Verstand

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Der Verstand (abgeleitet aus dem dt. Präfix ver- und dem Verb stehen; von ahd. firstȃn, „davorstehen“; griech. ἐπιστήμη epistêmê „Erkenntnis, Wissen, Wissenschaft“, lat. intellectus, intelligentia, „Intelligenz“ bzw. „ratio“) ist der auf das diskursive, d.h. schrittweise voranschreitende logische Denken gerichtete Teil der Verstandes- oder Gemütsseele, deren andere Seite das Gemüt ist, welches die Gefühls- und Willenssphäre umfasst. Im Verstand liegt das Vermögen Begriffe und Vorstellungen zu bilden, die Begriffe zu Urteilen zu verbinden und aus diesen weitere logische Schlüsse zu ziehen.

Übergeordnet dem Verstand, der sich auf die Erkenntnis des Einzelnen richtet, ist die Vernunft (griech. νοῦς, nous), als die auf das Geistige gerichtete Tätigkeit der Bewusstseinsseele, durch die das Einzelne erst ganzheitlich im großen Weltzusammenhang erfasst werden kann.

Das Verstandesorgan

Als zentrales Verstandesorgan gilt gemeinhin der Frontallappen des Gehirns, der mit rund 40% den größten Teil der Großhirnrinde ausmacht und namentlich auch für die Bewegungskontrolle wichtig ist. Sein vorderer Teil, der präfrontale Cortex, ist wesentlich an der bewussten Planung komplexer Handlungen, beim Treffen von Entscheidungen, der Aufmerksamkeit, der Bildung des Kurzzeitgedächtnisses und des Bewusstseins, sowie der Kontrolle von Emotionen und dem Ausdruck der Persönlichkeit beteiligt.

Allerdings ist es laut Rudolf Steiner nicht das Gehirn, das denkt, sondern dieses macht nur bewusst, was sonst unbewusst als weisheitsvolle Tätigkeit im restlichen Organismus waltet. Das geometrische, mechanistische und kausale Denken gründet sich namentlich darauf, dass die Gesetzmäßigkeiten der Knochenmechanik des Gliedmaßen-Systems ins Bewusstsein gehoben werden. Das Begreifen als Erkenntnisakt gründet sich auf das Ergreifen und Begreifen der äußeren Dinge mit der Hand. Das Gehirn dient in diesem Sinn nicht als Denkorgan, sondern nur als Spiegelungsorgan.

„Es ist ein Vorurteil, daß wir mit dem Kopf denken. Das ist gar nicht wahr. Wir denken mit den Beinen und mit den Armen; und dasjenige, was in den Armen und Beinen vor sich geht, bei dem schaut der Kopf zu und nimmt es in den Bildern der Gedanken auf. Er würde niemals, ich habe Ihnen das schon gesagt bei dem Weihnachtskursus, das Gesetz des Winkels kennenlernen, wenn er nicht schreiten würde. Er würde niemals mechanische Gleichgewichtsgesetze kennenlernen, wenn er sie nicht durch seinen eigenen Schwerpunkt, den er im Unterbewußtsein herumführt, kennenlernen würde. Sobald man zu dem Astralleib hinunterkommt, der das alles im Unterbewußtsein verarbeitet, erscheint einem der Mensch, wenn er [auch] manchmal auf der physischen Welt ganz töricht ist, ungemein weise, weil das alles, was da zum Beispiel an Geometrie entwickelt wird im Gehen, im Sich-Fühlen, weil das alles, wenn ich mich des Paradoxons bedienen darf, durchaus gewußt wird im Unterbewußtsein und dann durch das Gehirn angeschaut wird.“ (Lit.:GA 316, S. 208f)

Alles, was das flüssige Element und insbesondere die Muskeltätigkeit betrifft, kann durch diese Art des Denkens nicht mehr erfasst werden, sondern bedarf bereits der imaginativen Erkenntnis. Der Luftmensch und die damit zusammenhängende Tätigkeit der inneren Organe erschließt sich erst der Inspiration und in den Wärmemenschen kann man bewusst nur durch Intuition eintauchen.

Nach Rudolf Steiner ist das Verstandesorgan eine Metamorphose des bei den Tieren viel stärker ausgebildeten Geruchsorgans und auch des Geschmacksorgans.

„Hund hat in der Nase sehr feine Geruchsnerven. Das ist sehr interessant, diese feine Geruchsempfindung des Hundes zu studieren. Aber es ist auch sehr interessant, zu studieren, wie die Geruchsnerven des Hundes mit dem übrigen zusammenhängen. Hinter der Nase, im Gehirn, hat der Hund ein sehr interessantes Riechorgan. Die Nase ist nur ein Teil des Riechorganes. Hinter der Nase, im Gehirn, hat der Hund die Hauptmasse seines Riechorganes. Nun können wir vergleichen die Riechorgane des Hundes mit denen des Menschen.

Beim Hunde ist ein deutliches Riechorgan vorhanden, ein Gehirn, das im Grunde zum Riechorgan werden kann. Beim Menschen ist der größte Teil dieses Riechgehirns umgewandelt zum Verstandesgehirn. Was wir hinter der Nase haben, ist ein umgewandeltes Riechorgan. Wir verstehen die Dinge; der Hund versteht sie nicht, er riecht sie. Wir verstehen sie, weil an der Stelle, wo der Hund noch ein richtiges Riechorgan hat, wir ein umgewandeltes Riechorgan haben. Unser Verstandesorgan ist ein umgewandeltes Riechorgan. Wir haben nur einen kleinen Rest als riechendes Gehirn; daher riechen wir schlechter als der Hund.“ (Lit.:GA 354, S. 150f)

„Ebenso aber, meine Herren, ist es auch mit dem Geschmacksorgan des Menschen. Es gibt Tiere - die meisten Tiere sogar haben ein mächtig entwickeltes Geschmacksgehirn, können furchtbar gut ein Nahrungsmittel von dem anderen unterscheiden. Wissen Sie, so wie die Tiere genießen, davon haben wir gar keinen Begriff. Wir würden turmhoch springen, wenn uns all die Dinge, die wir essen, so geschmackvoll wären, wie den Tieren die Sachen geschmackvoll sind. Von der Art und Weise, wie der Hund vom Zucker beglückt ist, hat unser bißchen Zukkergeschmack gar keine Ahnung. Es kommt dies daher, daß bei den meisten Tieren ein mächtiges Geschmacksgehirn vorhanden ist. Beim Menschen ist auch davon nur ein kleiner Rest vorhanden. Dafür aber hat er wieder die Fähigkeit, Ideen zu bilden, mit dem umgewandelten Geschmacksgehirn Ideen zu bilden. Und auf diese Weise, sehen Sie, wird der Mensch das edelste Wesen auf der Erde, daß bei ihm von den Sinnesempfindungen im Gehirn immer nur ein Stückchen vorhanden ist; das andere ist umgewandelt zum Denken, zum Fühlen. Dadurch wird der Mensch das höchste Wesen. So können wir sagen: Da ist im menschlichen Gehirn mächtig umgewandelt Schmecken und Riechen, und nur Stückchen sind vorhanden vom Geschmacksgehirn und Geruchsgehirn. Beim Tier ist das nicht vorhanden, dagegen ist das mächtig ausgebildet (es wird auf die Zeichnung verwiesen). Das kann man schon an den äußeren Formen erkennen. Wenn der Mensch ein so mächtig ausgebildetes Geruchsgehirn hätte wie der Hund, dann hätte er keine Stirn. Die Stirn ginge zurück, weil das Geruchsgehirn nach hinten sich ausbilden würde. Aber indem es sich umwandelt, stülpt sich die Stirn auf. Weil der Hund die Nase nach vorne streckt, geht das Gehirn nach hinten. Wer darauf sich einschult, kann schon sagen, welche Tierformen besonders gute Geruchsempfindungen haben. Er braucht nur darauf zu sehen, daß das Gehirn nach hinten geht und die Nase mächtig ausgebildet ist, dann weiß er, das Tier hat eine gute Geruchsempfindung [...]

Das Tier kann alles. Warum? Weil seine äußeren Gehirnorgane noch nicht zu Denkorganen umgewandelt sind. Beim Menschen müssen erst, wenn er geboren ist, vom Gehirn aus diese stumpfen Reste von den Sinnesorganen erobert werden. Und deshalb muß das Kind lernen, während das Tier nicht zu lernen braucht, sondern alles von vorneherein kann. So ist es beim Menschen. Wir können alles ganz genau sehen: Menschen, die ganz einseitig nur ihr Gehirn ausgebildet haben, die können furchtbar fein denken, sind aber furchtbar ungeschickte Kerle. Beim Menschen kommt es darauf an, daß er nicht gar zu viel Gehirnmasse umgewandelt hat. Wenn er gar zu viel umgewandelt hat, kann er ein guter Dichter werden, aber er wird kein guter Mechaniker werden.“ (Lit.:GA 354, S. 156f)

Der Verstand als Produkt abbauender, zentripetaler Kräfte

„Was sind es für Kräfte, die vorzugsweise im menschlichen Haupte wirken und die ja verwandt sind den zentripetalen, den zusammenpressenden Kräften des Kosmos, was sind es für Kräfte? Es sind diejenigen Kräfte, die die ältesten Kräfte unseres Weltenalls sind. Erinnern Sie sich an meine Darstellungen in der «Geheimwissenschaft im Umriß», wie ich die alte Saturnentwickelung beschrieben habe, wie ich da hinweisen mußte darauf, daß sich herausgerungen hat aus dieser Saturnentwickelung das menschliche Sinnesleben. Was da zurückgeblieben ist aus dieser Saturnentwickelung, es liegt hinter unserem Sinnesteppich als die kalte, fröstelnde Welt, die sich eben aus dem Wärmezustand des Anfanges heraus entwickelt hat, in die wir heute Wärme hineinzutragen haben. Das, was da hinter dem Sinnesteppich liegt, ist gewissermaßen die älteste der Welten. Wir betreten sie unbewußt in der Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Wir wandeln aber eigentlich immerfort in ihr herum. Sie gibt uns alles dasjenige, was mit unseren Sinnen zusammenhängt. Die zentripetalen Kräfte wirken, gleichsam die Sinne von außen bildend, in unsere Sinne hinein, in unsere Augen, in unsere Ohren, und von da aus in unseren physischen Verstand, in dasjenige, was wir denken. Und indem wir durch die Welt denkend gehen, gehen wir eigentlich mit demjenigen menschlichen Besitz durch die Welt, der uns aus dieser Umgebung heraus gebildet wird, das heißt, mit den ältesten Kräften, die nun schon angekommen sind beim Zerfall. Das dürfen wir nie vergessen, daß dies die Kräfte sind, die eigentlich schon beim Zerfall angekommen sind.

Zeichnung aus GA 199, S. 183
Zeichnung aus GA 199, S. 183

Man möchte sagen, die Sache ist so: Wenn man schematisch darstellt das Weltenall, auseinander, ins Weite strebend, aber an dieser Grenze zentripetal zusammengehalten werdend, es sind die ältesten Kräfte des Weltenalls (siehe Zeichnung). Sie zerbröckeln in einer gewissen Weise. Und aus diesen zerbröckelnden Kräften, aus diesen in den Tod schon übergehenden Kräften, aus diesen zum Chaos gewordenen Kräften steigt dasjenige auf, was unser Verstand ist, was unser menschlicher Intellekt ist.“ (Lit.:GA 199, S. 182ff)

Die Verstandesseele und die damit verbundene „Kopfkultur“ erwachte so recht erst in der griechisch-lateinischen Kultur, die im Zeichen des Widders stand.

„Dann kam die griechisch-lateinische Zeit, das vierte nachatlantische Zeitalter. Die Sonne trat mit ihrem Frühlingspunkte ein in den Widder. Das entspricht der Kopfgegend des Menschen, der Stirngegend, der Oberkopf-, der eigentlichen Kopfgegend des Menschen. Es begann diejenige Zeit, in der der Mensch vorzugsweise sich so in ein erkennendes Verhältnis zur Welt setzte, daß dieses erkennende Verhältnis zur Welt ihm Gedanken brachte. Das Kopferkennen ist ganz verschieden von den früheren Arten des Erkennens. Das Kopferkennen trat ja in diesem Zeitalter besonders ein. Aber der Kopf des Menschen ist, trotzdem er fast eine getreue Nachbildung des Makrokosmos ist, gerade weil er in physischem Sinne eine getreue Nachbildung des Makrokosmos ist, im spirituellen Sinne eigentlich nicht gar viel wert. Verzeihen Sie den Ausdruck: als physischer Kopf ist der Kopf des Menschen nicht gar viel wert. Und wenn der Mensch auf seinen Kopf angewiesen ist, so kann er zu nichts anderem kommen als eigentlich zu einer Gedankenkultur.

Nach und nach hat auch die griechisch-lateinische Zeit, die ja, wie wir von andern Gesichtspunkten aus gesehen haben, die Kopfkultur bis zu ihrer Höhe brachte und dadurch gewissermaßen den Menschen in einer besonderen Weise heranbrachte an die Welt, in einer nach und nach sich entwickelnden Weise es zu der eigentlichen Kopf kultur gebracht, zu der Gedankenkultur, die dann abgelaufen ist. So daß man, wie ich gestern aufmerksam gemacht habe, vom 15. Jahrhundert ab nicht mehr wußte, wie man mit dem Denken noch mit der Wirklichkeit zusammenhing. Diese Kopfkultur, diese Widderkultur, sie war aber noch immer so, daß man gewissermaßen in den Menschen hereinnahm die Anschauung des Weltenalls. Und mit Bezug auf die physische Welt war diese Kopf kultur, diese Widderkultur, die allervollkommenste. Materialistisch ist erst dasjenige geworden, was sich dann als Entartung daraus entwickelt hat. Der Mensch trat durch seinen Kopf eben doch gerade in dieser Widderkultur in ein besonderes Verhältnis zur Umwelt. Und man versteht heute insbesondere die griechische Kultur schwer - die römische hat es ja dann ins mehr Philiströse verzerrt - , wenn man das nicht berücksichtigt, daß der Grieche eben zum Beispiel Begriffe und Ideen anders wahrnahm. Ich habe das in meinen «Rätseln der Philosophie» besonders ausgeführt.“ (Lit.:GA 180, S. 198f)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

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