Schauen der Sonne um Mitternacht

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Das Schauen der Sonne um Mitternacht bezeichnet in vielen Mysterienschulen eine Stufe des Einweihungsweges, auf der sich der hellsichte Blick für die geistige Sonne öffnet, die sich dann als Gemeinschaft geistiger Wesen offenbart, die mit dem Sonnendasein verbunden sind.

„Ob wir nun sprechen von morgenländischen Mysterien, ob wir sprechen von abendländischen Mysterien, gewisse Stufen haben alle gemeinsam. Daher haben auch für alle Mysterien gewisse Ausdrücke einen guten Sinn, Ausdrücke, die etwa so gefaßt werden können, daß man sagt: Zunächst muß jede Seele, die eine gewisse Stufe der Initiation, eine gewisse Stufe des Mysterienwesens erreichen will, das erfahren, was man nennen kann «in Berührung kommen mit dem Erlebnis des Todes». Das zweite, wovon jede Seele etwas erfahren muß, ist der «Durchgang durch die elementarische Welt». Das dritte ist das, was man in den ägyptischen oder sonstigen Mysterien genannt hat das «Schauen der Sonne um Mitternacht», und ein weiteres ist das, was man die «Begegnung mit den oberen und unteren Göttern» nennt. Diese Erlebnisse muß sozusagen jeder durchmachen, der bis zu einer bestimmten Stufe der Initiation kommt. Er muß in die Lage kommen, aus innerer Erfahrung zu wissen, was mit diesen Dingen gemeint ist, und muß fähig sein, sozusagen in zwei Welten zu leben: in der einen Welt, in welcher der Mensch eben heute lebt, in der Welt des physischen Planes, und in der anderen Welt, in der man nur leben kann, wenn man weiß, was es heißt: man ist «mit dem Tode in Berührung gekommen»; man ist «durch die elementarische Welt gegangen»; man hat «die Sonne um Mitternacht gesehen»; man hat die «Begegnung mit den oberen und unteren Göttern» gehabt.“ (Lit.:GA 144, S. 20f)

Im Gegensatz zur Mystik, wo sich der Geistesschüler in sein eigenes Inneres versenkt, haben wir es hier mit einer Einweihung in den Makrokosmos zu tun. Es ist eine Weg der Ekstase, wie wir sie unbewusst jede Nacht im Schlaf erleben, wenn sich das Ich und der Astralleib aus dem belebten Leib - also aus dem physischen Leib und Ätherleib - heraushebt. Die unerträgliche Furcht, dabei ins Nichts zu zerfliessen wie ein Wassertropfen im Ozean, dämpft darum normalerweise das Bewusstsein, wenn wir uns in den Makrokosmos verströmen.

„Dieser Weg in die geistige Welt hinein ist derselbe, den auch jeder Nichthellsichtige beim Einschlafen macht, nur daß er dabei bewußtlos wird. So lebt ein jeder von uns abwechselnd wachend in den physisehen Körper, den Mikrokosmos eingezwängt, und schlafend ins Ungeheure ausgedehnt und vereint mit der großen Welt um uns, dem Makrokosmos.

Warum müssen wir denn, so könnten wir weiter fragen, in Bewußtlosigkeit fallen? - Das hat seinen Grund darin, daß der heutige Mensch dazu noch nicht reif ist und sein Ich es nicht ertragen könnte, in das Weltenall bewußt hinauszuströmen.“ (Lit.:GA 118, S. 201f)

In den nordischen Mysterien bereiteten sich die Geistesschüler auf das Schauen der geistigen Sonne zur Zeit der Wintersonnenwende vor, indem sie ihre Seele mit dem tiefem Mitempfinden des ganzen Jahreslaufs erfüllten. Er ging durch die elementarische Welt und schaute die Elementarwesen des Feuers, der Luft, des Wassers und der Erde, die die ganze Natur beleben und gestalten.

„In den alten Mysterien freilich geschah es, daß der Einzuweihende, selbst wenn sein Ich noch nicht völlige Stärke hatte, bewußt in den Makrokosmos hinausgeführt wurde, es mußte jedoch der Initiator stets bei ihm sein, um ihm rechtzeitig helfen zu können. Diese Art des Hellsehens, wie sie in den alten Geheimschulen Europas erzielt wurde, nennt man die Ekstase. Für unsere heutige Entwickelungs stufe ist diese Methode nicht mehr passend, und an ihre Stelle ist eine andere getreten, von der wir jetzt sprechen werden. Es ist die Rosenkreuzermethode.

Wie eben gesagt wurde, war der Schüler in den alten Mysterien unter der Aufsicht seines Lehrers, welcher zu verhindern hatte, daß sich das heraustretende Ich völlig auflöste und in Ohnmacht fiel. Diese ekstatische Versenkung wurde erreicht durch die streng geregelte Pflege gewisser Gefühle, welche man auch im alltäglichen Leben hat. Die alte Methode war, diese Gefühle an solche anzuknüpfen, wie sie der Mensch auch heute noch, wenn auch in weit geringerem Maße, bei dem Wechsel der Jahreszeiten hat. Wenn zum Beispiel der Schüler hinaustrat in die frische Frühlingslandschaft und er sah, wie aus der schmelzenden Schneedecke heraus das junge Gras und die ersten Blumen sprießen, wenn er rings um sich das Auferstehen aus dem Winterschlafe sah, wenn er unter seinen Füßen die starre Erde tauen fühlte und die dürren kahlen Bäume neue Knospen treiben sah unter der weckenden Berührung des warmen Sonnenlichtes, dann hatte er dieses auferstehende Leben in sich zu durchfühlen und sich in tiefster Meditation mit ganzer Seele ihm hinzugeben.

Durch immerwährende Wiederholung hatte er dann dieses Gefühl zu ungeahnter Stärke anschwellen zu lassen. Du mußt - so sagte ihm der Initiator - so gewaltig und so lebendig- diese Freude und diese Zuversicht und Lebensfrische in dir entfachen können, wie die Erde sie selbst fühlen würde, wenn sie Bewußtsein hätte.

Ebenso mußte der Schüler im Herbste die Wehmut empfinden lernen, er mußte das Absterben rings in der Natur auf sich wirken lassen, er mußte fühlen, wie Wälder und Wiesen ihren Blätterschmuck verlieren und das Leben sich zurückzieht in den Schoß der Erde. Mit ihr mußte er um ihre Kinder trauern können. Ebenso hatte er die andern Jahreszeiten und besonders die Winter- und Sommersonnenwende in seinem Innern zu erleben.“ (Lit.:GA 118, S. 203f)

„So wurden unter anderem erzogen diejenigen Schüler, welche mitgemacht haben den Empfindungsunterricht in den alten nordischen Mysterien, die heute der Außenwelt schon nur mehr der Tradition nach, nur äußerlich bekannt sind. Da wurden die Schüler so erzogen, daß sie durch besondere Methoden lernten, den jährlichen Gang der Natur in ihrem Empfinden, in ihrer Seele mitzumachen. Und alles das, was der Schüler im Sommer zur Zeit der Johannisnacht erlebte, das bedeutete ein Mitjauchzen mit der ganzen Natur. Die Feuer der Johannisnacht waren etwas wie ein Andeuten der Steigerung des Hoffnungsgefühls im Frühling zu einem Mit jauchzen mit der Natur im Sommer, wenn man den den ganzen Kosmos durchziehenden Lebenshauch miterlebte. Und in der Wintersonnenwende empfand der Schüler in tiefster Seele mit das Hinsterben der Natur, unendlich steigernd das Wehmutsgefühl des Herbstes bis zum Mitempfinden des Todes.

So waren die Empfindungserlebnisse, die in der Tat in dieser Stärke kaum mehr von dem heutigen Menschen erlebt werden können. Denn der heutige Mensch ist durch die Fortschritte des intellektuellen Lebens der letzten Jahrhunderte im wesentlichen unfähig zu jenen großen, gewaltigen Erlebnissen, welche die Seele der ursprünglichen Naturvölker des europäischen Festlandes, namentlich der nördlichen und mittleren Gebiete Europas, durchmachten. Dann aber, wenn so etwas durchgemacht worden war, zeigte sich in der Tat für diejenigen Menschen, die so ihre inneren Seelenerlebnisse gesteigert hatten, etwas sehr Eigentümliches. Sie erlangten eine bestimmte Fähigkeit. Wie der Mystiker die Fähigkeit hat, in sein eigenes Inneres hinunterzusteigen, so erlangten sie die Fähigkeit - so sonderbar das auch klingt, es ist aber der Fall, ich schildere nur Dinge, welche unzählige Menschen erlebt haben und noch erleben können -, sie erlangten die Fähigkeit, die Materie zu durchschauen, das heißt, sie konnten nicht bloß das sehen, was man als Oberfläche wahrnimmt, sondern sie konnten durch diese hindurchschauen, vor allen Dingen vermochten sie in der Zeit von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang durch unsere Erde hindurchzuschauen, und durch die durchsichtige Erde hindurch erglänzte ihnen lebendig die Sonne. Das nannte man in den alten Mysterien das Schauen der Sonne um Mitternacht. Allerdings konnte die Sonne in ihrer größten Fülle und Herrlichkeit nur dann geschaut werden, wenn man sich mit seiner Seele in der Zeit der Wintersonnenwende jenem Zustande genähert hatte, wo der ganze äußere Sinnesteppich abgestorben war. Dann hatte man die Fähigkeit errungen, die Sonne zu schauen, jetzt nicht als eine blendende Wesenheit, wie sie bei Tag erscheint, sondern alles Blendende an der Sonne war abgeschwächt; man sah die Sonne nicht mehr als physisches Wesen draußen, sondern als geistiges Wesen. Man schaute den Sonnengeist. Was als physische Wirkung wie eine Blendung wirkte, war ausgelöscht durch die Materie der Erde. Diese war durchsichtig geworden, und sie ließ nur das Geistige der Sonne durch.“ (Lit.:GA 119, S. 98f)

„Der Mensch sieht die Sonne vom Aufgange bis zum Niedergange, und er sieht die Sonne nicht, wenn die physische Erdenmaterie sie zudeckt; vom Untergange bis zum Aufgange sieht er sie nicht. Solche Finsternis, wie sie im physischen Leben herrscht vom Niedergange der Sonne bis zum Aufgange derselben, solche Finsternis gibt es in der geistigen Welt nicht. In dem Augenblicke, wo der Hellseher dasjenige errungen hat was beschrieben worden ist, in dem Augenblicke, wo er hinter dem Feuer die Geister des Feuers, hinter der Luft die Geister der Luft, hinter dem Wasser die Geister des Wassers und hinter der Erde die Geister der Erde erblickt, in diesem Augenblick sieht er hinter diesen geistigen Wesenheiten deren höheren Herrscher, deren höheren Lenker, dasjenige, was sich verhält zu diesen Elementarwesenheiten, wie sich verhält die erwärmende und beleuchtende, die wohltätige Sonne zu dem sprießenden und sprossenden physischen Leben auf unserer Erde. Das heißt, der Hellseher ringt sich durch von der Betrachtung der Elementarwesenheiten zu der Betrachtung der höheren geistigen Wesenheiten, die im geistigen Reiche etwa sind, was sich im physischen Reiche sinnbildlich vergleichen läßt mit der Sonne im Verhältnis zur Erde. Der Mensch sieht dann hinter den Elementenwesen eine hohe geistige Welt: die geistige Sonne. Wenn für den Hellseher dasjenige, was sonst Finsternis ist, Licht wird, wenn er die Erleuchtung erlangt, dann, dann dringt er vor, wie das physische Auge zur Sonne vordringt, zur geistigen Sonne, das heißt zu den geistigen Wesenheiten. Und wann dringt er vor zu diesen höheren geistigen Wesenheiten? Dann dringt er vor, wenn gleichsam für die Menschen die geistige Finsternis am höchsten ist. Der Mensch lebt, wenn er sonst frei ist in bezug auf seinen Astralleib und auf sein Ich, also vom Momente des Einschlafens bis zu dem des Aufwachens, er lebt, indem ihn Finsternis umgibt, weil er die geistige Welt, die ihn dann umgibt, nicht sieht. Diese Finsternis nimmt allmählich zu, erreicht einen Höhepunkt und nimmt wiederum ab bis zum Morgen, wo er aufwacht. Sie erlangt sozusagen einen höchsten Grad. Man kann diesen höchsten Grad geistiger Verfinsterung vergleichen mit demjenigen im äußeren Leben, was man die Mitternachtsstunde nennt. Wie in dieser normalerweise die äußere physische Finsternis am stärksten ist, wie sie bis dahin zunächst zunimmt und nachher abnimmt, so gibt es in bezug auf die geistige Finsternis einen höchsten Grad, eine Mitternacht. Auf einer gewissen Stufe des Hellsehens ist es so, daß man während der Zeit, während welcher für den ungeistig-erkennenden Menschen die geistige Finsternis aufsteigt, die Elementargeister sieht; wiederum so beim Abfluten der Finsternis. Hat man nur eine niedere Stufe des Hellsehens erreicht, so ist es so, daß man zuerst sozusagen gewisse Elementargeister erlebt, daß aber gerade dann, wenn man den höchsten geistigen Moment erleben will, die Mitternachtsstunde, daß dann noch eine Verfinsterung eintritt, und erst dann wiederum eine Erhellung eintritt. Wenn man aber eine bestimmte Stufe des Hellsehens erreicht hat, dann wird, was man Mitternachtsstunde nennen kann, um so heller. In dieser Zeit[1] erlebt man das Anschauen derjenigen geistigen Wesenheiten, die in bezug auf die Elementengeister sind wie die Sonne zur physischen Erde; man erlebt die höheren, schöpferischen, die Sonnenwesenheiten, es tritt jener Moment ein, den man technisch nennt das Schauen der Sonne um Mitternacht.“ (Lit.:GA 113, S. 46f)

Anmerkungen

  1. Man muß sich darüber klar sein, daß mit dieser «Mitternachtsstunde» nicht ein mit dem äußeren Zeitverlauf zusammenfallender Augenblick, sondern ein innerer Zustand gemeint ist.

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt, GA 118 (1984), ISBN 3-7274-1180-5 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  2. Rudolf Steiner: Makrokosmos und Mikrokosmos, GA 119 (1988), ISBN 3-7274-1192-9 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  3. Rudolf Steiner: Die Mysterien des Morgenlandes und des Christentums, GA 144 (1985), ISBN 3-7274-1440-5 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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