Imre Lakatos und Ceteris paribus: Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:Professor Imre Lakatos, c1960s.jpg|miniatur|Imre Lakatos]]
'''Ceteris paribus''' ([[lat.]], sinngemäß: „unter sonst gleichen Bedingungen“; abgekürzt: '''''c. p.''''' oder '''''cet. par.''''') bedeutet, dass man bei [[wissenschaft]]lichen [[Modell]]en bzw. [[Experiment]]en jeweils immer nur eine Einflussgröße verändert, während alle anderen konstant gehalten werden, um genau deren Einfluss bestimmen zu können.
'''Imre Lakatos''' (* [[9. November]] [[1922]] in [[Debrecen]], [[Ungarn]]; † [[2. Februar]] [[1974]] in [[London]], [[England]]) war ein ungarischer [[Mathematiker]], [[Physiker]] und [[Wissenschaftstheorie|Wissenschaftstheoretiker]]. In seinen wissenschaftstheoretischen Beiträgen vermittelte er zwischen dem [[Falsifikationismus]] [[Karl Popper]]s, dem Konzept des Paradigmas von [[Thomas S. Kuhn]] und dem „epistemologischen Anarchismus“ seines Freundes [[Paul Feyerabend]].
 
== Leben ==
Lakatos wurde in Ungarn als Imre Lipschitz geboren. Um der Verfolgung durch das [[Miklós Horthy|Horthy-Regime]] zu entgehen und seine jüdische Herkunft zu verschleiern – er konnte sich so den ungarischen Judengesetzen entziehen – änderte Imre Lipschitz während des [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkriegs]] seinen Namen zunächst in Imre Molnár und nach dem Krieg in Imre Lakatos.
 
Er studierte Mathematik, Physik und Philosophie in [[Universität Debrecen|Debrecen]] und vertiefte sein Wissen in [[Budapest]] und [[Moskau]]. 1948 war er daran beteiligt, die Lehre der [[Sigmund Freud|Freudschen]] [[Psychoanalyse]] in Budapest zu verhindern.<ref>Paul Harmat: ''Freud, Ferenczi und die ungarische Psychoanalyse''. Edition Diskord, Tübingen 1988; ISBN 3-89295-530-1; S. 308</ref> Er war wissenschaftlich und politisch sehr aktiv, aber lange wegen „[[Revisionismus]]“ inhaftiert. Nach seiner Flucht in den Westen 1956 setzte er in Cambridge seine Studien fort. Er bekam mehrere Anstellungen als Dozent und war Professor an mehreren Universitäten.
 
Neben Arbeiten zur mathematischen Beweistheorie, welche durch die [[Dialektik#Hegels Dialektik|hegelsche]] und [[Dialektik bei Marx und Engels|marxsche Dialektik]] beeinflusst waren, versuchte Lakatos zwischen dem von [[Karl Popper]] vertretenen [[Falsifizierbarkeit|Falsifikationsbegriff]] und der Entwicklung von Wissenschaft, wie sie von [[Thomas Samuel Kuhn|T. S. Kuhn]] dargestellt wurde, Brücken zu schlagen.
 
Er starb 1974 an einer [[Intrazerebrale Blutung|intrazerebralen Blutung]].
 
Lakatos war mit [[Paul Feyerabend]] befreundet, mit dem er u.&nbsp;a. in Briefen Debatten über Wissenschaftstheorie führte. Die beiden sollen geplant haben, ein gemeinsames Buch zu schreiben: ''[[Against Method]]'', Feyerabends berühmteste Veröffentlichung, sollte sein Beitrag dazu sein. Da Lakatos jedoch überraschend verstarb, ohne seinen Teil geschrieben zu haben, konnte das geplante Buch nie entstehen.<ref>{{Literatur|Autor=Matteo Motterlini (Hrsg.), Imre Lakatos, Paul Feyerabend|Titel=For and Against Method: Including Lakatos's Lectures on Scientific Method and the Lakatos-Feyerabend Correspondence|Verlag=The University of Chicago Press|Ort=Chicago|Jahr=1999|ISBN=0-226-46775-9}}</ref>
 
== Falsifikationismus ==
=== Grundproblem ===
Die Auffassung, dass Theorien ganz aufgegeben werden müssen, wenn sie falsifiziert, d. h. von experimentellen oder empirischen Resultaten widerlegt werden, verwarf Lakatos als „naiven Falsifikationismus“. Seine Kritik betraf dreierlei:
# Es gibt keine reinen Daten, die nur aus Beobachtung bestünden. Jede Aussage enthält Theorie, und jedwede Beobachtung ist nur möglich, weil ihr eine Theorie zugrunde liegt.
# Es ist kein ausreichender Grund, eine Theorie zu verwerfen, wenn sie mit den Daten nicht übereinstimmt. Vielmehr sind stets mehrere Aussagen zu betrachten, die hierbei nicht in Einklang miteinander stehen: Erstens die Theorie, zweitens die Daten und drittens die [[Ceteris paribus|Ceteris-paribus-Klausel]] und meistens noch weitere Aussagen. Es ist daher keineswegs offensichtlich, wenn die Gesamtheit aller zu betrachtenden Aussagen inkonsistent ist, dass ausgerechnet die Theorie fallen gelassen werden muss.
# Auch praktisch geht Wissenschaft nicht so vonstatten. Lakatos sucht den realen Verlauf wissenschaftlicher Theorienentstehung logisch-rational nachzuzeichnen. Und in der Praxis verläuft es anders, als der methodologische Falsifikationismus es vorzeichnet. Nach Lakatos existieren vielmehr lediglich verschiedene Theorien, aber keine reine Beobachtung. Jede Theorie steht im Wettstreit mit anderen Theorien.
 
Eine neue Theorie sollte indessen stets einen [[Epistemologie|epistemologischen]] und [[Empirik|empirischen]] Gehaltsüberschuss gegenüber der alten Theorie haben („progressive Problemverschiebung“).
 
Eine ganz neue Theorie, die nicht bloß Weiterentwicklung einer alten ist, besitzt außerdem eine positive und eine negative [[Heuristik]]. Eine „positive Heuristik“ ist nach Lakatos, was eine Forschergemeinschaft hofft, an Erkenntnissen mit der neuen Theorie zu erreichen. Die „negative Heuristik“ ist ein harter Kern an Grundüberzeugungen, die unter keinen Umständen und gegen keine Fakten aufgegeben werden dürfen.
 
„Raffinierten Falsifikationismus“ nennt Lakatos dieses Modell, weil er es als Weiterentwicklung von Poppers Falsifikationismus sieht. Es wird jedoch bestritten, dass dieses Modell im wissenschaftstheoretischen Sinn noch ein Falsifikationismus ist. Lakatos spricht auch selbst beim „raffinierten Falsifikationismus“ von einer historischen Falsifikation, was etwa so viel bedeutet wie: Die Geschichte und der&nbsp;– in Lakatos’ Metaphorik&nbsp;– darwinistische Kampf ums Dasein der an die Welt am besten angepassten Theorien falsifizieren sozusagen rückwirkend die Theorien, die sich als nicht praktikabel erwiesen.
 
Beispielsweise sind nach Lakatos die drei [[Newtonsche Axiome|newtonschen Gesetze]] als Teil des Kernes der newtonschen Mechanik nicht widerlegbar. Erst durch Einführung zusätzlicher falsifizierbarer Gesetze (Gravitationsgesetz, [[Coulombsches Gesetz]], etc.) werden die newtonschen Gesetze zur testbaren Theorie erweitert. Falsifizierung einer Theorie, bestehend aus den newtonschen Gesetzen plus Kraftgesetzen, führt damit auch nicht zur Aufgabe der newtonschen Gesetze, sondern nur zur Modifizierung der Kraftgesetze. Prinzipiell aufgegeben wurde die newtonsche Mechanik erst, als durch die spezielle [[Relativitätstheorie]] ein neues leistungsfähigeres ''Forschungsprogramm'' zur Verfügung stand.
 
=== Forschungsprogramme ===
 
Lakatos geht davon aus, dass Theorien nie isoliert, sondern nur als Teile größerer Theoriensysteme und Methodenregeln, sogenannter „Forschungsprogramme“, beurteilt werden können. Sein Begriff des Forschungsprogramms ist mit dem Paradigma-Begriff Kuhns verwandt. Theorien sind in der Regel als Forschungsprogramme strukturiert, so dass sie weiterhin eindeutige Annahmen und Vorschriften enthalten, wie sie aufgebaut sind und weiterentwickelt werden sollen.
 
Im Gegensatz zu Kuhn jedoch ist Lakatos der Auffassung, dass verschiedene Forschungsprogramme rational verglichen und diskutiert werden können. Die Wissenschaft kann Fortschritte machen und sich vernünftig entwickeln. Lakatos betrachtet Fortschritt der Wissenschaft indes nicht als eine kontinuierliche Annäherung an die Wahrheit, sondern als eine Reihe von Problemverschiebungen, die uns ständig auf eine höhere Stufe gelangen lassen.
 
Bestandteile eines Forschungsprogramms:
 
* Harter Kern = Grundannahme der Theorie
* Negative Heuristik = Unantastbarkeit des harten Kerns und Vermeidung von Ad-hoc-Modifikationen des Schutzgürtels. Es existiert hier keine degenerative Problemverschiebung („Wie sollte man nicht vorgehen?“)
* Schutzgürtel von Hilfshypothesen um den harten Kern
* Positive Heuristik: Grobe Richtlinien, wie das Forschungsprogramm entwickelt werden könnte. Es existiert eine progressive Problemverschiebung (= Erklärung neuer Phänomene durch Änderung der Annahmen: „Wie sollte man vorgehen?“)
 
Durch weiteren Ausbau des Forschungsprogrammes, bzw. des Theoriensystems, entstehen degenerative Problemverschiebungen. Diese Immunisierung gegen die Falsifikation erlaubt eine Einführung von Ad-hoc-Zusatzannahmen. Obwohl sich diese Zusatzannahmen widersprechen können, sind sie bezogen auf den harten Kern jedoch gültig und widerlegen ihn nicht.
 
== Werke ==
* {{Literatur|Autor=Imre Lakatos|Typ=wl|Titel=Beweise und Widerlegungen|TitelErg=Die Logik mathematischer Entdeckungen|Verlag=Vieweg Verlag|Ort=Braunschweig|Datum=1979|ISBN=3-528-08392-1|Reihe=Wissenschaftstheorie Wissenschaft und Philosophie|NummerReihe=14|Originaltitel=Proofs and Refutations – The Logic of Mathematical Discovery|Originalsprache=en|Originaljahr=1976|Originalort=London|Übersetzer=Detlef D. Spalt}}
* Lakatos: ''The Methodology of Scientific Research Programmes: Philosophical Papers Volume 1.'' Cambridge University Press, Cambridge 1977
* Lakatos: ''Mathematics, Science and Epistemology: Philosophical Papers Volume 2.'' Cambridge University Press, Cambridge 1978


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Imre Lakatos}}
== Weblinks ==
* {{Commonscat}}
* {{SEP|http://plato.stanford.edu/entries/lakatos/|Imre Lakatos|Alan Musgrave, Charles Pigden}}
* Matteo Motterlini: [http://ac.els-cdn.com/S0039368102000249/1-s2.0-S0039368102000249-main.pdf?_tid=09d27eb4-8bcb-11e3-bf9d-00000aacb35f&acdnat=1391319171_f347eb4714298362786620bdf9a03444 Reconstructing Lakatos] (Discussion Paper Series DP 56/01 der London School of Economics and Political Science)
== Einzelnachweise ==
<references/>
{{Normdaten|TYP=p|GND=118568817|LCCN=n/50/39434|NDL=00446677|VIAF=108401548}}


{{SORTIERUNG:Lakatos, Imre}}
* {{WikipediaDE|Ceteris paribus}}
[[Kategorie:Philosoph (20. Jahrhundert)]]
{{Wiktionary|ceteris paribus}}
[[Kategorie:Kritischer Rationalist]]
{{Wiktionary|Ceteris-paribus-Klausel}}
[[Kategorie:Mathematiker (20. Jahrhundert)]]
[[Kategorie:Wissenschaftstheoretiker]]
[[Kategorie:Hochschullehrer]]
[[Kategorie:Ungar]]
[[Kategorie:Geboren 1922]]
[[Kategorie:Gestorben 1974]]
[[Kategorie:Mann]]


{{Wikipedia}}
[[Kategorie:Wissenschaftstheorie]]

Version vom 23. März 2019, 07:51 Uhr

Ceteris paribus (lat., sinngemäß: „unter sonst gleichen Bedingungen“; abgekürzt: c. p. oder cet. par.) bedeutet, dass man bei wissenschaftlichen Modellen bzw. Experimenten jeweils immer nur eine Einflussgröße verändert, während alle anderen konstant gehalten werden, um genau deren Einfluss bestimmen zu können.

Siehe auch

 Wiktionary: ceteris paribus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
 Wiktionary: Ceteris-paribus-Klausel – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen