Wahrnehmung

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Als Wahrnehmungen (eng. perception, von lat. percipere „wahrnehmen, erfassen, ergreifen, vernehmen“) bezeichnet Rudolf Steiner in seiner Philosophie der Freiheit die Empfindungsobjekte, wie sie dem Menschen durch unmittelbare Beobachtung gegeben sind. Nach allgemeinem Sprachgebrauch wird aber auch die Wahrnehmungstätigkeit selbst als Wahrnehmung bezeichnet. Gemeinsam werden beide, also die Wahrnehmungstätigkeit und der dadurch phänomenal erlebte Bewusstseinsinhalt, das sog. Perzept, auch als Perzeption (lat. perceptio) bezeichnet. Wahrnehmungen beschränken sich nicht alleine auf die sinnliche Welt, sondern man kann in gleichem Sinn auch von seelischen und geistigen Wahrnehmungen sprechen, z.B. wenn wir unsere eigenen Gefühle oder Gedanken wahrnehmen. Die Sinneswahrnehmung ist nur ein spezieller Fall der Wahrnehmung überhaupt.

Wahrnehmung und Sinnesempfindung

"Bei dem Schwanken des Sprachgebrauches erscheint es mir geboten, dass ich mich mit meinem Leser über den Gebrauch eines Wortes verständige, das ich im folgenden anwenden muss. Ich werde die unmittelbaren Empfindungsobjekte, die ich oben genannt habe, insofern das bewusste Subjekt von ihnen durch Beobachtung Kenntnis nimmt, Wahrnehmungen nennen. Also nicht den Vorgang der Beobachtung, sondern das Objekt dieser Beobachtung bezeichne ich mit diesem Namen.

Ich wähle den Ausdruck Empfindung nicht, weil dieser in der Physiologie eine bestimmte Bedeutung hat, die enger ist als die meines Begriffes von Wahrnehmung. Ein Gefühl in mir selbst kann ich wohl als Wahrnehmung, nicht aber als Empfindung im physiologischen Sinne bezeichnen. Auch von meinem Gefühle erhalte ich dadurch Kenntnis, dass es Wahrnehmung für mich wird. Und die Art, wie wir durch Beobachtung Kenntnis von unserem Denken erhalten, ist eine solche, dass wir auch das Denken in seinem ersten Auftreten für unser Bewusstsein Wahrnehmung nennen können." (Lit.: GA 4, S. 63)

Im Sinne Steiners muss man also deutlich zwischen Wahrnehmung und Empfindung (Sinnesempfindung) unterscheiden, wobei weiters zu beachten ist, dass die Wahrnehmung als Ganzes dem Bewusstsein zuerst gegeben ist; sie muss erst zergliedert werden, um zu den Empfindungen zu kommen. Primär haben wir es nämlich nicht mit einzelnen isolierten Empfindungen zu tun, sondern mit einer ganzen Gruppe miteinander verbundener Empfindungen.

"Wenn wir einem Gegenstand gegenübertreten, so ist das, was sich zuerst abspielt, die Empfindung. Wir bemerken eine Farbe, einen Geschmack oder Geruch, und diesen Tatbestand, der sich da zwischen Mensch und Gegenstand abspielt, müssen wir zunächst als durch die Empfindung charakterisiert betrachten. Was in der Aussage liegt: Etwas ist warm, kalt und so weiter, ist eine Empfindung. Diese reine Empfindung haben wir aber eigentlich im gewöhnlichen Leben gar nicht. Wir empfinden an einer roten Rose nicht nur die rote Farbe, sondern wenn wir in Wechselwirkung treten mit den Gegenständen, so haben wir immer gleich eine Gruppe von Empfindungen. Die Verbindung der Empfindungen «Rot, Duft, Ausdehnung, Form» nennen wir «Rose». Einzelne Empfindungen haben wir eigentlich nicht, sondern nur Gruppen von Empfindungen. Eine solche Gruppe kann man eine «Wahrnehmung» nennen.

In der formalen Logik muß man scharf unterscheiden zwischen Wahrnehmung und Empfindung. Wahrnehmung und Empfindung sind etwas durchaus Verschiedenes. Die Wahrnehmung ist das erste, was uns entgegentritt, sie muß erst zergliedert werden, um eine Empfindung zu haben." (Lit.: GA 108, S. 198f)

Die äußere Wahrnehmung als Spiegelung am physischen Leib

"Wie kommt eigentlich die äußere Wahrnehmung zustande ? Nun, nicht wahr, da denken die Menschen gewöhnlich - besonders Menschen, die sich sehr gescheit dünken - , daß die äußere Wahrnehmung dadurch zustande kommt, daß die Dinge draußen sind, der Mensch in seiner Haut steckt, daß die äußeren Dinge einen Eindruck auf ihn machen, und daß dadurch sein Gehirn ein Bild der äußeren Objekte und Formen in seinem Innern erzeugt. Nun, es ist ganz und gar nicht so, sondern es verhält sich ganz anders. In Wahrheit ist der Mensch gar nicht drinnen innerhalb seiner Haut [mit seinem Geistig-Seelischen]; das ist er gar nicht. Wenn der Mensch zum Beispiel dieses Rosen-Bukettchen sieht, so ist er mit seinem Ich und Astralleib in der Tat da drinnen in dem Bukettchen, und sein Organismus ist ein Spiegelungsapparat und spiegelt ihm die Dinge zurück. Sie sind in Wahrheit immer ausgebreitet über den Horizont, den Sie überschauen. Und im Wachbewußtsein stecken Sie eben mit einem wesentlichen Teil Ihres Ich und Astralleibes auch im physischen und ätherischen Leibe drinnen. Der Vorgang ist nun wirklich so - ich habe das oft in Vorträgen erwähnt - : Denken Sie sich, sie gingen in einem Zimmer herum, in dem eine Anzahl von Spiegeln an den Wänden angebracht wären. Sie können durch den Raum gehen. Wo Sie keinen Spiegel haben, sehen Sie sich selber nicht. Sobald Sie aber an einen Spiegel kommen, sehen Sie sich. Kommt eine Stelle ohne Spiegel, sehen Sie sich nicht, und wenn wieder ein Spiegel da ist, sehen Sie sich wieder. So ist es auch mit dem menschlichen Organismus. Er ist nicht der Erzeuger der Dinge, die wir in der Seele erleben, er ist nur der Spiegelungsapparat. Die Seele ist beisammen mit den Dingen da draußen, zum Beispiel hier mit diesem Rosen-Bukettchen. Daß die Seele das Bukettchen bewußt sieht, hängt davon ab, daß das Auge in Verbindung mit dem Gehirnapparat der Seele das zurückspiegelt, womit die Seele zusammenlebt. Und in der Nacht nimmt der Mensch nicht wahr, weil er, wenn er schläft, Ich und Astralleib aus seinem physischen und ätherischen Leib herauszieht, und diese dadurch aufhören, ein Spiegelungsapparat zu sein. Das Einschlafen ist so, als ob Sie einen Spiegel, den Sie vor sich hatten, wegnehmen. Solange Sie in den Spiegel hineinsehen können, haben Sie Ihr eigenes Antlitz vor sich; nehmen Sie den Spiegel weg, flugs ist nichts mehr da von Ihrem Antlitz.

So ist der Mensch in der Tat mit dem seelisch-geistigen Wesen in dem Teil der Welt, den er überschaut, und er sieht ihn dadurch bewußt, daß ihn sein Organismus spiegelt. Und in der Nacht wird dieser Spiegelungsapparat weggezogen, da sieht er nichts mehr. Der Teil der Welt, den wir sehen, der sind wir selbst.

Das ist eines der schlimmsten Stücke der Maja, daß der Mensch glaubt, er stecke mit seinem Geistig-Seelischen in seiner Haut. Das tut er nicht. In Wirklichkeit steckt er in den Dingen, die er sieht. Wenn ich einem Menschen gegenüberstehe, so stecke ich in ihm drinnen mit meinem Ich und Astralleib. Würde ich nicht meinen Organismus ihm entgegenhalten, so würde ich ihn nicht sehen. Daß ich ihn sehe, daran ist mein Organismus schuld, aber mit meinem Ich und Astralleib stecke ich in ihm drinnen. Daß man das nicht so ansieht, das gehört eben zu den, ich möchte sagen, verhängnisvollsten Dingen der Maja.

So verschaffen wir uns eine Art Begriff, wie das Wahrnehmen und das Erleben auf dem physischen Plan ist." (Lit.: GA 156, S. 22f)

Über die vermeintliche Subjektivität der Wahrnehmung

Nach einer bis heute verbreiteten Ansicht wird den als Wahrnehmung gegebenen Sinnesqualitäten, den Qualia, namentlich den von John Locke so genannten sekundären Sinnesqualitäten, zu denen etwa Farben, Töne, Wärme-, Geschmacks- und Gerucheindrücke zählen (also die Sinnesmodalitäten der klassischen fünf Sinne), jeglicher objektive Charakter abgesprochen. Sie seien nur subjektive, durch die Sinnesorgane und das Gehirn bedingte Reaktionen auf äußere Reize, die als solche keine Ähnlichkeit mit den im Bewusstsein erlebten Sinnesqualitäten hätten. Untermauert wurde diese Ansicht wesentlich durch das von dem Biologen Johannes Müller 1826 aufgrund empirischer Untersuchungen formulierte Gesetz der spezifischen Sinnesenergien, wonach jedes Sinnesorgan, egal durch welche Art von Reiz es erregt wird (etwa mechanisch, durch Licht, Elektrizität usw.), stets mit der ihm eigentümlichen Sinnesmodalität antwortet. So liefert etwa das Auge, egal wie es gereizt wird, stets nur Hell/Dunkel- und Farbeindrücke, das Ohr nur Töne bzw. Geräusche usw.

Diese Ansicht beruht nach Rudolf Steiner auf einem grundlegenden Irrtum. Im Wesen der Sinnesorgane liege es gerade, dass sie sich in ihrem Eigenwesen so weit zurücknehmen, dass sie gleichsam völlig durchsichtig für die objektiv gegebenen Wahrnehmungen sind. Und das gilt nicht nur für das Auge, sondern für alle Sinne. Es sei eben überhaupt völlig verkehrt, davon auszugehen, dass die im Bewusstsein erlebte Wahrnehmung eine bloß subjektive Reaktion auf den objektiv gegebenen Reiz sei. Die Unterscheidung zwischen subjektiv und objektiv sei nicht durch die Wahrnehmung, sondern erst durch das Denken gegeben - und dieses zeige, dass die Eigenart der Sinnesorgane gerade darin besteht, dass sie sich in ihrem Eigenwesen soweit ausschalten, dass sie dem Bewusstsein den Zugang zu der objektiv gegebenen Wahrnehmung eröffnen. Der Reiz als solcher hat mit der objektiv gegebenen Wahrnehmungsqualität unmittelbar gar nichts zu tun, sondern schafft nur die Gelegenheit, dass diese wahrgenommen werden kann. So hat etwa die auf das Auge eintreffende elektromagnetische Welle spezifischer Wellenlänge unmittelbar nichts mit der erlebten Farbqualität zu tun, aber sie bildet zusammen mit dem Auge als Sinnesorgan die notwendige Voraussetzung dafür, dass die Farbe sinnlich wahrgenommen werden kann. Diese ist nicht weniger objektiv gegeben als die elektromagnetische Welle, die dem Bewusstsein gleichsam nur den Weg bahnt, sich mit der Farbe wahrnehmend zu verbinden. Das Auge ist aber ein Wahrnehmungsorgan für die Farben und nicht für die elektromagnetische Welle, denn diese wird durch das Auge eben gerade nicht wahrgenommen, sondern vollständig ausgeblendet. Darin liegt auch die Schwierigkeit, die Physiker zumeist mit Goethes Farbenlehre haben, denn diese beschäftigt sich unmittelbar mit den Farben und nicht mit den elektromagnetischen Wellen, die in der Physik mittels geeigneter Messinstrumente untersucht werden. Es ist sogar sehr charakteristisch für den Menschen, dass er kein unmittelbares Wahrnehmungsorgan für elektromagnetische Vorgänge hat, sondern diese nur durch entsprechende Messgeräte indirekt registrieren kann.

„Die angeführte Beobachtung beweist nur, daß der sinn- und geistbegabte Organismus die verschiedenartigsten Eindrücke in die Sprache der Sinne übersetzen kann, auf die sie ausgeübt werden. Nicht aber, daß der Inhalt jeder Sinnesempfindung auch nur im Innern des Organismus vorhanden ist. Bei einer Zerrung des Sehnervs entsteht eine unbestimmte, ganz allgemeine Erregung, die nichts enthält, was veranlaßt, ihren Inhalt in den Raum hinaus zu versetzen. Eine Empfindung, die durch einen wirklichen Lichteindruck entsteht, ist inhaltlich unzertrennlich verbunden mit dem Räumlich-Zeitlichen, das ihr entspricht. Die Bewegung eines Körpers und seine Farbe sind auf ganz gleiche Weise Wahmehmungsinhalt. Wenn man die Bewegung für sich vorstellt, so abstrahiert man von dem, was man noch sonst an dem Körper wahrnimmt. Wie die Bewegung, so sind alle übrigen mechanischen und mathematischen Vorstellungen der Wahrnehmungswelt entnommen. Mathematik und Mechanik entstehen dadurch, daß von dem Inhalte der Wahrnehmungswelt ein Teil ausgesondert und für sich betrachtet wird. In der Wirklichkeit gibt es keine Gegenstände oder Vorgänge, deren Inhalt erschöpft ist, wenn man das an ihnen begriffen hat, was durch Mathematik und Mechanik auszudrücken ist. Alles Mathematische und Mechanische ist an Farbe, Wärme und andere Qualitäten gebunden. Wenn der Physik nötig ist, anzunehmen, daß der Wahrnehmung einer Farbe Schwingungen im Raume entsprechen, denen eine sehr kleine Ausdehnung und eine sehr große Geschwindigkeit eigen ist, so können diese Bewegungen nur analog den Bewegungen gedacht werden, die sichtbar im Raume vorgehen. Das heißt, wenn die Körperwelt bis in ihre kleinsten Elemente bewegt gedacht wird, so muß sie auch bis in ihre kleinsten Elemente hinein mit Farbe, Wärme und andern Eigenschaften ausgestattet vorgestellt werden. Wer Farben, Wärme, Töne usw. als Qualitäten auffaßt, die als Wirkungen äußerer Vorgänge durch den vorstellenden Organismus nur im Innern desselben existieren, der muß auch alles Mathematische und Mechanische, das mit diesen Qualitäten zusammenhängt, in dieses Innere verlegen. Dann aber bleibt ihm für seine Außenwelt nichts mehr übrig. Das Rot, das ich sehe, und die Lichtschwingungen die der Physiker als diesem Rot entsprechend nachweist, sind in Wirklichkeit eine Einheit, die nur der abstrahierende Verstand voneinander trennen kann. Die Schwingungen im Raume, die der Qualität «Rot» entsprechen, würde ich als Bewegung sehen, wenn mein Auge dazu organisiert wäre. Aber ich würde verbunden mit der Bewegung den Eindruck der roten Farbe haben.

Die moderne Naturwissenschaft versetzt ein unwirkliches Abstraktum, ein aller Empfindungsqualitäten entkleidetes, schwingendes Substrat in den Raum und wundert sich, daß nicht begriffen werden kann, was den vorstellenden mit Nervenapparaten und Gehirn ausgestatteten Organismus veranlassen kann, diese gleichgültigen Bewegungsvorgänge in die bunte, von Wärmegraden und Tönen durchsetzte Sinnenwelt zu übersetzen. Du Bois-Reymond nimmt deshalb an, daß der Mensch wegen einer unüberschreitbaren Grenze seines Erkennens nie verstehen werde, wie die Tatsache: «ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot», zusammenhängt mit bestimmten Bewegungen kleinster Körperteile im Gehirn, welche Bewegungen wieder veranlaßt werden durch die Schwingungen der geschmack-, geruch-, ton- und farbenlosen Elemente der äußeren Körperwelt. «Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden.» («Grenzen des Naturerkennens», Leipzig 1882, S.33f.) Es liegt aber hier durchaus keine Erkenntnisgrenze vor. Wo im Raume eine Anzahl von Atomen in einer bestimmten Bewegung ist, da ist notwendig auch eine bestimmte Qualität (z.B. Rot) vorhanden. Und umgekehrt, wo Rot auftritt, da muß die Bewegung vorhanden sein. Nur das abstrahierende Denken kann das eine von dem andern trennen. Wer die Bewegung von dem übrigen Inhalte des Vorganges, zu dem die Bewegung gehört, in der Wirklichkeit abgetrennt denkt, der kann den Übergang von dem einen zu dem andern nicht wieder finden.

Nur was an einem Vorgang Bewegung ist, kann wieder von Bewegung abgeleitet werden; was dem Qualitativen der Farben- und Lichtwelt angehört, kann auch nur auf ein ebensolches Qualitatives innerhalb desselben Gebietes zurückgeführt werden. Die Mechanik führt zusammengesetzte Bewegungen auf einfache zurück, die unmittelbar begreiflich sind. Die Farbentheorie muß komplizierte Farbenerscheinungen auf einfache zurückführen, die in gleicher Weise durchschaut werden können. Ein einfacher Bewegungsvorgang ist ebenso ein Urphänomen, wie das Entstehen des Gelben aus dem Zusammenwirken von Hell und Dunkel. Goethe weiß, was die mechanischen Urphänomene für die Erklärung der unorganischen Natur leisten können. Was innerhalb der Körperwelt nicht mechanisch ist, das führt er auf Urphänomene zurück, die nicht mechanischer Art sind.“ (Lit.:GA 6, S. 171ff)

„In Anbetracht solcher Fragen wie etwa der nach der «Subjektivität der Wahrnehmung», liegt in der jüngsten philosophischen Entwickelung ein vielfaches Konfundieren der Vorstellungen vor, ein Anhäufen von Begriffen, die eher die Probleme verdunkeln und verknäueln, als daß sie sie erhellen und zu einer gewissen Lösung führen würden.

Es handelt sich nämlich in dem Augenblick, wo man Fragen aufwerfen will, die das Verhältnis von Objekt und Subjekt im Wahrnehmen vorstellend und erkenntnisgemäß betreffen, immer darum, durch eine sorgfältigste Analyse desjenigen, was der Tatbestand ist, darauf zu kommen, wie die Fragen eigentlich gestellt werden müssen. Denn oft werden schon die Fragen aus irrtümlich gerichteten Vorstellungen falsch formuliert. Und so ist es vielfach mit den Fragen nach der «Subjektivität der Wahrnehmung». Da wurde auf die Schwierigkeit mit dem partiell Farbenblinden hingedeutet, von dem vorausgesetzt ist, daß er eine, sagen wir, grüne Landschaft anders sehe als der sogenannte normal Sehende. In dieser Vorstellung des partiell Farbenblinden liegt die Schwierigkeit vor: inwieweit muß man dem, was nun auch der sogenannte normal Sehende, ich sage ganz ausdrücklich: der sogenannte normal Sehende, sieht, Subjektivität beimessen?

Nun, da handelt es sich darum, daß man sich zunächst das ganze Problem so vor Augen führen kann, daß es richtig erscheint. «Richtig» bedeutet, daß die Art, wie man die Elemente, die zur Problemstellung zusammengeführt werden müssen, daß man dieses Wie des Zusammenführens in der rechten Weise bewirkt. Nehmen Sie nur einmal an, wenn irgend jemand sagt: Ja, die Außenwelt, die mir also, sagen wir, in einer grünen Landschaft mit einer grünen Tingierung erscheint, gibt mir Veranlassung dazu, nachzudenken, ob nun die Qualität «grün» objektiv ist, ob ich sie der Welt der Objektivität zuschreiben dürfe, oder ob sie als subjektiv angesprochen werden müsse. — Dann muß man sich, um überhaupt zur Problemstellung zu kommen, solche Dinge überlegen, wie zum Beispiel dieses: Ja, wie verhält sich nun die Sache, wenn ich irgend etwas, was meinetwillen weiß oder gelb ist, durch eine grüne Brille ansehe? Da sehen wir es grün tingiert. Ist das nun der Sphäre der Objektivität zuzuschreiben, oder hat man da von Subjektivität zu sprechen? Man wird sehr bald bemerken, daß man ganz gewiß nicht dem, was da draußen ist, dieses Grün, das ich durch eine grüne Brille sehe, wird zuschreiben dürfen. Man wird nicht von Objektivität in bezug auf die äußere Umwelt sprechen können. Aber man wird doch auch ganz gewiß nicht davon sprechen können, daß diese grüne Tingierung, die ich da herausbekommen habe durch eine grüne Brille, auf irgend etwas Subjektivem beruht. Sie ist durchaus gesetzmäßig objektiv bedingt, ohne daß dasjenige, was ich hier als grün bezeichne, wirklich grün ist.

Sie sehen, ich stelle damit, daß ich mir eine Vorstellung bilde, ich möchte sagen, das Problem in ein besonderes Licht hin, wo ich dasjenige, was ganz gewiß nicht der Außenwelt angehört, doch objektiv, als auf objektive Art entstanden nehmen muß; denn die Brille gehört nicht zu mir, kann also ganz gewiß nicht in die Sphäre der Subjektivität einbezogen werden. Solche Dinge könnten sogar sophistisch erscheinen. Und dennoch sind solche Sophismen sogar sehr häufig das, was einen darauf bringt, die Elemente, die einen darauf führen sollen, die Fragen in entsprechender Weise zu stellen, auch zusammenzubringen.

Man wird nämlich, wenn man solche scheinbaren Sophismen in der richtigen Weise durchschaut, die ganze Fadenscheinigkeit der Alltagsbegriffe «Subjekt» und «Objekt», die allmählich in die moderne philosophische Betrachtung hineingebracht worden sind, durchschauen. Und man wird, wenn man in eine richtige Fragestellung hineinkommt, wohl immer mehr und mehr zu dem Weg, wie ich glaube, geführt werden, den ich in meinen Schriften «Wahrheit und Wissenschaft» und «Philosophie der Freiheit» eingeschlagen habe, wo man überhaupt zunächst nicht den Ausgangspunkt nimmt von den Begriffen «Subjekt» und «Objekt», sondern wo man unabhängig von diesen Begriffen etwas sucht, was über die Sphäre der Subjektivität und Objektivität hinaus gelegen sein muß: das ist die Funktion des Denkens.

Die Funktion des Denkens! Wenn man die Sache unabhängig durchschaut, erscheint einem das Denken eigentlich über das Subjektive und Objektive durchaus hinausliegend. Und damit hat man einen Ausgangspunkt gewonnen, von dem aus man dann auch in entsprechender Weise da geführt werden kann, wo es sich um das solche Schwierigkeiten bietende Problem der «Subjektivität» und «Objektivität» handelt. Denn man wird dann dazu geführt - und Sie werden diesen Weg in diesen meinen beiden Büchern durchaus eingehalten finden -, nicht zu fragen: Wie wirkt eine äußere «objektive» Welt auf irgendeine «subjektive» Welt, für die etwa der Vermittler, sagen wir, das Auge ist? - sondern man wird zu etwas ganz anderem geführt. Man wird nämlich dazu geführt, sich zu fragen: Wie ist denn die Tatsache der Sinne selber? Welche Wesenhaftigkeit zeigt einem der Sinn? Also zum Beispiel die Konstitution des Auges?

Man wird dann finden, daß in dem Problem, das man sich so stellt, etwas zutage tritt, das ich jetzt, weil ich kurz sein muß - es könnte natürlich in einer stundenlangen Erläuterung auch mit dem adäquaten Begriff umfaßt werden -, durch einen Vergleich klarmachen will: Ich kann auch durch eine Brille schauen und dennoch die Umwelt so sehen, wie das naive Bewußtsein sie als wirklich empfindet, mit ihren Farbentingierungen, mit allen ihren Sinnesqualitäten. Ich muß nur durch eine farblos-durchsichtige Brille schauen; ich darf nicht durch eine Brille schauen, die mir die Außenwelt selber verändert. Und ich muß mich jetzt hineinfinden in den Unterschied zwischen einer die äußere Tingierung verändernden Brille und einer farblos durchsichtigen Brille, die jede äußere Tingierung vermeidet. Von diesem Vergleich aus - wie gesagt, es könnten langatmige Überlegungen anstelle des Vergleichs gesetzt werden - werde ich finden: wenn ich die Einrichtung des sogenannten normalen Auges nehme, habe ich in ihm eine Einrichtung gegeben, die sich gerade als durchsichtig erweist, die sich vergleichen läßt mit dem durchsichtig-farblosen Glase. Ich finde nichts im normalen Auge, was darauf hinweist, daß die Außenwelt qualitativ in irgendeiner Weise verändert wird. Aber ich muß diese Untersuchung anstellen nicht mit den gewöhnlichen Begriffen, die ich im alltäglichen Bewußtsein habe, sondern mit dem imaginativen Bewußtsein, das wirklich in die Einrichtungen des Auges eindringen kann.

Für das imaginative Bewußtsein ist ein sogenanntes normales Auge ein durchsichtiges Organ. Ein Auge, das partiell farbenblind ist, das erweist sich für das imaginative Bewußtsein als in einer gewissen Weise vergleichbar mit einer farbigen Brille, als etwas, das allerdings eine Veränderung vornimmt in dem «Subjekt».

So kommt man — indem man die Subjektivität aber in einer höheren Auffassung auffaßt - gerade darauf, die Sinnesapparate im weitesten Umfange als dasjenige anzusehen, was sich vergleichen läßt mit dem Durchsichtigen, was gerade so eingerichtet ist, daß es die eigene Produktion der Sinnesqualitäten in sich aufhebt. Man lernt als eine reine Phantasterei die Vorstellung erkennen, als ob in diesem ideell Durchsichtigen - das gerade so eingerichtet ist, daß es irgendeine Produktion der Sinnesqualitäten in sich aufhebt —, in diesem ideell durchsichtigen Sinnesapparat irgend etwas auftreten könnte, was Sinnesqualitäten erst hervorriefe, was zu etwas anderem da wäre als den Sinnesqualitäten den Durchgang zu lassen.“ (Lit.:GA 76, S. 44ff)

In seinem 1911 gehaltenen, richtungsweisenden Bologna-Vortrag ergänzte Rudolf Steiner:

„Für die Erkenntnistheorie unserer Zeit ist es immer mehr zu einer Art Axiom geworden, daß in dem Bewußtseinsinhalte zunächst nur Bilder, oder gar nur «Zeichen» (Helmholtz) des Transzendent-Wirklichen gegeben seien. Es braucht hier nicht auseinandergesetzt zu werden, wie die kritische Philosophie und die Physiologie («spezifische Sinnesenergien», Ansichten von Johannes Müller und seiner Nachfolger) zusammengewirkt haben, um eine solche Vorstellung zu einer scheinbar unabweislichen zu machen. Der «naive Realismus», welcher in den Erscheinungen des Bewußtseinshorizontes etwas anderes sieht als Repräsentanten subjektiver Art für ein Objektives, galt in der philosophischen Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts als eine für alle Zeit überwundene Sache. Aus dem aber, was dieser Vorstellung zu Grunde liegt, ergibt sich fast mit Selbstverständlichkeit die Ablehnung des theosophischen Gesichtspunktes. Dieser kann ja für den kritischen Standpunkt nur als ein unmögliches Überspringen der im Wesen des Bewußtseins liegenden Grenzen angesehen werden. Wenn man eine unermeßlich große, scharfsinnige Ausprägung von kritischer Erkenntnistheorie auf eine einfache Formel bringen will, so kann man etwa sagen: Der kritische Philosoph sieht in den Tatsachen des Bewußtseinshorizontes zunächst Vorstellungen, Bilder oder Zeichen, und eine mögliche Beziehung zu einem Transzendent-Äußeren könne nur innerhalb des denkenden Bewußtseins gefunden werden. Das Bewußtsein könne sich eben nicht selber überspringen, könne nicht aus sich heraus, um in ein Transzendentes unterzutauchen. Solch eine Vorstellung hat in der Tat etwas an sich, was wie eine Selbstverständlichkeit erscheint. Und dennoch - sie beruht auf einer Voraussetzung, die man nur zu durchschauen braucht, um sie abzuweisen. Es klingt ja fast paradox, wenn man dem subjektiven Idealismus, der sich in der gekennzeichneten Vorstellung ausspricht, einen versteckten Materialismus vorwirft. Und doch kann man nicht anders. Es möge, was hier gesagt werden kann, durch einen Vergleich veranschaulicht werden. Man nehme Siegellack und drücke darin mit einem Petschaft einen Namen ab. Der Name ist mit allem, worauf es bei ihm ankommt, von dem Petschaft in den Siegellack übergegangen. Was nicht aus dem Petschaft in das Siegellack hinüberwandern kann, ist das Metall des Petschafts. Man setze statt Siegellack das Seelenleben des Menschen und statt Petschaft das Transzendente. Es wird dann sofort ersichtlich, daß man von einer Unmöglichkeit des Herüberwanderns des Transzendenten in die Vorstellung nur sprechen kann, wenn man sich den objektiven Inhalt des Transzendenten nicht spirituell denkt, was dann in Analogie mit dem vollkommen in das Siegellack herübergenommenen Namen zu denken wäre. Man muß vielmehr die Voraussetzung zum Behufe des kritischen Idealismus machen, daß der Inhalt des Transzendenten in Analogie zu denken sei zum Metall des Petschaftes. Das aber kann gar nicht anders geschehen, als wenn man die versteckte materialistische Voraussetzung macht, das Transzendente müsse durch ein materiell gedachtes Herüberfließen in die Vorstellung von dieser aufgenommen werden. In dem Falle, daß das Transzendente ein spirituelles ist, ist der Gedanke eines Aufnehmens desselben von der Vorstellung absolut möglich.“ (Lit.:GA 35, S. 136f)

Helmholtz sagt: Was der Mensch vor sich hat, ist aus seiner Organisation herausgesponnen. Was wir von dem Ding wahrnehmen, ist nicht einmal ein Bild, sondern nur ein Zeichen. Das Auge macht nur Wahrnehmungen an der Oberfläche. Der Mensch ist ganz in seine Subjektivität eingesponnen. Das Ding an sich bleibt unbekannt. - So mußte es werden. Der Nominalismus hat das Geistige hinter der Oberfläche verloren. Das menschliche Innere ist entkräftet worden. Das innere Arbeiten wird rein formal. Wenn der Mensch hinter die Wirklichkeit dringen will, so gibt ihm sein Inneres keine Antwort. Das ganze philosophische Denken des 19. Jahrhunderts findet sich da nicht heraus. Hartmann zum Beispiel kommt über die Vorstellung nicht hinaus. Ein einfacher Vergleich kann darüber aufklären. Ein Petschaft enthält den Namen Müller. Es kann nichts, auch nicht das kleinste Stoffliche vom Messing des Petschafts in den Siegellack kommen. Folglich kann nichts Objektives aus dem Petschaft hinüberkommen; der Name Müller muß sich aus dem Siegellack bilden. Der Denker ist der Siegellack. Nichts geht über vom Objekt auf den Denker. Und doch ist der Name Müller im Siegellack. So nehmen wir den Inhalt aus der objektiven Welt heraus, dennoch ist es der wahre Inhalt, den wir herausnehmen. Wenn man bloß das Materielle nimmt, ist es richtig: es kommt nichts vom Siegellack ins Petschaft und umgekehrt. Sobald man aber den Geist sieht, das höhere Prinzip, der das Objektive und Subjektive umfassen kann, da geht der Geist ein und aus ins Subjektive und Objektive. Der Geist trägt herüber alles aus der Objektivität in die Subjektivität. Das Ich ist objektiv und subjektiv in sich selbst. Das hat Fichte gezeigt.“ (Lit.:GA 108, S. 194f)

Reine Wahrnehmung

«Das unmittelbar gegebene Weltbild»

Die reine Wahrnehmung ist nur solange gegeben, als sich der Mensch des Denkens enthält. Die Welt erscheint dann als zusammenhangloses Aggregat von Empfindungsobjekten. Alles, die sinnliche Welt und ebenso seelische und geistige Erlebnisse, ja alle Träume, Visionen und Halluzinationen, sind uns zunächst als Wahrnehmung gegeben. Das nennt Steiner das unmittelbar gegebene Weltbild. In welchem Verhältnis sie zur Wirklichkeit stehen, ob wir es mit einem realen Sein oder bloßem Schein zu tun haben, darüber kann uns erst das Denken aufklären. Erst indem wir die Wahrnehmung denkend mit dem zugehörigen Begriff durchdringen, stoßen wir zur Wirklichkeit vor.

"Ein solcher Anfang kann aber nur mit dem unmittelbar gegebenen Weltbilde gemacht werden, d.i. jenem Weltbilde, das dem Menschen vorliegt, bevor er es in irgendeiner Weise dem Erkenntnisprozesse unterworfen hat, also bevor er auch nur die allergeringste Aussage über dasselbe gemacht, die allergeringste gedankliche Bestimmung mit demselben vorgenommen hat. Was da an uns vorüberzieht, und woran wir vorüberziehen, dieses zusammenhanglose und doch auch nicht in individuelle Einzelheiten gesonderte (1) Weltbild, in dem nichts voneinander unterschieden, nichts aufeinander bezogen ist, nichts durch ein anderes bestimmt erscheint: das ist das unmittelbar Gegebene. Auf dieser Stufe des Daseins - wenn wir diesen Ausdruck gebrauchen dürfen - ist kein Gegenstand, kein Geschehnis wichtiger, bedeutungsvoller als ein anderer bzw. ein anderes. Das rudimentäre Organ des Tieres, das vielleicht für eine spätere, schon durch das Erkennen erhellte Stufe des Daseins ohne alle Bedeutung für die Entwicklung und das Leben desselben ist, steht gerade mit demselben Anspruch auf Beachtung da, wie der edelste, notwendigste Teil des Organismus. Vor aller erkennenden Tätigkeit stellt sich im Weltbilde nichts als Substanz, nichts als Akzidenz, nichts als Ursache oder Wirkung dar; die Gegensätze von Materie und Geist, von Leib und Seele sind noch nicht geschaffen. Aber auch jedes andere Prädikat müssen wir von dem auf dieser Stufe festgehaltenen Weltbilde fernhalten. Es kann weder als Wirklichkeit noch als Schein, weder als subjektiv noch als objektiv, weder als zufällig noch als notwendig aufgefasst werden; ob es «Ding an sich» oder bloße Vorstellung ist, darüber ist auf dieser Stufe nicht zu entscheiden. Denn dass die Erkenntnisse der Physik und Physiologie, die zur Subsummierung des Gegebenen unter eine der obigen Kategorien verleiten, nicht an die Spitze der Erkenntnistheorie gestellt werden dürfen, haben wir bereits gesehen.

Wenn ein Wesen mit vollentwickelter, menschlicher Intelligenz plötzlich aus dem Nichts geschaffen würde und der Welt gegenüberträte, so wäre der erste Eindruck, den letztere auf seine Sinne und sein Denken machte, etwa das, was wir mit dem unmittelbar gegebenen Weltbilde bezeichnen. Dem Menschen liegt dasselbe allerdings in keinem Augenblicke seines Lebens in dieser Gestalt wirklich vor; es ist in seiner Entwicklung nirgends eine Grenze zwischen reinem, passiven Hinauswenden zum unmittelbar Gegebenen und dem denkenden Erkennen desselben vorhanden. Dieser Umstand könnte Bedenken gegen unsere Aufstellung eines Anfangs der Erkenntnistheorie erregen." (Lit.: GA 3, S. 49ff)

"Wir müssen uns vorstellen, dass ein Wesen mit vollkommen entwickelter menschlicher Intelligenz aus dem Nichts entstehe und der Welt gegenübertrete. Was es da gewahr würde, bevor es das Denken in Tätigkeit bringt, das ist der reine Beobachtungsinhalt. Die Welt zeigte dann diesem Wesen nur das bloße zusammenhanglose Aggregat von Empfindungsobjekten: Farben, Töne, Druck-, Wärme-, Geschmacks- und Geruchsempfindungen; dann Lust- und Unlustgefühle. Dieses Aggregat ist der Inhalt der reinen, gedankenlosen Beobachtung. Ihm gegenüber steht das Denken, das bereit ist, seine Tätigkeit zu entfalten, wenn sich ein Angriffspunkt dazu findet." (Lit.: GA 4, S. 62)

Wie Hartmut Traube[1] kritisch anmerkt, lässt Steiner dabei die Frage offen, ob nicht bereits die Wahrnehmung selbst ein mehr oder weniger unbewusstes vorbegriffliches Erkenntnisvermögen darstellt. Für Steiner stellt sich allerdings diese Frage im Sinne seiner bewusstseins-phänomenologischen Methode nicht - und das zu Recht. Vorbewusste oder vorbegriffliche Prozesse als solche fallen für Steiner eben gerade nicht in den Bereich der Erkenntnis - hier liegt eine wesentliche Differenz Steiners zu Kant. Eine Erkenntnis derartiger Prozesse ist, wie Steiner klar gezeigt hat, ebenfalls nur durch die gedankliche Durchdringung entsprechender sinnlicher und seelischer Beobachtungen (z.B. der neurophysiologischen und psychologischen Grundlagen der Sinneswahrnehmung) möglich, aber keinesfalls durch rein philosophische Erwägungen.

„Ich habe Ihnen gesprochen von der Konzeption meiner «Philosophie der Freiheit». Diese «Philosophie der Freiheit» ist wirklich ein Versuch, in bescheidener Weise es bis zum reinen Denken zu treiben, bis zu jenem reinen Denken, in dem das Ich leben kann, in dem das Ich sich halten kann. Dann kann man, wenn man dieses reine Denken auf diese Weise erfaßt hat, ein anderes anstreben. Man kann dann dieses Denken, das man jetzt dem Ich läßt, dem sich frei und unabhängig in freier Geistigkeit fühlenden Ich überläßt, man kann dann dieses reine Denken von dem Wahrnehmungsprozesse ausschalten, und man kann gewissermaßen, während man sonst im gewöhnlichen Leben, sagen wir, die Farbe sieht, indem man sie zugleich mit dem Vorstellen durchdringt, man kann die Vorstellungen herausheben aus dem ganzen Verarbeitungsprozeß der Wahrnehmungen und kann die Wahrnehmungen selber direkt in unsere Leiblichkeit hineinziehen.

Goethe war schon auf dem Wege. Er hat schon die ersten Schritte gemacht. Man lese im letzten Kapitel seiner Farbenlehre: «Die sinnlich- sittliche Wirkung der Farbe», wie er bei jeder Wirkung etwas empfindet, das zugleich tief sich vereinigt nicht bloß mit dem Wahrnehmungsvermögen, sondern mit dem ganzen Menschen, wie er das Gelbe, das Rote als attackierende Farbe empfindet, die gewissermaßen ganz durch ihn durchdringt, ihn mit Wärme erfüllt, wie er ansieht das Blaue und das Violette als diejenigen Farben, die einen gewissermaßen aus sich selber herausreißen, als die kalten Farben. Der ganze Mensch erlebt etwas bei der Sinneswahrnehmung. Die Sinneswahrnehmung mit ihrem Inhalte geht unter in die Leiblichkeit und es bleibt gewissermaßen darüber schweben das Ich mit dem reinen Gedankeninhalt. Wir schalten das Denken aus, indem wir also intensiver als sonst, wo wir den Wahrnehmungsinhalt durch die Vorstellungen abschwächen, nun den ganzen Wahrnehmungsinhalt hereinnehmen und uns mit ihm erfüllen. Wir erziehen uns in besonderer Weise zu einem solchen Erfüllen unserer selbst mit dem Wahrnehmungsinhalte, wenn wir dasjenige, wozu als zu einer Entartung der Orientale gekommen ist, das symbolische Vorstellen, das bildliche Vorstellen, wenn wir das systematisch treiben, wenn wir, statt daß wir im reinen Gedanken, im gesetzmäßig logischen Gedanken den Wahrnehmungsinhalt auffassen, nunmehr diesen Wahrnehmungsinhalt in Symbolen, in Bildern auffassen und dadurch ihn gewissermaßen mit Umgehung der Gedanken in uns hineinströmen lassen, wenn wir uns durchdringen mit all der Sattheit der Farben, der Sattheit des Tones dadurch, daß wir nicht begrifflich, daß wir symbolisch, bildlich zu unserer Schulung die Vorstellungen innerlich erleben. Dadurch, daß wir nicht mit dem Gedankeninhalt, wie es die Assoziations-Psychologie machen will, unser Inneres durchstrahlen, sondern daß wir es durchstrahlen mit diesem durch Symbole und Bilder angedeuteten Wahrnehmungsinhalt, dadurch strömt uns von innen entgegen dasjenige, was in uns als ätherischer Leib, astralischer Leib lebendig ist, dadurch lernen wir die Tiefe unseres Bewußtseins und unserer Seele kennen. Man lernt wirklich das Innere des Menschen auf diese Weise kennen, nicht durch jene schwafelnde Mystik, die oftmals von nebulosen Geistern als ein Weg zum inneren Gotte angegeben wird, die aber zu nichts anderem führt als zu einer äußerlichen Abstraktion, bei der man doch, wenn man ein ganzer, voller Mensch sein will, nicht stehenbleiben kann.

Will man den Menschen wirklich physiologisch erforschen, dann muß man mit Ausschaltung des Denkens auf diese Weise das bildhafte Vorstellen nach innen treiben, so daß die Leiblichkeit des Menschen in Imaginationen darauf reagiert. Dies ist allerdings ein Weg, der in der abendländischen Entwickelung erst im Beginne ist, aber es ist der Weg, der eingeschlagen werden muß, wenn demjenigen, was vom Oriente herüberströmt und was in die Dekadenz führen würde, wenn es allein Geltung hätte, wenn dem etwas, das ihm gewachsen ist, entgegengestellt werden soll, so daß wir zu einem Aufstieg und nicht zu einem Niederstieg unserer Zivilisation kommen sollen.“ (Lit.:GA 322, S. 104f)

Wahrnehmung und Vorstellung

Von der objektiven Wahrnehmung streng zu unterscheiden ist die subjektiv gebildete Vorstellung:

"Was ist also die Wahrnehmung? Diese Frage ist, im allgemeinen gestellt, absurd. Die Wahrnehmung tritt immer als eine ganz bestimmte, als konkreter Inhalt auf. Dieser Inhalt ist unmittelbar gegeben, und erschöpft sich in dem Gegebenen. Man kann in bezug auf dieses Gegebene nur fragen, was es außerhalb der Wahrnehmung, das ist: für das Denken ist. Die Frage nach dem «Was» einer Wahrnehmung kann also nur auf die begriffliche Intuition gehen, die ihr entspricht. Unter diesem Gesichtspunkte kann die Frage nach der Subjektivität der Wahrnehmung im Sinne des kritischen Idealismus gar nicht aufgeworfen werden. Als subjektiv darf nur bezeichnet werden, was als zum Subjekte gehörig wahrgenommen wird. Das Band zu bilden zwischen Subjektivem und Objektivem kommt keinem im naiven Sinn realen Prozess, das heißt einem wahrnehmbaren Geschehen zu, sondern allein dem Denken. Es ist also für uns objektiv, was sich für die Wahrnehmung als außerhalb des Wahrnehmungssubjektes gelegen darstellt. Mein Wahrnehmungssubjekt bleibt für mich wahrnehmbar, wenn der Tisch, der soeben vor mir steht, aus dem Kreise meiner Beobachtung verschwunden sein wird. Die Beobachtung des Tisches hat eine, ebenfalls bleibende, Veränderung in mir hervorgerufen. Ich behalte die Fähigkeit zurück, ein Bild des Tisches später wieder zu erzeugen. Diese Fähigkeit der Hervorbringung eines Bildes bleibt mit mir verbunden. Die Psychologie bezeichnet dieses Bild als Erinnerungsvorstellung. Es ist aber dasjenige, was allein mit Recht Vorstellung des Tisches genannt werden kann. Es entspricht dies nämlich der wahrnehmbaren Veränderung meines eigenen Zustandes durch die Anwesenheit des Tisches in meinem Gesichtsfelde. Und zwar bedeutet sie nicht die Veränderung irgendeines hinter dem Wahrnehmungssubjekte stehenden «Ich an sich», sondern die Veränderung des wahrnehmbaren Subjektes selbst. Die Vorstellung ist also eine subjektive Wahrnehmung im Gegensatz zur objektiven Wahrnehmung bei Anwesenheit des Gegenstandes im Wahrnehmungshorizonte. Das Zusammenwerfen jener subjektiven mit dieser objektiven Wahrnehmung führt zu dem Missverständnisse des Idealismus: die Welt ist meine Vorstellung." (Lit.: GA 4, S. 98ff)

Anmerkungen

  1. "Steiner ist es offenbar gänzlich entgangen, dass die Wahrnehmung ein vorbegriffliches Erkenntnisvermögen ist, das nach eigenen Gesetzen, den Wahrnehmungsgesetzen, Gestalten und Beziehungen in Raum und Zeit organisiert. Für Kant ist die Wahrnehmung deshalb eben auch ein Vermögen der Synthesis. Ihr vorgelagert liegen die noch elementareren „Synopsen" der Sinne. Nur stehen diese Syntheseleistungen, insbesondere die der Wahrnehmung, nicht unmittelbar unter der Einheit des Verstandes, das heißt der transzendentalen Apperzeption, sondern unter der Einheit der Formen sinnlicher Anschauung. In ihnen durchläuft die Einbildungskraft das „Mannigfaltige der Anschauung“ und fasst es in „Apprehensionssynthesen“ zu sinnlichen Gestalten und Vorstelllungen zusammen (AA IV, 76). Es ist Steiners bleibendes und für seine Erkenntnistheorie verhängnisvolles Missverständnis, zu glauben, dass sich jenseits der Welt tätigen Denkens und Erkennens unmittelbar der gähnende Abgrund des unvermittelten und jede Unterscheidung verschlingenden Chaos auftue. Verhängnisvoll ist dieses Missverständnis deshalb, weil durch die Unkenntnis dieser in sich differenzierten und komplexen Theorie der Wahrnehmung den begrifflichen Synthese- und Konstitutionsleistungen einerseits eine Erklärungslast im Hinblick auf Erkenntnisse aufgetragen wird, die ihre Möglichkeiten bei weitem überschreitet, und die lichtvolle und durchaus geordnete Welt sinnlicher Wahrnehmung in Raum und Zeit andererseits in der differenzlosen Nacht eines undurchdringlichen Tohuwabohus versinkt." (Lit.: Traube [2011], S 75f)

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Wahrheit und Wissenschaft, GA 3 (1980), ISBN 3-7274-0030-7 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  2. Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit, GA 4 (1995) pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  3. Rudolf Steiner: Goethes Weltanschauung, GA 6 (1990), ISBN 3-7274-0060-9; Tb 625, ISBN 978-3-7274-6250-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  4. Rudolf Steiner: Philosophie und Anthroposophie, GA 35 (1984), ISBN 3-7274-0350-0 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  5. Rudolf Steiner: Die befruchtende Wirkung der Anthroposophie auf die Fachwissenschaften, GA 76 (1977), ISBN 3-7274-0760-3 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  6. Rudolf Steiner: Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie, GA 108 (1986), ISBN 3-7274-1081-7 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  7. Rudolf Steiner: Okkultes Lesen und okkultes Hören, GA 156 (2003), ISBN 3-7274-1561-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  8. Rudolf Steiner: Grenzen der Naturerkenntnis, GA 322 (1981), ISBN 3-7274-3220-9 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Kritik
  1. Hartmut Traube: Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners - Grundlegung und Kritik, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-17-022019-5
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
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