Paradigma und Voluntarismus: Unterschied zwischen den Seiten

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'''Paradigma''' (von {{ELSalt|παράδειγμα}}, ''parádeigma''; abgeleitet von {{polytonisch|παρὰ}}, ''parà'' ‚neben‘ und {{polytonisch|δείκνυμι}}, ''deiknymi'' ‚zeigen‘, ‚begreiflich machen‘, im Sinn von ''Muster, Vorbild, Beispiel'') ist ein ursprünglich im [[18. Jahrhundert]] von [[Georg Christoph Lichtenberg]] geprägter [[Begriff]], der eine ''grundlegende Denkweise'' bezeichnet, die als Rahmenbedingung für alles weitere [[Denken]] und [[Forschung|Forschen]] dient.
Der '''Voluntarismus''' (von [[Latein|lat.]] ''voluntas'', [[Wille]]; auch '''Thelismus'''), die '''Willensphilosophie''', ist eine [[Philosophie|philosophische]] Richtung, die für alle [[sozial]]en und [[Psyche|psychischen]] Vorgänge das Primat des [[Wille]]ns gegenüber der bloßen [[Verstand]]estätigkeit betont. Er wird zum [[Metaphysik|metaphysischen]] Voluntarismus, wenn der Wille darüber hinaus als grundlegender [[Sein]]sfaktor des ganzen, auch außermenschlichen Weltgeschehens angesehen wird. Diesen Standpunkt hat insbesonders [[Wikipedia:Arthur Schopenhauer]] in seinem philosophischen Hauptwerk «[[Wikipedia:Die Welt als Wille und Vorstellung|Die Welt als Wille und Vorstellung]]» vertreten.


Einen völlig neuen Blickwinkel auf die historische Entwicklung der [[Naturwissenschaft]]en eröffnet 1962 [[Thomas S. Kuhn]] mit seinem bahnbrechenden Werk betreffend «[[Wikipedia:The Structure of Scientific Revolutions|Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen]]», die durch einen von Zeit zu Zeit auftretenden, grundlegenden '''Paradigmenwechsel''' bedingt seien. Ein bekanntes Beispiel ist der von [[Nikolaus Kopernikus]] konsequent vollzogene Übergang vom [[Geozentrisches Weltbild|geozentrischen]] zum [[Heliozentrisches Weltbild|heliozentrischen Weltbild]].
Nach [[Rudolf Steiner]] ist der Voluntarismus eine der sieben möglichen grundlegenden [[Weltanschuungsstimmungen]]:


Auch der durch [[Rudolf Steiner]] formulierte naturwissenschaftliche [[Goetheanismus]] bedeutete einen solchen Paradigmenwechsel, wenngleich dieser im außeranthroposophischen wissenschaftlichen Diskurs nur selten nachvollzogen und rezipiert wird.
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"Eine dritte Stimmung der Seele, die Weltanschauungen macht,
können wir zum Beispiel bei Schopenhauer studieren. Während
Hegels Seele, wenn er hinschaut auf die Welt, so gestimmt ist, daß
zunächst in dieser Hegel-Seele alles, was in der Welt Begriff ist, als
der Logismus sich ergibt, faßt Schopenhauer durch die besondere
Stimmung seiner Seele alles das in der Seele auf, was willensartig ist.
Für ihn sind die Naturkräfte Wille, die Härte des Steines ist Wille,
alles, was Realität ist, ist Wille. Das kommt aus der besonderen Stimmung
seiner Seele. Nun kann man eine solche Weltanschauung des
Willens, solche Weltanschauungsstimmung des Willens wiederum
wie einen Planeten betrachten, der durch alle zwölf Geistes-Tierkreisbilder
geht. Ich will diese Weltanschauungsstimmung Voluntarismus
nennen. Es ist die dritte Weltanschauungsstimmung. Schopenhauer
war Voluntarist, und er war in seiner Seele vorzugsweise so
konstituiert, daß er sich aussetzte dem Geistes-Sternbilde des Psychismus.
So entstand die eigentümliche Schopenhauersche Willensmetaphysik:
Voluntarismus im Geistes-Sternbilde des Psychismus.


== Definition und Beispiel ==
Nehmen Sie einmal an, es würde jemand Voluntarist sein und
Eine heute gebräuchliche Lehrbuchdefinition ist beispielsweise: {{"|1=Ein Wissenschaftsparadigma ist ein einigermaßen zusammenhängendes, von vielen Wissenschaftlern geteiltes Bündel aus theoretischen Leitsätzen, Fragestellungen und Methoden, das längere historische Perioden in der Entwicklung einer Wissenschaft überdauert.|2=Jens B. Asendorpf|3=''Persönlichkeitspsychologie.'' Springer, Heidelberg 2009, ISBN 978-3-642-01030-9, S.&nbsp;13.|ref=ja}} Die Ersetzung eines Paradigmas durch ein anderes heißt [[Paradigmenwechsel]].
besonders hinneigen zu dem Geistes-Sternbilde des Monadismus.
Dann würde er nicht wie Schopenhauer so eine Einheitsseele, die
eigentlich Wille ist, der Welt zugrunde legen, sondern er würde viele
Monaden, die aber Willenswesen sind, der Welt zugrunde legen.
Diese Welt des monadologischen Voluntarismus hat in schönster,
scharfsinnigster und, ich möchte sagen, innigster Weise der österreichische
Dichterphilosoph Hamerling ausgebildet. Wodurch ist die
eigentümliche Lehre, die Sie in der «Atomistik des Willens» von
Hamerling haben, zustande gekommen? Dadurch, daß seine Seele
voluntaristisch gestimmt war und er sich vorzugsweise ausgesetzt hat
dem Geistes-Sternbilde des Monadismus. Wenn wir Zeit hätten,
könnten wir für jede Seelenstimmung in jedem Sternbilde Beispiele
anführen. Sie finden sich in der Welt." {{Lit|{{G|151|53f}}}}
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Paradigmen spiegeln einen gewissen allgemein anerkannten [[Konsens]] über Annahmen und Vorstellungen wider, die es ermöglichen, für eine Vielzahl von Fragestellungen Lösungen zu bieten. In der Wissenschaft bedient man sich in diesem Zusammenhang auch oft [[Naturwissenschaftliches Modell#Wissenschaftstheorie|Modellvorstellungen]], anhand derer man Phänomene zu erklären versucht. Der amerikanische [[Wissenschaftstheorie|Wissenschaftstheoretiker]] [[Thomas S. Kuhn]] definiert in seinem Buch ''Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen'' ein „wissenschaftliches Paradigma“ als:
== Siehe auch ==
 
* das, was beobachtet und überprüft wird
* die Art der Fragen, welche in Bezug auf ein Thema gestellt werden und die geprüft werden sollen
* wie diese Fragen gestellt werden sollen
* wie die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung interpretiert werden sollen
 
== Das Paradigma in der Erkenntnistheorie ==
Bei [[Aristoteles]] ist παράδειγμα ''paradeigma'' das [[Induktion (Denken)|induktive]] Argument in der [[Rhetorik (Aristoteles)|Rhetorik]]. Es bezeichnet ein rhetorisches Schlussverfahren mit dessen einzelnen Fällen, beruhend auf Beispielen. Im Gegensatz zu anderen induktiven Argumenten geht man hierbei nicht von besonderen Fällen zu einem allgemeinen über, sondern von einem besonderen Fall zu einem anderen besonderen von gleicher Art.<ref>Rhetorik I.2, 1357b25 ff.5., zitiert nach: ''The Three Means of Persuasion'' [http://plato.stanford.edu/entries/aristotle-rhetoric/ ''Aristotle’s Rhetoric'']</ref>
 
[[Giorgio Agamben]] definiert in seiner Schrift „Signatura rerum“ das Paradigma als „eine Erkenntnisform, die weder induktiv, noch deduktiv, sondern analogisch ist, somit von einem Besonderen zu einem anderen Besonderen fortschreitet“.<ref>Giorgio Agamben: ''Signatura rerum – zur Methode'', Frankfurt a.&nbsp;M. 2009, S. 37.</ref> Er verweist in diesem Zusammenhang auf das Paradigma-Verständnis seines Lehrers [[Michel Foucault]] als „Beschreibung von Diskursen als historischer Artikulation eines Paradigmas“<ref>Agamben, op. cit., S. 12.</ref> und zeigt  den Zusammenhang zwischen Foucaults [[Épistémologie|epistemologischem]] Paradigmenverständnis und dem normbildenden Konzept [[Thomas S. Kuhn]]s,<ref>Thomas S. Kuhn, ''Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen'', Frankfurt a.&nbsp;M. 1967, Originalausgabe: ''The Structure of Scientific Revolution'', Chicago 1962.</ref> wobei er auf die doppelte Bedeutung des Paradigmabegriffs bei Kuhn hinweist: Kuhns Paradigma entspricht demnach einerseits einer „Disziplinarmatrix“ als „das, was die Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft miteinander teilen, eine Gesamtheit von Techniken, Modellen und Werten“,<ref>Agamben, op. cit., S. 13.</ref> gilt aber auch „für ein einzelnes Element dieser Gesamtheit – für die Principia Newtons, für den Almagest des Ptolemäus –: für ein Element, das als gemeinschaftliches Beispiel dienend, an die Stelle ausdrücklicher Regeln tritt und so eine bestimmte, in sich geschlossene Forschungstradition definiert“.<ref>Agamben, op. cit., ibid.</ref>
 
Kuhn definiert Paradigmen als „allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern“.<ref>Kuhn, op. cit., S. 11.</ref> Agamben geht mit seiner Paradigma-Definition zurück bis an die philosophischen Wurzeln des Begriffs in [[Aristoteles]]’ [[Analytica priora]], wo es heißt, „dass die Funktionsweise des Paradigmas nicht die eines Teils ist, der sich zu einem Ganzen verhält, noch die eines Ganzen, das sich zu einem Teil verhält, sondern die eines Teils, der sich zu einem Teil verhält“ (Analytica priora, 69a 13f).<ref>Zit. in Agamben, op. cit., S. 23.</ref> Agamben ergänzt hierzu: „Das epistemologische Statut des Paradigmas wird erst dann deutlich, wenn wir die These des Aristoteles radikalisieren und zu verstehen beginnen, dass er die [[Dichotomie|dichotomische]] Opposition zwischen dem Partikularen und dem Universalen in Frage stellt“.<ref>ibid</ref> Das „epistemische Statut“ bezieht Agamben konkret auf die medizinische [[Semiotik]] des [[Paracelsus]]: „Die Idee, dass alle Dinge ein Zeichen tragen, das ihre unsichtbaren Eigenschaften manifestiert und offenbart, bildet den Ursprungskern der paracelsischen Episteme“.<ref>Agamben, op. cit., S. 41.</ref> Die Funktion des Paradigmas besteht somit nach Agamben in der Übertragung der Signatur des Ursprungsbegriffs.
 
In seinem vielzitierten Aufsatz „Clues: Roots of a Scientific Paradigm“<ref>Carlo Ginzburg, Clues: ''Roots of a Scientific Paradigm.'' In: ''Theory and Society'', Vol. 7, No. 3, Mai 1979, S. 273–288. Agamben führt den Ginzburg-Aufsatz ebenfalls, jedoch mit späteren Quellen an, cf. Agamben S. 84–86.</ref> bezeichnet [[Carlo Ginzburg]] das Paradigma mit ausdrücklichem Bezug auf Kuhn ebenfalls als „epistemologisches Modell“ und erläutert konkret das Indizien-Paradigma als ein Deutungsmuster, dessen Ursprung in der medizinischen Semiotik liegt und als „Morelli-Methode“ bekannt wurde. Dem Arzt und Kunstkritiker [[Giovanni Morelli]] gelang es, Fälschungen alter Meister, aber auch die Autorenschaft nicht signierter Gemälde durch Details wie Ohrmuscheln und Fingernägeln zu belegen. [[Sigmund Freud]] wurde auf Morelli früh aufmerksam und beschrieb dessen Technik – die, wie Ginzburg betonte, große Ähnlichkeit mit der akribischen Spurensuche des Sherlock Holmes aufweist – in „Der Moses des Michelangelo“ (1914) wie folgt: „Ich glaube, sein Verfahren ist mit der Technik der ärztlichen Psychoanalyse nahe verwandt. Auch diese ist gewöhnt, aus gering geschätzten oder nicht beachteten Zügen (…) Verborgenes zu erraten“<ref>Zit. in Agamben, op. cit., S. 86.</ref> Ginzburgs „semiotisches“ Paradigmaverständnis ist im Einklang mit Kuhn, der Wissenschaft als „das Lösen von Rätseln“ definiert,<ref>Kuhn, op. cit., S. 49.</ref> das „nur Mangel an Scharfsinn hindern könnte“.<ref>ibid</ref> Kuhn selbst weist im Vorwort seines Standardwerks den polnischen Mediziner [[Ludwik Fleck]], dessen „Denkstil“ „das innerhalb eines Denkkollektiv Relevante vom darin nicht relevanten abgrenzt“<ref>Agamben, op. cit., S. 13; cf. Kuhn, op. cit., S. 8.</ref> als maßgebliche Quelle seines Paradigma-Verständnisses aus.


Die Semiotik in ihrem Selbstverständnis als „Verfahrenshypothese [und] [[Methodologie|methodologisches]] Netz, das wir über die Vielfalt der Phänomene geworfen haben, um von ihnen sprechen zu können“<ref>Umberto Eco: ''Einführung in die Semiotik'', München 1972, S. 18.</ref> ist ebenfalls Hintergrund des Kuhnschen Paradigma-Begriffs. Ihre Anfänge als Wissenschaft liegen (neben der Zeichentheorie von [[Charles Sanders Peirce]]) bei [[Ferdinand de Saussure]], dem eine „[[Semiologie]] als Translingustik“<ref>Eco, op. cit., S. 17.</ref> vorschwebte. So liefern auch die Linguistik und die nach dem „[[Linguistische Wende|Linguistic Turn]]“ sprachwissenschaftlich orientierte Philosophie Beiträge zum Begriff des Paradigma. [[Syntagma]] und Paradigma sind als Elemente der synchronen Struktur zentrale Begriffe bei Ferdinand de Saussure, der nicht nur als Begründer der Linguistik, sondern auch als Hauptinitiator des [[Strukturalismus]] gilt. Kuhn bezieht sich explizit auf [[Ludwig Wittgenstein]], der das Paradigma als „etwas, womit verglichen wird“ beschreibt (Philosophische Untersuchungen § 50) und von „Familienähnlichkeiten“ spricht (§ 66f). Saussure betont „die Willkürlichkeit des verbalen Zeichens, das, weil konventionell, keine innere und folglich stabile Beziehung zu seiner Bedeutung enthält“.<ref>Jean Piaget: ''Der Strukturalismus'', Olten 1973, p. 75</ref> Dieser Charakter der Übereinkunft ist grundlegend für Kuhns Paradigmaverständnis, das auch ein strukturalistisches ist. So erwähnt Kuhn im Vorwort seines Hauptwerks [[Benjamin Whorf]], der davon ausgeht, dass die Strukturen der Sprache das Denken prägen und [[Jean Piaget]], der die psychologischen Strukturen der Persönlichkeitsentwicklung erarbeitet hat.
* {{WikipediaDE|Voluntarismus}}
 
Kuhn selbst hat auf eine stringente Definition seines Paradigma-Begriffs letztlich verzichtet. Während die strukturalistischen Komponenten seines Werks eher assoziativ miteinander verbunden sind, liefert die Wissenschaftsgeschichte den konkreten Bezugspunkt für seine Thesen. Im Vorwort seines Hauptwerks<ref>Kuhn, op. cit., S. 8.</ref> benennt er die Arbeiten von [[Alexandre Koyré]], [[Emile Meyerson]], [[Hélène Metzger]] und [[Anneliese Maier]], deren Studium ihm „fast ebenso wichtig wie das primäre Quellenmaterial“(ibid) war. Nach der Umwälzung der Physik durch Relativitäts- und Quantentheorie, die „ein Gefühl hervorgerufen hat, als würde der Boden, auf dem die Naturwissenschaft steht, uns unter den Füßen weggezogen“<ref>Werner Heisenberg: ''Physik und Philosophie'', Berlin 1959, S. 139.</ref> befanden sich Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie in einem generellen Umbruch, der in Frankreich mit [[Gaston Bachelard]] in der Epistemologie mündete<ref>cf. Gaston Bachelard: ''Epistemologie'', Frankfurt a.&nbsp;M. 1974.</ref> deren Selbstverständnis und Methodik mit den Thesen Kuhns in vieler Hinsicht übereinstimmt und in deren Tradition auch [[Louis Althusser]], Michel Foucault und Giorgio Agamben stehen.
 
Es zeigt sich im Paradigmaverständnis Kuhns, Agambens und Ginzburgs ein Zusammenhang von Strukturalismus, [[Erkenntnistheorie|Epistemologie]] und Semiotik. Kuhns „Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen“ zeigt die Struktur des Paradigmas in ihren synchronen und diachronen Elementen von Übereinkunft und Wissenschaftsgeschichte. Agamben stellt die Funktion des Paradigmas als Aktualisierung des Zeichens in der Übertragung der Signatur ins Zentrum seiner Interpretation. Wenn, nach Jean Piaget, ein System aus der Verbindung von Struktur und Funktion besteht,<ref>Piaget, op. cit., S. 98.</ref> kann das Paradigma als systematische Methode der Theoriebildung verstanden werden. Ginzburg lenkt schließlich mit der semiotischen Komponente der Rekonstruktion den Blick auf ein erweitertes „dynamisches“ Verständnis des Paradigmas als epistemologischem Modell. Die Semiotik in ihrer Absicht „zu zeigen, wie den kulturellen Prozessen Systeme zugrunde liegen“<ref>Eco, op. cit., S. 38.</ref> basiert auf der „[[Dialektik]] zwischen Strukturen und historischem Prozess“,<ref>Eco, op. cit., S. 39.</ref> die als Dialektik von System und Prozess bei Kuhn im Begriff des Paradigmenwechsels evident wird.
 
Gemäß aktueller [[Georg Wilhelm Friedrich Hegel|Hegel]]-Interpretation ist der Begriff des Paradigmenwechsels „avant la lettre“ bereits in Hegels [[Phänomenologie des Geistes]] grundgelegt: „Modern gesprochen, thematisiert die ''Phänomenologie'' den Paradigmenwechsel oder die Folge von Grundlagenkrisen der Wissenschaft, der Moral usw.“.<ref>Ludwig Siep: ''Der Weg der „Phänomenologie des Geistes“'', Frankfurt am Main 2000, p. 77</ref> Demnach erfolgt der Wechsel derart, dass „zeitlich verschiedene (aber nicht immer aufeinander folgende) Gegenstandsauffassungen durch eine dialektische Bewegung verbunden sind, die letztlich auf ‚[[semantische Relation]]en‘ der zugrunde liegenden Begriffe zurückgeht“.<ref>Siep, op. cit., S. 78.</ref> Diese semantischen Relationen zeigen sich auch in Agambens Begriff der „Signatur“ und dem von Ginzburg aufgezeigten Indizien-Paradigma.
 
== Verwendungsbeispiele ==
In der [[Informatik]] spricht man vom „Paradigma der Wiederverwendbarkeit von Software“ (ein sogenanntes [[Programmierparadigma]]); in der Wirtschaft vom Paradigma der [[Teamrolle|Teamarbeit]] oder der [[Schlanke Produktion|schlanken Produktion]] (''lean production'').
 
Die Organisationstheorie kennt das Konzept der [[Organisationskultur|Unternehmenskultur]]. Eines der meist zitierten Modelle ist das Kulturnetz nach [[Gerry Johnson]]<ref>G. Johnson: ''Rethinking incrementalism.'' In: ''Strategic Management Journal'', Band 9, 1988, S. 75–91</ref> (1998), beschrieben als „Netzwerk interner Strukturen und Prozesse, welche die Selbstwahrnehmung einer Organisation kontinuierlich sowohl erzeugen als auch verstärken“. Die sieben genannten Elemente des Kulturnetzes sind: Geschichten und Mythen, Symbole, Machtstrukturen, Organisationsstrukturen, Kontrollsysteme, Rituale und Routinen und das Paradigma.
 
In der Verhaltenswissenschaft bezeichnet man mit Paradigma ein klassisches Vorurteil: Eine gefühlsbedingte, absolute Wertung (gut/schlecht), bevor eine verstandesmäßige Verarbeitung von Informationen stattfinden kann. Mit Paradigmenparalyse (eine Lähmung durch Vorurteile) ist gemeint, dass logische Denkprozesse –&nbsp;und in der Folge konsequentes Handeln&nbsp;– durch Vorurteile (Paradigmen) unterbrochen, gelähmt (paralysiert) oder verhindert werden können.
 
In der [[Psychosomatische Medizin|Psychosomatischen Medizin]] wird der Begriff [[Maschinenparadigma]] durch [[Thure von Uexküll]] gebraucht, um damit die eher ganzheitliche Sichtweise der Psychosomatik von der rein organisch ausgerichteten Medizin zu unterscheiden. Die [[Organmedizin]] habe sich durch das Vorbild der Physik das reduktionistische Maschinenmodell zu eigen gemacht. Der Physik sei es gelungen, „eine in sich geschlossene Lehre der mechanischen Kräfte zu entwickeln und den Begriff der [[Kausalität]] von den ihm noch anhaftenden metaphysischen Vorstellungen zu befreien.“<ref>Thure von Uexküll u.&nbsp;a. (Hrsg.): ''Psychosomatische Medizin.'' 3. Auflage, Urban & Schwarzenberg, München 1986, ISBN 3-541-08843-5, S. 3–4.</ref>
 
In den 1980er-Jahren hat der Physiker und Esoteriker [[Fritjof Capra]] den Begriff „Paradigmenwechsel“ verwendet, um die von ihm postulierte Wende zu einem harmonischen freiheitlichen und ganzheitlichen neuen Zeitalter zu kennzeichnen.
 
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Paradigma}}
* {{WikipediaDE|Axiom}}, ein mathematisches Paradigma
* {{WikipediaDE|Dogma}}
* {{WikipediaDE|Ideologie}}
* {{WikipediaDE|Physikalisches Gesetz}}
* {{WikipediaDE|Unternehmensleitbild}}
* {{WikipediaDE|Leitbild}}
* {{WikipediaDE|Leitkultur}}
* {{WikipediaDE|Soziologische Theorie}}


== Literatur ==
== Literatur ==
* D .G. Cedarbaum (1983): ''Paradigms.'' Studies in History and Philosophy of Science 14, S. 173–213.
#Rudolf Steiner: ''Der menschliche und der kosmische Gedanke'', [[GA 151]] (1990), ISBN 3-7274-1510-X {{Vorträge|151}}
* Michael Fischer, Paul Hoyningen-Huene (Hrsg.): ''Paradigmen. Facetten einer Begriffskarriere'' (Salzburger Schriften zur Rechts- Staats- und Sozialphilosophie, Band 17). Bern: Peter Lang, 1997. 309 S.
* Paul Hoyningen-Huene: ''Paradigma/Paradigmenwechsel.'' In: Helmut Reinalter, Peter J. Brenner (Hrsg.): ''Lexikon der Geisteswissenschaften: Sachbegriff – Disziplinen – Personen.'' Wien: Böhlau Verlag, 2011, S. 602–609.
* Paul Hoyningen-Huene: ''Paradigma.'' In: Ulrich Dierse, Christian Bermes (Hrsg.): ''Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts'' (=&nbsp;''Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft'' Nr. 6). Meiner, Hamburg 2010, ISBN 978-3-7873-1916-9, S. 279–289.
* [[Thomas S. Kuhn]]: ''Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.'' 2. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-518-27625-9.
* Alexander Peine: ''Innovation und Paradigma.'' Transcript, Bielefeld 2006, ISBN 3-89942-458-1.
 
== Weblinks ==
{{Wiktionary}}
 
== Einzelnachweise ==
<references />
 
{{Normdaten|TYP=s|GND=4044590-2|LCCN=sh/85/97744}}


[[Kategorie:Philosophie]] [[Kategorie:Wissenschaft]] [[Kategorie:Wissenschaftstheorie]] [[Kategorie:Wissenschaftspraxis]] [[Kategorie:Erkenntnistheorie]]
{{GA}}


{{Wikipedia}}
[[Kategorie:Philosophie]]

Version vom 2. Mai 2014, 09:34 Uhr

Der Voluntarismus (von lat. voluntas, Wille; auch Thelismus), die Willensphilosophie, ist eine philosophische Richtung, die für alle sozialen und psychischen Vorgänge das Primat des Willens gegenüber der bloßen Verstandestätigkeit betont. Er wird zum metaphysischen Voluntarismus, wenn der Wille darüber hinaus als grundlegender Seinsfaktor des ganzen, auch außermenschlichen Weltgeschehens angesehen wird. Diesen Standpunkt hat insbesonders Wikipedia:Arthur Schopenhauer in seinem philosophischen Hauptwerk «Die Welt als Wille und Vorstellung» vertreten.

Nach Rudolf Steiner ist der Voluntarismus eine der sieben möglichen grundlegenden Weltanschuungsstimmungen:

"Eine dritte Stimmung der Seele, die Weltanschauungen macht, können wir zum Beispiel bei Schopenhauer studieren. Während Hegels Seele, wenn er hinschaut auf die Welt, so gestimmt ist, daß zunächst in dieser Hegel-Seele alles, was in der Welt Begriff ist, als der Logismus sich ergibt, faßt Schopenhauer durch die besondere Stimmung seiner Seele alles das in der Seele auf, was willensartig ist. Für ihn sind die Naturkräfte Wille, die Härte des Steines ist Wille, alles, was Realität ist, ist Wille. Das kommt aus der besonderen Stimmung seiner Seele. Nun kann man eine solche Weltanschauung des Willens, solche Weltanschauungsstimmung des Willens wiederum wie einen Planeten betrachten, der durch alle zwölf Geistes-Tierkreisbilder geht. Ich will diese Weltanschauungsstimmung Voluntarismus nennen. Es ist die dritte Weltanschauungsstimmung. Schopenhauer war Voluntarist, und er war in seiner Seele vorzugsweise so konstituiert, daß er sich aussetzte dem Geistes-Sternbilde des Psychismus. So entstand die eigentümliche Schopenhauersche Willensmetaphysik: Voluntarismus im Geistes-Sternbilde des Psychismus.

Nehmen Sie einmal an, es würde jemand Voluntarist sein und besonders hinneigen zu dem Geistes-Sternbilde des Monadismus. Dann würde er nicht wie Schopenhauer so eine Einheitsseele, die eigentlich Wille ist, der Welt zugrunde legen, sondern er würde viele Monaden, die aber Willenswesen sind, der Welt zugrunde legen. Diese Welt des monadologischen Voluntarismus hat in schönster, scharfsinnigster und, ich möchte sagen, innigster Weise der österreichische Dichterphilosoph Hamerling ausgebildet. Wodurch ist die eigentümliche Lehre, die Sie in der «Atomistik des Willens» von Hamerling haben, zustande gekommen? Dadurch, daß seine Seele voluntaristisch gestimmt war und er sich vorzugsweise ausgesetzt hat dem Geistes-Sternbilde des Monadismus. Wenn wir Zeit hätten, könnten wir für jede Seelenstimmung in jedem Sternbilde Beispiele anführen. Sie finden sich in der Welt." (Lit.: GA 151, S. 53f)

Siehe auch

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Der menschliche und der kosmische Gedanke, GA 151 (1990), ISBN 3-7274-1510-X pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.