Bisexualität: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 29. Dezember 2017, 11:40 Uhr

Als Bisexualität (eigentlich „Ambisexualität“, nach der lateinischen Vorsilbe bi- für „zwei“) bezeichnet man die sexuelle Orientierung oder Neigung, sich sowohl zu Frauen als auch zu Männern emotional oder sexuell hingezogen zu fühlen. Als Kurzform ist das Adjektiv bi gebräuchlich. Es werden in der Regel nur solche Menschen als bisexuell bezeichnet, die mit Männern und Frauen sexuelle Beziehungen oder Partnerschaften einzugehen bereit sind, obwohl dies keine Aussage über das Vorhandensein dieser Orientierung macht.

Begriffswandel

Als Bisexualität wurde bis Anfang des 20. Jahrhunderts das Vorhandensein von zweierlei Geschlechtsmerkmalen an einem Individuum betrachtet, was man heute als Hermaphroditismus, Zwittertum oder Intersexualität einordnen würde. Die These der konstitutionellen Bisexualität geht darüber hinaus davon aus, dass dies der normale Entwicklungsprozess der menschlichen Sexualität und Geschlechtsentwicklung sei. Jede Anlage sei vorhanden; in der Regel würde sich jedoch ein binäres Geschlechtsmerkmal weiterentwickeln, während das andere rudimentär vorhanden bleibe.[1] Für den Menschen werden die Geschlechtschromosomen (Gonosom) als für diese Entwicklung bestimmende Erbanlage von der Genetik angesehen.[2]

Dieses entwicklungsbiologische Begriffsverständnis wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts von einer Auffassung verdrängt, die sowohl in der Wissenschaft als auch in der Umgangssprache eine sexuelle bzw. erotische Ausrichtung beschreibt. Infolge der patriarchalen Grundlage und Strukturen vieler vormoderner Gesellschaften sind verlässliche historische Aussagen oft auf die Sexualität von Männern beschränkt. Eine literarische Bewegung, die weibliche Interessen widerspiegelte, entstand erst später. Die Liebe zwischen zwei Freundinnen bildete dabei eines der populärsten Themen. Manifeste sexuelle Beziehungen blieben aber wegen ihrer gesellschaftlichen Anstößigkeit grundsätzlich ausgespart. Stattdessen war romantisierend zum Beispiel im Europa des 18. Jahrhunderts von der Freundschaft oder „Seelenverwandtschaft“ zwischen zwei Frauen die Rede, die auch durch die Heirat mit einem Mann nicht unterbrochen werden konnte. Etwas anders verhielt es sich in der arabischen Welt, wenn die Lebenswelt von Frauen ausnahmsweise einmal in den Fokus der Literatur geriet.

Sigmund Freud stellte 1915 die These auf, dass die ursprüngliche Anlage des Menschen bisexuell sei.

„Der Psychoanalyse erscheint […] die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht des Objektes, die gleich freie Verfügung über männliche und weibliche Objekte, wie sie im Kindesalter, in primitiven Zuständen und frühhistorischen Zeiten zu beobachten ist, als das Ursprüngliche, aus dem sich durch Einschränkung nach der einen oder der anderen Seite der normale [d. h. heterosexuelle] wie der Inversionstypus [d. h. der homosexuelle] entwickeln. Im Sinne der Psychoanalyse ist also auch das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit […][3]

Freud hat sich allerdings nie klar zu den Ursachen dieser „Einschränkung“ geäußert. In anderen Schriften, insbesondere im Zusammenhang mit dem Ödipuskomplex, scheint er Heterosexualität als eine ursprüngliche Anlage zumindest des Mannes, Homosexualität dagegen als eine durch bestimmte familiäre Konstellationen verursachte Abweichung anzunehmen. Noch bis in die siebziger Jahre hinein wurde von vielen Psychoanalytikern die Bisexualitätsthese nicht diskutiert und Homosexualität als psychische Krankheit angesehen.

Wissenschaftliche Untersuchungen in westlichen Industrieländern

Flagge der Bisexuellen

Wie hoch der Anteil der Bisexualität in der Bevölkerung ist, lässt sich nur schwer einschätzen. Aussagen in der Literatur bewegen sich sehr weit auseinander. Vielfach wird der Kinsey-Report zitiert, der 1948 zwischen 90 und 95 Prozent der Bevölkerung als „bis zu einem gewissen Grad bisexuell“ einstufte. Tatsächlich werden bisexuelle Orientierungen eher selten ausgelebt. Einige Sexualwissenschaftler erklären dies mit der Durchsetzung einer „monosexuellenNorm bzw. Heteronormativität in unserer Kultur.[4][5]

Eine 2005 veröffentlichte, kontrovers diskutierte Studie über bisexuelle Männer in den USA kam zu dem Schluss, dass eine bisexuelle Selbstbezeichnung nur in etwa zwei Prozent der Fälle eine sexuelle Orientierung zu zwei Geschlechtern bedeutet. Drei Viertel der als bisexuell bezeichneten Probanden seien homosexuell, der Rest heterosexuell. Die Grundlage dieser Aussage war die apparativ gemessene sexuelle Erregung des Penis während des Anblicks von erotischem Bildmaterial, das entweder Männer oder Frauen zeigte.[6] Aufgrund eines Berichts in der New York Times erhielt die Untersuchung die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.[7] Die Studie wird von der National Gay and Lesbian Task Force abgelehnt, die auf methodische Schwachpunkte aufmerksam machte.[8] Darüber hinaus kritisierte die Organisation Fairness and Accuracy in Reporting (FAIR), die New York Times habe es versäumt, auf frühere Veröffentlichungen des Koautors J. Michael Bailey aufmerksam zu machen. Dieser habe in der Vergangenheit für ein Recht der Eltern plädiert, homosexuellen Nachwuchs mit Hilfe der Eugenik auszuschließen, sobald dies technisch möglich sei.[9][10]

Eine britische Studie des Meinungsforschungsinstituts YouGov aus dem Jahr 2015 ergibt einen Anteil von 19 % Bisexuellen (Personen, die sich selbst auf der Kinsey-Skala zwischen 1 und 5 einstufen), bei den 18- bis 24-Jährigen sogar 43 % Bisexuelle.[11] Dabei benutzen nur 2 % der Befragten die Bezeichnung „bisexuell“ für sich selbst.[12] Eine Studie der Universität Essex um Gerulf Rieger kam zu dem Schluss, dass 74 % der Frauen, welche sich als heterosexuell bezeichnen, und insgesamt 82 % aller Frauen bisexuell seien. In der Untersuchung wurden körperliche Reaktionen (wie geweitete Pupillen) auf das Betrachten nackter Menschen in Videos untersucht.[13][14][15] Die TAZ-Redakteurin Saskia Hödl wies in einem Kommentar darauf hin, dass in einer anderen Studie ähnliche körperliche Reaktionen allerdings auch beim Betrachten von Videos kopulierender Affen nachweisbar gewesen wären.[15]

Eine schwedische Studie an eineiigen Zwillingen aus dem Jahr 2008 sieht einen komplexen Zusammenhang verschiedener Faktoren, die die sexuelle Orientierung steuern. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass die Ausprägung dieser Orientierung bei Männern einen genetischen Einfluss von etwa 35 % (Frauen etwa 18 %) hat; welche anderen Faktoren ebenfalls eine Rolle spielen, ist jedoch unklar. Sicher scheint jedoch zu sein, dass frühe Kindheitserfahrungen oder Erziehung zumindest bei der Entwicklung der männlichen sexuellen Orientierung keine Rolle spielen.[16]

Bisexualität in anderen Kulturen

Bisexueller Geschlechtsverkehr, dargestellt auf einem römischen Fresko aus Pompeji (79 n. Cr.)
Druckgrafik von Nishikawa Sukenobu (Anfang 18. Jahrhundert)

In manchen Gesellschaften, wie der griechisch-römischen Antike oder der islamischen Welt, galt die erotische Anziehung zu zwei Geschlechtern als nahezu universelle Norm.[17] Die ausschließliche Fixierung auf ein Geschlecht, heute als „Homosexualität“ und „Heterosexualität“ bezeichnet, wurde nur selten zum Thema gemacht. Dort wo dies geschah, wie etwa in Pseudo-Lukians Die Arten zu lieben, ist die ironische Intention des Autors unverkennbar. So wird der eine von zwei Diskutanten in diesem fiktiven Dialog aus dem beginnenden vierten Jahrhundert n. Chr. mit dem Stigma der Effeminiertheit bedacht, weil sich sein erotisches Interesse ausschließlich auf Frauen richtet, während der andere als Kauz erscheint, da er aufgrund seiner sexuellen Neigungen einen rein männlichen Haushalt führt.

Auch viele islamische Geistliche des Mittelalters sahen, obwohl sie den gleichgeschlechtlichen Verkehr gemäß ihrer Religion als schwere Sünde bewerteten, die erotische Anziehung gegenüber zwei Geschlechtern als eine Grundgegebenheit des menschlichen Daseins an. So schreibt der im Jahr 1200 n. Chr. verstorbene hanbalitische Rechtsgelehrte Ibn al-Gauzi: „Derjenige, der behauptet, dass er keine Begierde empfindet [wenn er schöne Knaben erblickt], ist ein Lügner, und wenn wir ihm glauben könnten, wäre er ein Tier, nicht ein menschliches Wesen.“

Sexuelle Beziehungen wurden im Islam relativ offen bei ihrem Namen genannt. Gebräuchlich war vor allem der Begriff sihaq (dt. „Reiben“) als Bezeichnung für die sexuelle Praktik der Tribadie.[18] Die Liebe zwischen zwei Frauen wurde dabei literarisch nicht als Widerspruch zur Ehe konstruiert, obwohl manche Juristen die Tribadie als strafbare außereheliche Aktivität ansahen. Deren Nachweis durch die von der Scharia verlangten vier Augenzeugen war aber praktisch unmöglich, so dass dieses Verbot rein theoretischer Natur blieb.[19]

Bisexualität im Tierreich

Bisexualität ist relativ häufig im Tierreich beobachtbar. So gelten etwa die Bonobos als eine vollständig bisexuelle Tierart, die vor allem für ihren ausgeprägten „Lesbianismus“ bekannt ist. Angenommen wird hier eine über die Vermehrung hinausgehende Multifunktionalität sexuellen Verhaltens.

Siehe auch

Portal
Portal
 Wikipedia:Portal: Homo- und Bisexualität – Übersicht zu Wikipedia-Inhalten zum Thema Homo- und Bisexualität

Literatur

  • Ellen Bass, Kate Kaufman: Wir lieben, wen wir wollen: Selbsthilfe für lesbische, schwule und bisexuelle Jugendliche. Berlin 1999, ISBN 3-929823-62-4.
  • Agnes Frei: Lieb doch die Männer und die Frauen: Bisexualität – der zweite siebte Himmel. Essays und Reportagen, Gedichte und Geschichten. Reinbek bei Hamburg 1989, ISBN 3-499-12542-0.
  • Marjorie Garber: Die Vielfalt des Begehrens. Bisexualität von der Antike bis heute. Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-596-14817-0.
  • Kerstin Münder: ‚Ich liebe den Menschen und nicht das Geschlecht‘. Königstein/Taunus 2004, ISBN 3-89741-140-7.
  • Bettina Schmitz: Psychische Bisexualität und Geschlechterdifferenz, Passagen Verlag, Wien 1996, ISBN 3-85165-242-8.

Mediale Rezeption

Weblinks

Einzelnachweise

  1. H.-J. Voß: Geschlecht: Wider die Natürlichkeit. Schmetterling, Stuttgart 2011.
  2. Lizzie Buchen: The fickle Y chromosome. In: Nature, Band 463, 2010, S. 149, doi:10.1038/463149a, Volltext
  3. Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Die Studie erschien erstmals im Jahr 1905; das oben gegebene Zitat ist ein Zusatz in der Auflage 1915. Hier zitiert nach: Sigmund Freud, Studienausgabe, Band V Sexualleben. Hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Frankfurt am Main (S. Fischer Verlag), 4. Auflage 1972, S. 56.
  4. Siehe http://www.lsbk.ch/gibt-es-heterosexualitaet/
  5. Renate-Berenike Schmidt, Uwe Sielert: Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung, ISBN 978-3-7799-0791-6, (online)
  6. G. Rieger, M. L. Chivers, J. M. Bailey: Sexual arousal patterns of bisexual men. Psychol Sci. 2005 Aug; 16 (8): S. 579–584. PMID 16102058
  7. Benedict Carey: Straight, Gay or Lying? Bisexuality Revisited. New York Times, 5. Juli 2005
  8. National Gay and Lesbian Task Force: The Problems with „Gay, Straight, or Lying?“ (Memento vom 22. Juli 2011 im Internet Archive), Juli 2005
  9. Fairness & Accuracy in Reporting: New York Times Suggests Bisexuals Are „Lying“. Paper fails to disclose study author’s controversial history., 8. Juli 2005.
  10. Vgl. A. S. Greenberg, J. M. Bailey: Parental selection of children's sexual orientation. Arch Sex Behav. 2001 Aug; 30 (4): S. 423–437. PMID 11446202
  11. 1 in 2 young people say they are not 100% heterosexual, YouGov UK, 14. August 2015.
  12. Jen Yockney: This is why more young people say they are not 100% straight or gay, gaystarnews.com, 18. August 2015
  13. Most women are bisexual or gay but never straight, study suggests. New York Times, 5. November 2015, abgerufen am 17. November 2015.
  14. Getting in touch with our female sexuality. Universität Essex, 5. November 2015, abgerufen am 17. November 2015.
  15. 15,0 15,1 Reiz-Reaktions-Maschine_Frau. 5. November 2015, abgerufen am 17. November 2015.
  16. So nah am anderen Ufer, Die Zeit
  17. Islam und »schwule« Liebespoesie im maurischen Spanien (Memento vom 29. September 2007 im Internet Archive). Textausschnitt aus: John Boswell, Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality (übers.)
  18. Siehe taz vom 14. März 1996 (online)
  19. Siehe http://www.well.com/user/queerjhd/fm_marriage.htm


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