Goetheanismus

Aus AnthroWiki
Version vom 21. Januar 2007, 18:06 Uhr von imported>Odyssee

Das Wort Goetheanismus taucht zum ersten Mal 1803 in einem Brief des schwedischen Diplomaten von K. A. von Brinckmann an Goethe auf. Er bezeichnet damit die Weltanschauung Goethes insgesamt. Durch Rudolf Steiner, den ersten Herausgeber der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes unter Einbeziehung des Nachlasses (Goethe 1891-1896), wurde die Bezeichnung ab 1915 zunehmend für die den Naturstudien Goethes zugrunde liegende Methode verwendet, ohne sie allein darauf zu beschränken.

Im Bereich der Naturwissenschaften tritt Goetheanismus als ganzheitlich orientierte, rein phänomenologisch auf die Erfahrung gegründete Wissenschaftsmethodik auf, die, im Gegensatz zur herkömmlichen Naturwissenschaft, frei von spekulativen Elementen, Hypothesen und Modellvorstellungen ist. Goethes naturwissenschaftliche Forschungsmethode darf nicht mit der idealistischen Naturphilosophie der Romantik (Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Lorenz Oken) verwechselt werden.

Die Grundlage von Goethes Forschungsmethode

Rudolf Steiner charakterisiert den Ausgangspunkt von Goethes Forschungsmethode so:

"Goethe hat - ich habe das durch viele Jahre hindurch in der verschiedensten Weise dargestellt - eigentlich eine ganz andere Richtung der Naturforschung gefordert, als diejenige ist, die dann im 19. Jahrhundert und für unsere Zeit noch entstanden ist. Goethe wollte nämlich aus der Naturforschung etwas ausgemerzt haben, was ja für das gewöhnliche Leben eine Berechtigung hat, aber aus der Forschung wollte er es ausgemerzt haben. Immer wieder und wiederum kommt er darauf zurück, dieses Bestimmte aus der Forschung auszumerzen. Das, was er ausmerzen wollte, das war nämlich das Kombinieren, das Interpretieren der Tatsachen, die sinnlich wahrgenommen werden. Er wollte, daß nur die Tatsachen, die sinnlich wahrgenommen werden, ihrer eigenen Natur nach als Phänomene beschrieben werden; er wollte die sinnlichen Phänomene auf ihre Urphänomene zurückführen, aber nicht kombinieren mit dem Verstande: Was liegt da oder dort zugrunde? - Einen wunderschönen Ausspruch, der über die ganze Goethesche Weltanschauung hinleuchtet, hat Goethe getan, indem er sagte: Die Bläue des Himmels ist selber schon Theorie, man suche nur nichts hinter ihr.

Das reine Anschauen, das ist dasjenige, was Goethe gesucht haben will. Und den Verstand wollte er nur dazu benützt haben, um die Phänomene so zusammenzustellen, daß sie selbst ihre Geheimnisse aussprechen. Goethe wollte eine hypothesenfreie, eine von Verstandeskombination freie Naturforschung haben. Das liegt auch seiner Farbenlehre zugrunde. Man hat gar nicht verstanden, um was es sich bei diesen Dingen handelt." (Lit.: GA 180, S 69)

Systematik

Im Anorganischen wird das Denken dazu verwendet, die den Sinnen durch Beobachtung und Experimente gegebenen Qualitäten so zu ordnen, dass das eine Phänomen in seinen Zuständen und Vorgängen als Folge anderer Phänomene verständlich wird. Dabei werden wesentliche (für das Erscheinen des Phänomens notwendige) und unwesentliche (nur modifizierende) Bedingungen unterschieden. Ein solches Phänomen, bei dem sich ein unmittelbar einsichtiger, gesetzmäßiger Zusammenhang mit den wesentlichen Bedingungen zeigt, ist ein Urphänomen. Aus solchen können alle Beziehungen zwischen weiteren Phänomenen abgeleitet und letztere damit verstanden werden (beweisende Methode). So hat Goethe aus dem Urphänomen der Farbenlehre (Entstehung der Farbe an Licht, Finsternis und Trübe) die Grundlage einer Optik entwickelt (Goethe 1891-1896).

In der organischen Welt bedingen sich die Glieder der Erscheinungen nicht mehr nur gegenseitig, sondern jedes Einzelne wird vom Ganzen her dessen Eigenart gemäß bestimmt. Beim Studium der Vorgänge wird bemerkt, dass sich die Verwandlung (Metamorphose) der Blattorgane einer Pflanze von den Keimblättern über die Laubblätter, die Kelch-, Kron-, Staub- und Fruchtblätter aus einer Grundform (dem Typus) heraus vollziehen (Bockemühl 1977; Adams, Whicher 1960); die äußeren Bedingungen wirken lediglich modifizierend. Im gleichen Sinne werden die verschiedenen Arten als spezielle Erscheinungsformen der Gattung verständlich. Dies weist auf einen sinnlich-übersinnlichen Vorgang, der der Idee nach bei allen Pflanzen derselbe ist, der Erscheinung nach sowohl bei der einzelnen Pflanze als auch im ganzen Pflanzenreich verschiedene Formen hervorbringt und den Goethe die Urpflanze (den allgemeinen Pflanzentypus) nannte. Aus dieser lassen sich nach Goethe Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen und eine innere Wahrheit und Notwendigkeit haben (entwickelnde Methode).

Im Gegensatz zur Pflanze entwickelt das Tier seelisches Innenleben, das sich nach außen in der instinkt- und triebgebundenen Eigenbeweglichkeit kundgibt; der Mensch hat darüber hinaus in seinem Inneren bewusst teil am Geistigen. Im Zusammenhang damit enthält der Wandel der tierischen und menschlichen Formen im Gegensatz zum Wandel der pflanzlichen Formen wesentliche Sprünge, die u. a. durch Einstülpung (z. B. bei der Bildung der inneren Organe) bzw. Umstülpung, z. B. von Röhrenknochen in den Schädelknochen (Steiner 1926), verstanden werden können. Die entwickelnde Methode wird so zur Umstülpungsmethode erweitert, mit deren Hilfe u. a. die dreigliedrige tierische und menschliche Gestaltung erforscht wird (Poppelbaum 1938; Schad 1971).

Im Unterschied zum Tier werden in der Leiblichkeit des Menschen die Wirkungen des von Absterbeprozessen durchzogenen Nerven-Sinnessystems und des in Aufbauprozessen lebenden Stoffwechsel-Gliedmaßensystems durch ein eigenständiges, das momentan abgelähmte Leben momentan wieder anfachendes rhythmisches System so vermittelt, dass sie die physiologische Grundlage des Denkens, Wollens und Fühlens werden; durch diese Seelentätigkeiten kann die menschliche Individualität ihre Entwicklung selber fortsetzen (Steiner 1917). Von diesen Zusammenhängen ausgehend versucht der Goetheanismus, den sozialen Organismus in seiner Dreigliederung in Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben zu verstehen und zu gestalten (Steiner 1919).

Goethe-Zitate

  • "Ein Phänomen, ein Versuch kann nichts beweisen, es ist das Glied einer großen Kette, das erst im Zusammenhange gilt. Wer eine Perlenschnur verdecken und nur die schönste einzeln vorzeigen wollte, verlangend, wir sollten ihm glauben, die übrigen seien alle so, schwerlich würde sich jemand auf den Handel einlassen." Sprüche in Prosa 160, Maximen und Reflexionen 501
  • "Kein Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur viele zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, was für Theorie gelten könnte." Sprüche in Prosa 161, Maximen und Reflexionen 500
  • "Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre." Sprüche in Prosa 165, Maximen und Reflexionen 488
  • "Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an." Sprüche in Prosa 167, Maximen und Reflexionen 509

Literatur

  • G. Adams und O. Whicher (1960): Die Pflanze in Raum und Gegenraum. Stuttgart 1960
  • J. Bockemühl (1977): Die Bildebewegungen der Pflanzen. In: Erscheinungsformen des Ätherischen, Stuttgart 1977, ISBN 3-7725-0401-9
  • J. Bockemühl (1983): Goethes Naturwissenschaftliche Methode unter dem Aspekt der Verantwortungsbildung. Elemente der Naturwissenschaft 38 1983, S. 50-52
  • J. Bockemühl (1994): Die Fruchtbarkeit von Goethes Wissenschaftsansatz in der Gegenwart. Elemente der Naturwissenschaft 61 1994, S. 52-69
  • H. Bortoft (1995): Goethes naturwissenschaftliche Methode. Stuttgart, ISBN 3-7725-1544-4
  • J. W. Goethe (1891-1896): Naturwissenschaftliche Schriften. Sophien-Ausgabe, Weimar
  • J. W. Goethe (1883-1897): Naturwissenschaftliche Schriften. Hrsg. Joseph Kürschner, Bd. 114 - 117, 1883-1897, Fotomechanischer Nachdruck Dornach 1982, ISBN 3-7274-5210-2 (Reihe, 5 Bände)
  • P. Heusser (Hrsg.): Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften. Das Buch zur gleichnamigen Ringvorlesung an der Universität Bern. Bern Stuttgart Wien 2000, ISBN 3-258-06083-5
  • J. Kühl: Goethes Farbenlehre und die moderne Physik. In P. Heusser (Hrsg.): Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften. Bern Stuttgart Wien 2000, ISBN 3-258-06083-5
  • H. Poppelbaum (1938): Tier-Wesenskunde. Dornach 1954
  • W. Schad (1971): Säugetiere und Mensch. Stuttgart
  • W. Schad (1986): Die Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung im Entwurf Goethes. Tycho de Brahe-Jahrbuch für Goetheanismus 1986, S. 9-30, ISBN 3-926347-00-7
  • W. Schad (1987): Der Goetheanistische Forschungsansatz und seine Anwendung auf die ökologische Problematik des Waldsterbens. In G. R. Schnell (Hrsg.): Waldsterben, Stuttgart 1987, ISBN 3-7725-0549-X
  • W. Schad (1999): Alles ist Blatt. Tycho de Brahe-Jahrbuch für Goetheanismus 1999, S. 9-33, ISBN 3-926347-21-X
  • W. Schad (2001): Was ist Goetheanismus? Tycho de Brahe-Jahrbuch für Goetheanismus 2001, S. 23-66, ISBN 3-926347-23-6
  • R. Steiner (1883-1897): Goethes Naturwissenschaftliche Schriften. Stuttgart 1962, GA-Nr. 1
  • R. Steiner (1886): Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Dornach 1984, GA-Nr. 2, ISBN 3-7274-6290-6
  • R. Steiner (1897): Goethes Weltanschauung. Dornach 1985, GA-Nr. 6, ISBN 3-7274-6250-7
  • R. Steiner (1917): Von Seelenrätseln. GA-Nr. 21
  • R. Steiner (1919): Die Kernpunkte der sozialen Frage. GA-Nr. 23, Dornach 1976, ISBN 3-7274-0230-X
  • R. Steiner (1926): Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie. GA-Nr. 323, ISBN 3-7274-3230-6
  • R. Steiner: Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse, GA 180 (1966)

Weblinks


Dieser Artikel basiert (teilweise) auf dem Artikel Goetheanismus aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Lizenz Creative Commons Attribution/Share Alike. In Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.