischaffender Komponist in Nürnberg.

Der Komponist am Bechsteinflügel in seinem Musikzimmer während der Entstehungszeit der Grossen Metamorphosensinfonien am Anfang der 1950er Jahre

Nürnberg - Hauptort eines verborgenen Wirkens

Hier entstanden seit 1935 in aller Stille die meisten seiner Werke: Kammermusiken und Chöre a capella oder mit Begleitung; Lieder und Liedzyklen; der Zyklus 'ABC-Stücke für Klavier' (ca. 1935-65) - ein Versuch, die deutschen Sprachlaute 'musikalisch erklingen zu lassen'; seine Klavierbearbeitungen der Bruckner-Symphonien Nr. 3-9 (1948-50) und die beiden großen Metamorphosensymphonien in den Jahren 1951-55 als Fortsetzung des sinfonischen Anfangs von 1938. Auch von diesen gibt es Auszüge für zwei Klaviere.

Martin Scherber verbrannte alle Werke, die er vor dem Jahre 1935 geschrieben hatte. Darunter waren Walzer, Märsche, Rhapsodien, Passacaglias, Fugen, Variationen, Klaviersonaten, ein Streichtrio und Teile der Goethelieder von 1930. Verschollen blieben die Toten-, Bergmanns- und Winterlieder; die Klavierstücke ‚Der Teufel entführt eine Seele’ und die Märchenmusik für Streichorchester ‚Prinzessin Sternröslein’ (Aussig). Aufgetaucht sind wieder einige seinerzeit verschenkte Kompositionen wie die sieben Goethelieder von 1930, die sich vierzig Jahre später bei der Sängerin Magda Steiner-Hauschild in Wien wiederfanden, welche in Aussig zu Scherbers dortiger Zeit debutierte und nach seinem Unfall wieder Kontakt mit ihm aufnahm.

Die Anregungen, die ihm durch die Werke von Goethe und Steiner zuflossen, waren einige der frühen Voraussetzungen für Scherbers spätere künstlerische Erkenntniserlebnisse. Die Entdeckung der Metamorphose als ‚Wesenselement der Musik’ [11] wurde dadurch vorbereitet. Sie ging ihm in den beginnenden 1930er Jahren auf und wurde allmählich durch die meditative Arbeit [12] und seine sich ausweitende innere musikalische Entwicklung hervorgeholt. In einem Brief an Magda Steiner schreibt er im Januar 1932 „Mit dem Komponieren steht es augenblicklich ein wenig schlimm – ich merke beim Phantasieren, das etwas ganz anderes werden will. Es ist noch nicht bestimmt [...] Es muß eine ganz neue Art der Musik, eine ganz neue Einstellung zur Musik heraufkommen.“ Das empfanden auch viele seiner zeitgenössischen Komponistenkollegen und suchten nach eigenständigen Wegen. Es dauerte aber Jahre bis Scherber seine Fähigkeiten so weit gesteigert hatte, dass als Ansatz die I. Symphonie niedergeschrieben werden konnte. Eigentlich wollte er ein Chorwerk schaffen. Das war 1938. Erst nach seinen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg [13], und nachdem er auch die Symphonik von Anton Bruckner genau durchgenommen hatte, war das Terrain bereitet für die Weiterführung der symphonischen Entwicklung zu den Grossen Metamorphosensymphonien im Beginn der 1950er Jahre.

Die Metamorphose als Wesenselement der Musik

Metamorphosensinfonik ist komplexe Wandlungsmusik. In ihr pulsiert reines Leben. Darum kann man auch von organischer Musik sprechen. Sie wird nicht konstruiert [14].

Musik-Metamorphosen erwachsen aus dem Unhörbaren - der Quellsphäre der Musik - und konzentrieren sich allmählich zu einem Themenkeim [15]. Dieser beherrscht die ganze sinfonische Entwicklung. Aus dieser Einheit erwachsen alle Differenzierungen. Denn trotz der Vielheit der sich eröffnenden musikalischen Wege bleibt der Inhalt des Themas stets anwesend, immer produktiv, weiterschreitend, zielstrebig... Das 'Ganze' beherrscht die 'Teile' und letztere leben aus dem ersteren. Alle Orchesterstimmen werden aus dem Thema und seinem Umfeld entwickelt.

Sätze mit jeweils thematischen Neuanfängen, wie in der klassischen Sinfonie, kann es nicht mehr geben, wohl aber Glieder. Die historischen Satzcharaktere gehen sich durchdringend in das Ganze über. Sie sind formale und erlebnismäßige Vorläufer der Metamorphosensinfonik.

Daraus folgt, dass hier kein kontrapunktisches, kein lineares oder sich additiv vernetzendes, kompositorisches, also zusammensetzendes Bewußtsein tätig ist, welches auf zu verarbeitende 'gute Einfälle' oder 'faszinierende Anregungen' oder schicksalhafte Lebensimpulse warten muss, um diese nach bestimmten Methoden auszuführen [16], sondern ein alles gleichzeitig umfassendes Bewußtsein - ein sich in den Quellströmen der Musik frei bewegendes sowohl individualisiertes als auch universalisiertes 'Erlebnisbewußtsein' . Dieses handhabt die äußerlichen musikalischen Parameter als bewirkte Ausdrucksweisen lebendiger Zusammenhänge, verwebt sie und läßt sie so zu einem hörbaren musikalischen Organismus heranreifen. Auch die zur Darbietung nötigen Instrumente mit ihren spezifischen Charakteren und Aussageweisen gehen aus diesem Erlebnisbewusstsein hervor [17]. Scherber schilderte diese Art von Bewusstseinstätigkeiten als ein ‚Über-Kreuz-Erleben’. „Im Innern nicht ich, sondern die Welt; außen nicht die Welt, sondern sich selbst.“ Die dabei durchzumachenden Erlebnisse „können nicht in Worte gebracht werden, nur zunächst in Tongebilde: dramatisch-symphonisches Geschehen. Wesentlich: der schöpferische Mensch ist dabei wacher (gesteigertes Bewusstsein), die Erlebnisse realer!“ Metamorphosenmusik geht über traditionell geschaffene Musik mit ihren Modulations- und Variationsweisen, über kombinatorische, serielle, aleatorische, über computergenerierte Musik hinaus, obwohl sie Elemente dieser Kompositionsweisen in sich trägt. Sie wird durch strenge Schulung aus bewußt gewordenen Lebensprozessen und umfassenderen Schöpfungstätigkeiten gewonnen. Es gibt folglich keine Konstruktionen, keine Sensationen oder Sentimentalitäten etc.. wie Scherber in seinem Hinweis Von Urquellen deutlich macht.

Der Tonkünstler ordnet Disharmonisches und Konsonantisches zeitgerecht in den Musikstrom ein, läßt beides angemessenerweise zur Geltung kommen, und löst, wenn nötig, sentimental ausufernde Konsonantik, brutal und zerstörerisch sich breit machende Disharmonik im Harmonischen der Musik auf. Er beherrscht das Ganze, denn er lebt in ihm und dieses gibt den Gliedern ihren Sinn. Disharmonien lässt er als Anregungen und Weckimpulse; Konsonanzen als Ruhe-, Festigungs- und Regenerationsphasen gelten. Eine hypertrophiernde Emanzipation der Disharmonien oder anderer vereinzelter musikalischer Elemente, eine Musik ohne Herz und Zentrum, kann es hier nicht geben. Das musikalische Thema durchdringt bei Scherber als sich wandelndes bewusstseinstiftendes Element, als ‚unendliche Melodie’ die sinfonischen Entwicklungen, die Rhythmen strömen in reiner schöpferischer Energie dahin und sogar die Harmonik gerät in Bewegung, wird lebendig. Sie ‚kippt’ fortwährend aus ihrer Vertikalität und sucht zusammen mit Melodie und Rhythmus ihre musikalische Vollendung.

Es wirken - und das macht die Beurteilung der Metamorphosenmusik erst einmal nicht leicht - viele historisch-musikalische Elementarprozesse in ihr. Umgekehrt wirft sie Licht auf die bisherige Musikevolution. Das Neue lebt im 'Wie' der Durchführungen, denn Metamorphosensinfonien sind 'Durchführungssinfonien'. Feine Wandlungen des sich scheinbar Wiederholenden und die besondere Art des Einsatzes der disharmonischen und konsonantischen Elemente bewirkt, dass das musikalische Bewußtsein sich ‚auf der Wanderschaft’ erlebt. Metamorphosensinfonik ist eben offene, eigentlich nur anregende Musik und kann nicht zuende sein, selbst wenn sie endet.

Metamorphosenmusik ist absolute Musik. Sie hat unmittelbar mit dem menschlichen Leben und seinen Entwicklungsmöglichkeiten in der Welt, in welche der Mensch mit seinen Erkenntnisbemühungen, Freuden, Leiden und Taten eingebettet ist, zu tun. Doch ist in ihr trotz diese Bezuges kein Programm zu vermuten. Sie ist in ihrer Absolutheit weder wurzellos noch abstrakt, sondern dient den Lebensbedürfnissen der Menschen in ihrer Zeit.

Die Metamorphosenmusik steht, trotz der schriftlichen Fixierung, der echten musikalischen Improvisation nahe. Sie stellt in der Regel einen kleinen Ausschnitt aus dem Gesamterleben des Komponisten dar, der nicht nur eine starke Konzentration auf dem Wege zu ihr, sondern auch bei der Umkehrung in das sinnlich Fassbare und Präsente herbeiführen muss.

Die Klavierimprovisation gehörte beispielsweise zu den besonderen Fähigkeiten von Martin Scherber. Ein Können, welches durch den spirituellen Anschluss an die Sphären des Lebens, an die tieferen Quellen der Musik überhaupt, seine Wirksamkeit entfaltet. Nicht umsonst waren alle großen Komponisten wie Ludwig van Beethoven oder Anton Bruckner begnadete Improvisatoren, weil sie sich seelisch frei entweder spontan beim Spielen in die Quellregionen der Musik hineinspürten, oder bei ihren schriftlich ausgearbeiteten Werken aus diesen heraus - eben authentisch - komponieren konnten.

Alltagsarbeit

Neben dem Unterrichten und Komponieren leitete Scherber über Jahrzehnte hinweg (1946-74) Kurse und Arbeitskreise zu erkenntnistheoretischen, künstlerischen und sozialen Themen. Er war ein sensibler, humorvoller, sehr aufmerksam zuhörender Gesprächspartner und war fähig, in den Fragen, Problemen und Idealen seiner Gesprächspartner zu leben. Daraus erwuchsen die Anregungen, die er hier und da geben konnte - und lebenslange Freund- und zeitbedingte Feindschaften. Auch seine umfangreichen Korrespondenzen geben davon Kunde. Er wanderte gerne in der Fränkischen Schweiz, den Alpen, der Lüneburger Heide und an der Nordsee. Im Familiengarten nicht weit von seiner Wohnung konnte man ihn regelmäßig treffen. [18] Spazierengehen und Gärtnern wäre er seiner Gesundheit schuldig, sagte er immer. Darum sparte er sich auch die dafür notwendige Zeit bewußt ab.

Unfall

Im Mai 1970 setzte ein schwerer Unfall diesen Tätigkeiten ein Ende - gerade als mit der Veröffentlichung seines symphonischen Werkes begonnen werden sollte. Ein volltrunkener Autofahrer fuhr Scherber auf einem Spaziergang zusammen, so muss der Tatbestand berichtet werden. Nach schwierigen Operationen, wochenlanger künstlicher Ernährung und einem achtmonatigen Krankenhausaufenthalt blieb er zeitlebens - wegen verbliebener Lähmungen - an den Rollstuhl gefesselt und konnte musikalisch und kompositorisch nicht mehr arbeiten. Was dieser brutale Eingriff in die Biographie eines so sensiblen Künstlers bedeutete, dürfte schwer nachvollziehbar sein. Er unterstützte die Veröffentlichung jedoch weiterhin mit besten Kräften und führte seinen Hauptarbeitskreis bis zu seinem Lebensende fort.

Er starb am 10. Januar 1974 in seiner Heimatstadt am Versagen der beim Unfall gequetschten Nieren (akute Zuckerkrankheit) - inmitten heftiger Auseinandersetzungen mit der Versicherung des Unfallfahrers, die ihm, obwohl gerichtlich seine Unschuld festgestellt worden war, eine Mitschuld am Unfall diktieren wollte.

Werke (Auszug)

Klavierwerke
  • Tänze für zwei Klaviere zu je vier Händen
  • ABC-Stücke für Klavier (ca.1938–1963), UA: offen
Partiturtitel der Grossen Metamorphosensinfonie in f-moll (1951/52), Faksimileausgabe bei Hans Bosannek, Nürnberg 1973
Klavierbearbeitungen
  • Max Reger: Symphonischer Prolog für Großes Orchester von 1908 (1926)
  • Anton Bruckner: Sinfonien No. 3 bis 9, (1948-50)
  • Martin Scherber: Sinfonien No. 1 bis 3, (1951-55)
Sinfonische Musik
  • 1. Sinfonie in d-moll 1938 (Überarbeitung 1952), UA 11. März 1952 in Lüneburg; Lüneburger Sinfonie-Orchester, Dirigent Fred Thürmer
  • 2. Sinfonie in f-moll 1951–1952, UA 24. Januar 1957 in Lüneburg; Niedersächsisches Sinfonie-Orchester Hannover, Dirigent Fred Thürmer
  • 3. Sinfonie in h-moll 1952–1955, UA offen
Vokalwerke
  • Goethelieder (1930), 7 Vertonungen
  • Stör’ nicht den Schlaf 1936 (Morgenstern)
  • Wanderers Nachtlied 1937 (Goethe)
  • Kinderliederzyklen 1930/1937 (Scherber (9), Brentano (18))
  • Hymne an die Nacht 1937 (Novalis)
  • Chöre a cappella (10) und Chöre mit Klavier oder Orchester (3 Stücke)
Texte
  • Von Urquellen wahrhaft moderner Kunst und der Allverbindung des vereinsamten Menschen (1972)
  • Warum heute wieder Märchen? (1972)
  • Aphorismen I + II (1976 und 1993)
Titelseite der II. Symphonie (1952-55) als CD im Digipak mit Texten in deutscher, englischer, französischer, spanischer und russischer Sprache, Veröffentlichung 2010

Diskografie

Große Metamorphosensinfonien

  • Sinfonie No. 3 in h-moll, 2001 bei col legno WWE 1 CD 20078; World Premiere Recording. Herausgeber: Peermusic Classical, Hamburg 2001.
  • Sinfonie No. 2 in f-moll, 2010 bei cascade Order No. 05116; am@do-classics. World Premiere Recording. Herausgeber: Bruckner-Kreis, Nürnberg 2010

Anmerkungen

  1. Bernhard Scherber * 1. Dezember 1864 in Klein Tschachwitz bei Dresden - † 8. Juni 1941 in Nürnberg; Maria Scherber geb. Egloff * 20. Juli 1878 in Maxhütte/Oberpfalz - † 11. März 1963 in Nürnberg
  2. Booklet zur Sinfonie No. 3 in h-moll durch Martin Scherber, Peermusic Classical, Hamburg/ col legno Bad Wiessee 2001, S. 7.
  3. Martin Scherber Autobiographische Notiz 1 aus dem Nachlaß; Archiv des Bruckner-Kreises Nürnberg (A/BRK-N)
  4. heute Bismarck-Schule
  5. Oberrealschule an der Löbleinstraße; heute: Hans-Sachs-Gymnasium Nürnberg
  6. Martin Scherber: Autobiographische Notiz 2. Archiv Bruckner-Kreis Nürnberg (A/BRK-N).
  7. heute: Hochschule für Musik und Theater
  8. Vermutlich von der Stadt Nürnberg - für die gesamte Studienzeit an der Akademie 1925-28
  9. 'Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller' von 1886; Rudolf Steiner Verlag Dornach, 8. neu durchgesehene Auflage 2003 (GesamtAusgabe) GA 2, ISBN 978-3-7274-0020-9
  10. "Grandiose Goethefeier im Stadttheater" mit Prolog von Martin Scherber, Zeitung Aussig, 1932
  11. Henning Kunze: Die Metamorphose als Wesenselement der Musik. In: Die Drei. 9/1990, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1990, S. 676-687, Hinweise auf die Zweite Sinfonie
  12. Henning Kunze: Zur Dritten Symphonie von Martin Scherber. Booklet zur Dritten, Peermusic Classical/col legno, 2001, S. 4-7.
  13. Er wurde am 6.11.1940 als Soldat nach Brockzettel einberufen, war mit der schweren Bahnflak in Deutschland, Polen, Frankreich und Dänemark unterwegs, kam ins Musikcorps nach Rerik, war Sanitäter vom 7.5.-29.11.1945 in Lüneburg, wurde dann in Munsterlager vom 29.11.1945-22.1.1946 gefangen gesetzt und schließlich über Lüneburg nach Nürnberg entlassen
  14. siehe Darstellung bei Henning Kunze ‚Die Metamorphose ale Wesenselement der Musik’ Anmerkung 11
  15. Booklet zur Symphony No. 2, Cascade Medien, Staufen im Breisgau 2010 ‚Grosse Metamorphosensymphonie in f-moll’, Seite 6-10
  16. „Ich behaupte nur, daß sie [die Inspiration] keineswegs eine Voraussetzung für den schöpferischen Akt ist, sondern daß sie in zeitlicher Folge eine Äußerung von sekundärer Art ist“. [...] „Im eigentlichen Sinn bedeutet Kunst so viel, wie Werke nach bestimmten Methoden herstellen.“ Nach Igor Strawinskys ‚Musikalische Poetik’; aus einem Brief Martin Scherbers an Fred Thürmer vom 27.6.1955, Zitat leicht nach dem Werk korrigiert. Strawinsky, Igor: Musikalische Poetik, Wiesbaden 1960, S. 34.
  17. Friedrich Oberkogler. Vom Wesen und Werden der Musikinstrumente, Novalis Verlag, Schaffhausen, 1985; ISBN 3721400062
  18. Seine Wohnung lag in der Nürnberger Schoppershofstrasse 34. Der Garten war im Osten von ihr, jenseits der Welserstrasse auf der später auch der Unfall geschah. Heute ist das Gelände überbaut. Aus der Welserstrasse wurde eine doppelspurigen Hauptverkehrsader

Weblinks

Commons: Martin Scherber - Weitere Bilder oder Audiodateien zum Thema