Enthymesis

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Enthymesis (griech. ἐνθύμησις „Hineinfühlung“), wörtlich die Einfühlung in den eigenen Thymos (griech. θυμός „Lebenskraft“), d.h. in die eigene leiblich mitbedingte Gemütsverfassung, im weiteren Sinn die Erwägung oder Überlegung als Ergebnis einer gefühlsgetragenen Urteilsbildung, ist in manchen gnostischen Systemen, etwa bei den Simonianern oder Valentinianern, eine Eigenschaft eines der wesenhaften Äonen, die aus der Gottheit emaniert wurden, meist ein Aspekt der in die Finsternis außerhalb des Pleromas gefallenen Sophia oder Achamoth. Der römischer Kaiser Konstantin der Große hat Enthymesis als „zur Materie gehörender begreifender Gedanke“ gedeutet.[1] In der spätmittelalterlichen Mystik wir der Begriff Enthymesis auch verwendet, um das Wesen der Begierde zu bezeichnen.

Aus dem ungezeugten Feuer entspringt für die Simonianer die gezeugte Welt in sechs Wurzeln, die drei männlich-weibliche Paare (Syzygien) bilden: Nus (Verstand) und Epinoia (Vorstellung, Einsicht), Phone (Stimme, Laut) und Onoma (Name), Logismos (Urteil) und Enthymesis (Erwägung). In ihnen vereinigt sich - zunächst nur als Möglichkeit (Potenz) - der Siebente, die «unendliche Kraft» (griech. δύναμις, dýnamis). Nus und Epinoia sind zugleich Himmel und Erde, Phone und Onoma sind Sonne und Mond und Logismos und Enthymesis Luft und Wasser, wobei allen die «unendliche Kraft» beigemischt ist. (Hippolyt von Rom: Ref. VI,13) Gemeinsam entsprechen sie den Schöpfungstagen der Bibel. Die Enthymesis bringt also hier das Wasserelement hervor.

Irenäus von Lyon († um 200) schreibt über die entsprechenden Lehren der Valentinianer:

„Wir kämen nun zu den Vorgängen, die sich außerhalb des Pleroma zugetragen haben. Da soll zunächst die Enthymesis der oberen Weisheit, die sie auch Achamoth nennen, mit der Leidenschaft von dem oberen Pleroma abgesondert und in die Räume des Schattens und der Leere zwangsweise hinausgeworfen sein. So war sie verbannt von dem Licht und dem Pleroma, form- und gestaltlos wie ein Embryo, nicht imstande, etwas zu erfassen. Da erbarmte sich ihrer Christus, dehnte sie aus durch sein Kreuz[2] und gab ihr Gestalt durch seine Kraft, so daß sie zur Existenz, doch nicht zum Bewußtsein gelangte. Darauf hat er sie wieder verlassen und ihr seine Kraft entzogen, damit sie inne würde des Leidens, welches eine Folge war ihrer Trennung vom Pleroma, und Sehnsucht nach dem Höheren empfinde, denn ihr war ja von Christus und dem Hl. Geiste eine gewisse Ahnung der Unsterblichkeit hinterlassen. Deswegen trägt sie auch zwei Namen: nach dem Vater Sophia, wie ja auch ihr Vater Sophia heißt, und Heiliger Geist wegen des Geistes Christi.“

Irenäus von Lyon: Contra Haereses I 4,1 [1]

Aus den Tränen der Enthymesis, des erregten Äons, seien die Meere, Quellen, Flüsse und allerlei nasse Substanz entstanden, aus ihrem Lachen das Licht, aus ihrer Trauer und Bestürzung die körperliche Substanz der Welt (Contra Haereses I 4,3). Auch hier ist die Enthymesis die Quelle des Wasserelements.

„Auch daß die Achamoth außerhalb des Pleroma herumirrte, von dem Christus gestaltet und von dem Heiland aufgesucht wurde, sehen sie offenbart in den Worten: „Ich bin gekommen zu den Verirrten“[3]. Das verirrte Schaf nämlich erklären sie für ihre Mutter, von der die irdische Kirche ausgesät sein soll; die Verirrung aber für ihren schmerzvollen Aufenthalt außerhalb des Pleroma, aus dem die Materie entstanden sein soll. Das Weib, das ihr Haus auskehrt und die Drachme findet, deuten sie als die obere Sophia, die ihre Enthymesis verloren hatte und sie später fand, als alles durch die Ankunft des Heilandes gereinigt wurde. Darum wird diese auch nach ihnen wieder in das Pleroma eingesetzt.“

Irenäus von Lyon: Contra Haereses I 8,4 [2]

Woher aber die Enthymesis ihren Schweiß und ihre Tränen nimmt, aus denen sie die materielle Welt bildet, erscheint Irenäus unklar:

„Woher dem Schöpfer sich die Weltenmaterie darbot, danach fragen sie; woher aber ihre Mutter, die sie auch Enthymesis oder Andrang eines irrenden Äonen nennen, so viele Tränen und Schweiß und Traurigkeit und die übrige materielle Absonderung hatte, danach fragen sie nicht.“

Irenäus von Lyon: Contra Haereses II 10,3 [3]

Auch misst Irenäus der Enthymesis - im Gegensatz zu den Gnostikern - nur akzidentielle und keine wesenhafte Bedeutung zu. Die Leidensgeschichte der Sophia erscheint ihm daher voller Widersprüche.

„Wie konnte ferner die Enthymesis mit der Leidenschaft durchgehen und von dem Äonen sich loslösen? Die Enthymesis kann man sich doch nur denken als ein Akzidens und niemals als eine besondere Substanz.“

Irenäus von Lyon: Contra Haereses II 18,2 [4]

Und weiter:

„Wie ferner konnte die Enthymesis nach ihrer Trennung von dem Äonen noch Leiden erdulden, die ihrerseits wieder ihre Affekte waren? Der Affekt ist doch auch nur ein Akzidens, das keine selbständige Existenz besitzen kann.“

Irenäus von Lyon: Contra Haereses II 18,3 [5]

Die Enthymesis, die unstillbaren Leiden der Sophia, entstehen aber aus ihrer unerfüllbaren Leidenschaft, die sie zur Erkenntnis des «unbekannten Gottes» treibt, die ihr aber, als dem niedersten aller Äonen, verschlossen bleibt. Diese Leiden sind aber nach Irenäus nicht vom Wesen der Sophia zu trennen.

„Da nun also die Enthymesis, losgetrennt von einem Äonen, nicht existenzfähig ist, so bringen sie eine noch größere Lüge auf über ihr Leiden, indem sie dieses wiederum loslösen und trennen und als eine besondere materielle Substanz hinstellen, gleich als ob Gott nicht das Licht wäre, noch der Logos da wäre, der sie Lügen strafen, und ihre Bosheit aufdecken könnte. Was nämlich der Äon fühlte, das litt er auch, und was er litt, das fühlte er auch. Nach ihnen nämlich war die Enthymesis, die Begier, nichts anders als das Leiden des Äonen, der gedachte, den Unbegreiflichen zu begreifen, und diese Begier war sein Leiden, denn er begehrte eben Unmögliches. Wie konnte man also den Affekt und das Leiden voneinander trennen und zu einer ganz materiellen Substanz machen, da doch die Enthymesis selbst ein Leiden war und das Leiden eine Enthymesis? Also kann die Enthymesis weder ohne Äonen, noch können die Affekte ohne die Enthymesis eine besondere Substanz haben, und aufgelöst also ist hier wiederum ihr Lehrgebäude.“

Irenäus von Lyon: Contra Haereses II 18,4 [6]

Anmerkungen

  1. Heinrich Kraft: Kaiser Konstantins religiöse Entwicklung. Mohr, Tübingen 1955, S. 110 (Google books).
  2. Das Kreuz wird von den Valentinianern wesenhaft aufgefasst und als Horos oder Stauros bezeichnet, der als „Grenzpfahl“ die obere Lichtwelt von der unteren finsteren materiellen Welt trennt und zugleich Ordnung in die durch die Leidenschaft chaotisierte untere Welt bringt.
  3. Vgl. Lk 15,4 EU