Beatrice

Aus AnthroWiki
Version vom 5. Dezember 2016, 15:34 Uhr von imported>Odyssee
Beatrice bei den Engeln; Illustration von Gustave Doré zu Dantes Göttlicher Komödie.
Washington Allston: Beatrice (1819), Museum of Fine Arts, Boston
Ary Scheffer - Dante and Beatrice (1851, Boston Museum)
Giovanni Battista Comolli: Statue von Beatrice und Dante, Villa Melzi, Bellagio am Como-See (Italien)

Beatrice (aus dem Okzitanischen: „die Seligmachende“; neulat. Beatrix) ist eine Gestalt aus Werken Dante Alighieris (1265-1321). Sie ist in der Bildsprache Dantes ein Sinnbild für den geläuterten und zum Geistselbst verwandelten Astralleib, der in der christlichen Terminologie auch als Jungfrau Sophia bezeichnet wird.

"Wenn Sie die Lehren der Templer verfolgen, so ist da etwas im Mittelpunkte, was als etwas Weibliches verehrt wurde. Dieses Weibliche nannte man die göttliche Sophia, die göttliche Weisheit. Manas ist das fünfte Prinzip, das geistige Selbst des Menschen, das aufgehen soll, dem ein Tempel errichtet werden sollte. Und wie das Fünfeck vom Eingang des Salomonischen Tempels den fünfgliedrigen Menschen charakterisiert, ebenso charakterisiert dieses Weibliche die Weisheit des Mittelalters. Dante hat mit seiner «Beatrice» nichts anderes als diese Weisheit zur Darstellung bringen wollen. Nur der versteht Dantes «Göttliche Komödie», der sie von dieser Seite betrachtet." (Lit.: GA 93, S. 152)

Beatrice Portinari

Erstmals erwähnt Dante in Vita Nuova („Das neue Leben“) eine früh verstorbene Beatrice, die er in Florenz kennen gelernt habe. Die Vorlage seiner literarischen Beatrice war Beatrice Portinari (* 1266; † 8. Juni 1290), eine Tochter des Bankiers Folco Portinari, der der neunjährige Dante erstmals bei einem Frühlingsfest begegnete. Beatrice war damals gerade am Beginn ihres neunten Lebensjahrs. Von Anfang an bezauberte ihn ihre engelsgleiche reine Gestalt. Neun Jahre später traf er sie zum zweites Mal bei einem Jugendfest, wo sie ihm einen Blütenkranz überreichte. Im Alter von 20 Jahren heiratete Beatrice in Anwesenheit Dantes den Bankier und Ritter Simone dei Bardi, starb aber schon bald darauf im 24. Lebensjahr im Zuge einer Epidemie.

Vita Nuova

„Neunmal schon nach meiner Geburt war der Himmel des Lichtes gemäß dem ihm eigenen Kreislauf beinahe zu derselben Stelle zurückgekehrt, als meine Augen zum ersten Male die glorreiche Fraue meiner Seele erschien, die von vielen, die sie nicht anders zu nennen wußten, Beatrice genannt ward. Sie war so lange schon in diesem Leben, daß seit ihrer Geburt der Sternenhimmel um ein Zwölfteil eines Grades gegen Morgen vorgerückt war, also daß sie mir gegen den Anfang ihres neunten Jahres erschien, und ich sie fast am Ende meines neunten erblickte. Und sie erschien mir angetan mit einem Kleide von herrlicher, demütig-ehrbarlicher, blutroter Farbe, umgürtet und geschmückt, so wie es ihrem kindlichen Alter geziemte. Im selben Augenblick – also sag’ ich der Wahrheit gemäß – geschah es, daß der Geist des Lebens, der in der verborgenen Kammer des Herzens wohnt, so heftig zu erzittern begann, daß er sich in kleinsten Pulsen schrecklich offenbarte; und zitternd sprach er die Worte: Ecce deus fortior me; veniens dominabitur mihi (Siehe ein Gott, stärker denn ich; er kommt und wird über mich herrschen). Zu gleicher Zeit begann der empfindende Geist, der in derjenigen Kammer wohnt, wo alle sinnlichen Geister ihre Wahrnehmungen zutragen, sich sehr zu verwundern, und indem er sich insbesondere an die Geister des Gesichtes wandte, sprach er folgende Worte: Apparuit jam Beatitudo nostra (Unsere Seligkeit ist jetzt erschienen). Zur selben Zeit hub auch der natürliche Geist, der in jenem Teile seinen Sitz hat, wo unsere Nahrung bereitet wird, zu weinen an und sagte tränenüberströmt also: Heu miser! quia frequenter impeditus ero deinceps (Ach ich Armer! Denn häufig werde ich hinfort behindert sein)! Von Stund’ an, sage ich, war Frau Minne Herrin meiner Seele. Und so schnell war diese ihr zu eigen, so völlig gewann jene durch die Macht, die meine Einbildungskraft ihr verlieh, sichere Herrschaft über mich, daß ich ganz und gar alles tun mußte, was ihr genehm war. Sie befahl mir zu vielen Malen, daß ich suchen sollte, dies jugendliche Englein zu sehen; deshalb ging ich oftmals in meinem Knabenalter aus, sie zu suchen, und ich sah sie so wohlgeartet, fand ihr Gebaren so löblich, daß man fürwahr jenes Wort des Dichters Homer von ihr sagen konnte: „Nicht von sterblichen Menschen, von einem Gotte geboren schien sie.“ Und obschon durch ihr Bild, das immerdar mit mir war, Frau Minne sich erkühnte, mich zu beherrschen, so war es doch so edler Art, daß es jener niemals gestattete, mich ohne den getreuen Rat der Vernunft in Dingen zu leiten, in denen es heilsam ist, auf deren Rat zu hören. Doch da der Sieg über Leidenschaften und Handlungen in so früher Jugend ein Märlein scheint (was ich aus dem Buch, daraus das Obige genommen ist, entlehnen könnte), so wende ich mich zu jenen Worten, die in meinen Erinnerungen unter höheren Paragraphen verzeichnet sind.“

Dante Alighieri: Das neue Leben, Kapitel 2 [1]
Henry Holiday: Dante trifft Beatrice an der Ponte Santa Trinita (1883)
Lajos Gulácsy: Dante trifft Beatrice (1907)
Marcel Rieder: Dante und die Freundinnen Beatrices (1895)

Dante schildert seine Liebe zu Beatrice von der ersten Begegnung bis zu ihrem Tod, den er aber nicht ausspricht, sondern wortreich umschreibt, wobei er wie schon bei ihrer ersten Begegnung auf die mystische Zahl Neun Bezug nimmt, die ihren Ursprung in der Dreifaltigkeit hat und die neun Kreise des Himmels bzw. die neun Hierarchien repräsentiert. Auch im Roman trifft Dante seine Beatrice nach neun Jahren wieder und es knüpft sich daran eine große Vision:

„So viel Tage waren hiernach vergangen, daß gerade neun Jahre nach dem oben gedachten Erscheinen der Holdesten erfüllt waren, da geschah es am letzten dieser Tage, daß die bewunderungswürdige Herrin, in reinstes Weiß gekleidet, inmitten zweier edlen Frauen von vorgerückterem Alter mir zu Gesichte kam. Und indem sie des Weges dahinging, wendete sie die Augen nach dem Orte, wo ich in großem Zagen stand, und vermöge ihrer unaussprechlichen Freundlichkeit, die nun in jener besseren Welt den Lohn gefunden, grüßte sie mich so tugendlich, daß ich das Endziel aller Seligkeit zu sehen vermeinte. Die Stunde, wo ihr süßester Gruß zu mir gelangte, war genau die neunte jenes Tages. Und weil dies das erstemal war, daß ihre Worte zu meinen Ohren den Weg genommen, überkam mich ein solches Wohlgefühl, daß ich wie berauscht mich von den Menschen hinweg in die Einsamkeit meiner Kammer flüchtete und mich dort niederließ, um der Holdseligsten zu gedenken. Und indem ich ihrer gedachte, beschlich mich ein sanfter Schlummer, und in ihm erschien mir ein wunderbarliches Gesicht.

Denn es war mir, als sähe ich in meinem Gemach eine feuerfarbene Wolke, und ich unterschied in ihr die Gestalt einer Frau von erhaben-furchtbarem Ansehen für jeden, der sie erblickte. Aber sie selbst schien so voller Freudigkeit, daß es gar wunderbarlich anmutete. Und in ihren Worten äußerte sie vieles, was ich nicht verstand; nur weniges verstand ich deutlich, darunter die Worte: Ego domina tua (Ich bin deine Herrin). In ihren Armen glaubte ich ein schlafendes Frauenbild zu sehen, das nackt oder doch nur leicht von einem blutfarbenen Schleier umhüllt war, und als ich recht darauf hinschaute, erkannte ich, daß es die Herrin des Heils war, die mich tags zuvor ihres Grußes gewürdigt hatte. Minne aber, schien es, hielt in der einen Hand etwas, das über und über brannte, und es war mir, als sagte sie zu mir die Worte: Vide cor tuum (Siehe da dein Herz). Und nachdem sie eine kurze Weile gestanden, erweckte sie – so schien es mir – die Schlummernde und bot all ihre Kunst auf, daß sie diese bewegte, das, was in der Hand ihr brannte, zu essen. Und diese aß es schließlich nach einigem Bedenken. Danach verweilte Minne nicht lange; denn ihre Freudigkeit verwandelte sich in bitterlichstes Weinen, und also weinend umschlang sie die Herrin abermals mit ihren Armen und ging mit ihr, wie es mir schien, von dannen gen Himmel; wovon mir so bange ward, daß mein schwacher Schlummer nicht dauern konnte: er brach und ich erwachte. Und unverweilt begann ich, dem nachzudenken, und fand, daß die Stunde, in der mir dies Gesicht erschienen, die vierte Stunde oder – was augenscheinlich gleichviel ist – die erste der neun letzten Stunden der Nacht gewesen war.“

Dante Alighieri: Das neue Leben, Kapitel 3 [2]
Dantes Traum von Dante Gabriel Rossetti, Seite 48
Carl Vogel von Vogelstein: Dante auf dem Grab Beatrices
„Dante auf dem Grabe seiner Geliebten, Beatrice Portinari sitzend. In Sehnsucht, mit ihr wieder vereinigt zu sein, schaut er mit Begeisterung in die Regionen des Paradieses empor, und fasst den Entschluss, sich der Vereinigung mit ihr durch ein neues frommes Leben würdig zu machen. Dieser Entschluss fällt im Augenblicke mit der Schöpfung des Planes zu seiner Göttlichen Commedie zusammen.“

Der Tod Beatrices kündigt sich in einem Traumgesicht an, das Dante während einer Krankheit erlebt.

„Wenige Tage nach diesem ereignete es sich, daß ich an einem Teile meines Körpers von einer schmerzhaften Krankheit befallen ward, von der ich viele Tage unausgesetzt die bittersten Qualen erlitt, die mich so von Kräften brachten, daß ich erliegen mußte, wie einer, dem die Bewegung seiner Glieder versagt ist. Aber am neunten Tage, als ich eben einen fast unerträglichen Schmerz empfand, kam mir ein Gedanke, und es war der an meine Fraue. Und als ich eine Zeitlang ihrer gedacht hatte und dann in Gedanken zurückkehrte auf mein hinfälliges Leben und erkannte, wie flüchtig seine Dauer sei, auch bei guter Gesundheit, begann ich über solches Elend in mir zu weinen und sagte tiefaufseufzend zu mir selber: „Auch die holdselige Beatrice muß notwendig einst sterben!“ Und also außer mich geriet ich darob, daß ich die Augen schloß und, einem Wahnsinnigen gleich, mich zu zerarbeiten begann. Da hatte ich folgendes Gesicht: Zuerst, zu Anfange der Verirrung, in die meine Phantasie geraten war, erschienen mir Frauenbilder mit zerrauften Haaren, die zu mir sprachen: „Du wirst auch sterben!“ Und nach diesen erschienen mir andere Frauenbilder, erschrecklich und grauenvoll anzuschauen, welche zu mir sagten: „Du bist gestorben.“ Also begann das Irrsal meiner Phantasie, und bald war es dahin mit mir gekommen, daß ich nicht mehr wußte, wo ich war. Und mich dünkte, ich sähe Frauen, die mit aufgelösten Locken, weinend und zum Verwundern betrübt, des Weges wandelten, und es verdunkele sich, weil die Erde in ihren Tiefen erbebte, die Sonne, also daß die Sterne in einer Farbe sichtbar wurden, die mich glauben ließ, sie weineten. Und indem ich über solches Gesicht mich verwunderte und entsetzte, bildete ich mir ein, einen Freund zu sehen, welcher käme und zu mir sagte: „Nun, weißt du nicht? Deine bewunderungswürdige Fraue ist aus dieser Zeitlichkeit hinweggegangen!“ Da hob ich gar jämmerlich an zu weinen, und weinte nicht bloß in der Einbildung, sondern weinte mit den Augen, sie in wahrhaften Tränen badend. Alsdann blickte ich, wie ich mir einbildete, gen Himmel, und es war mir, als sähe ich eine Schar von Engeln, die nach oben zurückkehrten und vor sich ein lichtweißes Wölkchen hätten. Und der Gesang dieser Engel dünkte mich überherrlich, und ich glaubte die Worte zu vernehmen, die wie „Osanna in excelsis“ (Hosianna in der Höhe) klangen; sonst aber vernahm ich nichts weiter. Darauf schien es mir, als ob das Herz, in dem so große Minne wohnte, zu mir spräche: „Wahr ist es, unsere Fraue liegt gestorben!“ und es war mir, als ging’ ich deshalb, den Leib zu sehen, in welchem diese hohe und selige Seele einst gewohnt hatte. Und so groß war die Macht meiner irren Phantasie, daß sie mich die tote Herrin sehen ließ und daß es mir vorkam, als ob Frauen sie, daß heißt, ihr Haupt mit einem weißem Schleier bedeckten. Und eine also große Demut lag über das Gesicht der Toten verbreitet, daß es war, als ob sie sagte: „Ich bin daran, den Anbeginn des Friedens zu schauen.“ Unter diesen Gesichten und bei solchem Anblicke ward ich so demütig gestimmt, daß ich dem Tode rief und sprach: „O süßester Tod, komm zu mir und sei mir nicht grausam; denn du mußt adligen Wesens sein, da du an solcher Stätte gewesen. Nun denn, komm zu mir, denn sehr begehre ich dein. Und du siehest es; denn ich trage bereits deine Farbe.“ – Und als ich alle die schmerzlichen Gebräuche, die den Leichnamen Verstorbener zu geschehen pflegen, erfüllt sah, war es mir, als kehrte ich heim in meine Kammer und als schaute ich hier empor zum Himmel. Und also lebhaft war meine Einbildung, daß ich weinend und mit wahrhaftiger Stimme ausrief: „O schöne Seele, wie selig ist, wer dich siehet.““

Dante Alighieri: Das neue Leben, Kapitel 23 [3]

Als Beatrice nun tatsächlich stirbt, ist wieder die Neunzahl von entscheidender Bedeutung. Beatrice sei am neunten Tag nach der in Arabien üblichen Zeitrechnung, nach syrischer Zeitrechnung im neunten Monat des Jahres und nach unserer Zeitrechnung in dem Jahr, in dem die vollkommene Zahl Zehn neunmal vollendet wurde, hinweg gegangen. Daraus wurde je nach Rechenweg Beatrices Todesdatum als der 8. oder 17. Juni 1290 ermittelt, stellenweise auch, aber ohne Angabe der Rechenweise, als der 9. oder 12. Juni 1290.

„Ich sage denn dieses: Nach italienischer Zählung war es in der ersten Stunde des neunten Monatstages, daß ihre herrliche Seele von hinnen ging, und nach syrischer Zeitrechnung schied sie im neunten Monde des Jahres, indem der erste Mond, Theschrin, den Syrern das ist, was uns der Oktober; nach unserer Zeitrechnung endlich starb sie in dem Jahre des Herrn, mit welchem in dem Jahrhunderte, worin sie der Welt gegeben wurde, die vollkommene Zahl neunmal erfüllt war. Sie war aber eine Christin des dreizehnten Jahrhunderts. Daß dies alles nun bei ihr zusammentraf, davon könnte ein Grund dieses sein: da es nach Ptolemäus und dem wahren christlichen Glauben neun bewegliche Himmel gibt, und da diese Himmel nach astrologischer Bestimmung, jeder seiner Beschaffenheit gemäß, gemeinsam auf die Erde einwirken, so war jene Zahl ihr freundlich, indem durch sie angezeigt ward, daß bei ihrer Zeugung alle neun Himmel zusammenstimmten. Dies ist der eine Grund. Aber scharfsinniger erwogen und nach der untrüglichen Wahrheit, war diese Zahl sie selbst. Ich spreche gleichnisweise und verstehe dies so: Die Zahl Drei ist die Wurzel der Neun, weil sie, ohne eine andere Zahl, durch sich selbst vervielfältigt, neun gibt, wie wir leichtlich sehen; denn dreimal drei ist neun. Wenn demnach die Drei allein für sich der Grund der Neun ist, der Urgrund aller Wunder aber für sich selber drei ist, nämlich Vater, Sohn und Heiliger Geist, welche drei sind und eins, so erhält diese Herrin die Zahl Neun zur Begleiterin, um zu verstehen zu geben, daß sie selbst eine Neun sei, das heißt ein Wunder, dessen Wurzel einzig und allein die wundervolle Dreieinigkeit ist. Scharfsinnigere würden vielleicht noch scharfsinnigere Gründe entdecken; dieses aber ist der, den ich entdeckt habe, und der mir am meisten gefällt.“

Dante Alighieri: Das neue Leben, Kapitel 30 [4]

Die Göttliche Komödie

In der Göttlichen Komödie bat Beatrice, wie sich herausstellt, gleich zu Beginn den römischen Dichter Vergil, Dante aus dem dunklen Wald zu führen, in dem er sich verirrt hatte (Inferno 2,70). Dante zweifelt zunächst noch, ob er würdig genug sei und ob seine Kräfte und Talente für die Reise in die Unterwelt ausreichen würden. Da erzählt ihm Vergil, was er von Beatrice erfahren habe. Beatrice hatte ihren Auftrag von der mitleidvollen Lucia (Inferno 2,100) erhalten, und diese ihrerseits von einem edlen Weib, der hohen Himmelskönigin Maria selbst (Inferno 2,94). So wachen letztlich drei heilige Himmelsfrauen, gleichsam drei Facetten der himmlischen Jungfrau Sophia, über Dantes Geschick.

43 „Verstand ich dich,“ so sprach der Schatten drauf,
„So fühlst du Angst und Schrecken sich erneuen
Und Feigheit nur hemmt deinen weitern Lauf.
46 Das Beste macht sie oft den Mann bereuen,
Daß er zurücke springt von hoher That,
Gleich Rossen, die vor Truggebilden scheuen.
49 Doch hindre sie dich nicht am weitern Pfad,
Drum höre jetzt, was ich zuerst vernommen,
Da mir’s um dich im Herzen wehe tat.
52 Mich, nicht in Höll’ und Himmel aufgenommen,[1]
Rief eine Frau, so selig und so schön,[2]
Daß ihr Geheiß mir werth war und willkommen,
55 Mit Augen, gleich dem Licht an Himmelshöhn,
Begann sie gegen mich gelind und leise,
Und jeder Laut war englisches Getön:
58 O Geist, geboren einst zu Mantuas Preise,
Deß Ruhm gedauert hat und dauern wird,
So lang die Sterne ziehn in ihrem Kreise,
61 Mein Freund, doch nicht der Freund des Glückes, irrt
In Wildniß dort, weil Wahn im Weg’ ihn störte,
So daß er sich gewandt, von Furcht verwirrt.
64 Schon irrte, fürcht’ ich, also der Bethörte,
Daß ich zu spät zum Schutz mich aufgerafft,
Nach dem, was ich von ihm im Himmel hörte.
67 Du geh; es sei durch deiner Rede Kraft,
Durch das, was sonst ihm Noth, sein Leid geendet;
So sei ihm Hilf’ und Ruhe mir verschafft.
70 Beatrix bin ich, die ich dich gesendet;
Mich trieb die Lieb’ und spricht aus meinem Wort.
Vom Ort komm ich, wohin mein Wunsch sich wendet.
73 Und steh’ ich erst vor meinem König dort,
So werd’ ich oft dich loben und ihm preisen. –
Sie sprach’s und schwieg und ich begann sofort:
76 Herrin der Tugend, Lehrerin der Weisen,[3]
Durch die die Menschheit überraget weit
Was lebt in jenes Himmels kleinern Kreisen!
79 So freudig bin ich dir zum Dienst bereit,
Daß, wär’ vollbracht auch jetzt schon dein Begehren,
Zu spät mir’s schiene! G’nug ward mit Bescheid!
82 Doch wolle jetzt vom Grunde mich belehren,[4]
Weshalb du stiegst zum Mittelpunkt, vom Licht,
Zu welchem du dich sehnst, zurückzukehren.

85Willst du es denn so tief ergründen, spricht
Die Hohe darauf, so will ich’s kürzlich sagen.
Ich fürchte mich vor diesem Dunkel nicht.
88 Vor solchem Uebel ziemt sich wohl zu zagen,
Das mächtig ist und leicht uns Schaden thut,
Vor solchem nicht, bei welchem nichts zu wagen.
91 Gott schuf mich so, daß ich in seiner Hut
Den Nöthen, die euch drücken, bin entrissen
Und nicht ergreift mich dieses Brandes Glut.
94 Ein edles Weib dort, von den Hindernissen
Des Manns erweicht, zu dem ich dich gesandt,
Sie hat des Höchsten strengen Spruch zerrissen.
97 Sie flehte zu Lucien hingewandt:
Dein Treuer braucht dich jetzt im harten Streite,
Darum empfehl’ ich ihn in deine Hand.
100 Lucia, die sich ganz dem Mitleid weihte,
Bewegte sich zum Orte, wo ich war,
In Ruhe sitzend an der Rahel Seite.
103 Sie sprach: Beatrix, Gottes Preis fürwahr!
Hilfst du ihm nicht, ihm, der aus großer Liebe
Für dich entrann aus der gemeinen Schaar?
106 Als ob dein Ohr taub seinen Klagen bliebe,
Als sähest du ihn nicht im Wirbel dort,
Bedroht, mehr als ob Meeressturm ihn triebe?
109 Nicht eilt so schnell auf Erden Einer fort,
Den Gier nach Glück und Furcht vor Leid bethören,
Wie ich herabgeeilt bei solchem Wort,
112 Von meinem Sitz in jenen sel’gen Chören,
Vertrau’nd auf deiner würd’gen Rede Macht,
Die Ruhm dir bringt und Allen, die sie hören. –
115 Als nun Beatrix solches vorgebracht,
Da wandte sie die Augenstern’ in Zähren,
Und dies hat mich nur schneller hergebracht.
118 So komm’ ich denn daher auf ihr Begehren,
Das Unthier von dir scheuchend, dem’s gelang,
Den kurzen Weg des schönen Bergs zu wehren.
121 Was also ist dir? warum weilst du bang?
Was herbergst du die Feigheit im Gemüthe?
Was weicht dein Mut, dein kühner Thatendrang,
124 Da sich drei heil’ge Himmelsfrau’n voll Güte
Für dich bemüh’n, und dir mein Mund verspricht,
Daß ihre Sorge dich so treu behüte.“
                                   (Inferno 2,43-126)

Carl Wilhelm Friederich Oesterly: Dante und Beatrice
(Beatrice steigt von ihrem Siegeswagen zu Dante herab)

Vergil geleitet Dante durch das Inferno und das Purgatorio. Am Ende dieses Weges empfängt ihn Beatrice und führt ihn durch das Paradiso. Sie erscheint, zunächst noch verschleiert, auf einem Siegeswagen der von einem Greif gezogen wird. Sie trägt einen weißen Schleier und einen Kranz aus einem Olivenzweig und um das Kleid, das wie Feuer scheint, hat sie einen grünen Mantel umgeschlagen. Sie gibt sich als Beatrice zu erkennen und richtet mahnende Worte an Dante:

115 War dieser einst in seinem neuen Leben[5]
Gar hoch begabt, um ganz zur Trefflichkeit
Durch recht gewöhnte Kraft sich zu erheben.
118 Doch wilder wird in schnöder Ueppigkeit
Jedweder schlechte Same sich entfalten,
Je kräft’ger ist des Bodens Fruchtbarkeit.
121 Wohl wußt’ ich ein’ge Zeit ihn festzuhalten,
Indem ich ihm die jungen Augen wies;
Da ließ er gern als Führerin mich walten.
124 Doch hatt’ er, als ich kaum die Welt verließ,
Zum bessern Sein zu gehn, sich mir entzogen,
Indem er Andern ganz sich überließ.
127 Als ich vom Fleisch zum Geist emporgeflogen,
Und höh’re Tugend, höhern Reiz empfahn,
Da war er minder hold mir und gewogen.
130 Er wandte seinen Schritt zur falschen Bahn,[6]
Trugbildern folgend schnöden Wonnelebens,
Und falschen Lockungen und leerem Wahn.
133 Im Traum und Wachen rief ich ihn vergebens,
Und Mahnung haucht’ ich ihm und Warnung ein,
Doch blieb er taub im Leichtsinn eitlen Strebens.
136 Ein Mittel konnt’ ihm nur zum Heil gedeihn,
So tief schon hatt’ er sich im Wahn verloren,
Und solches war der Anblick ew’ger Pein.
139 Deswegen drang ich zu der Hölle Thoren,
Und habe den, der ihn heraufgeführt,
Mit Bitten und mit Thränen dort beschworen.
142 Nicht wär’s, wie sich’s nach ew’gem Rath gebührt,
Wenn er durch Lethe ging’ und sie genösse,
Und nicht vorher, bußfertig und gerührt
145 In Reuezähren seine Schuld ergösse.“
                            (Purgatorio 30,115-145)

Anmerkungen

  1. 52. [Wörtlich „bei den unentschiedenen Seelen“ d. h. bei den tugendhaften Heiden wohnend, deren milder Aufenthaltsort, außerhalb der Hölle, sogleich im 4. Gesang beschrieben ist.]
  2. [53–75. Dante legt hier dem Virgil die Erzählung des ursprünglichsten Anlaßes seines ganzen Gedichtes in den Mund: Verherrlichung Beatricens, als seiner geistigen Retterin aus dem Verderben, aus der im „finstern Wald“ Gs. 1. 2 versinnbildlichten und schon S. 7 erwähnten Jugendverirrung. Man hat hierbei an des Dichters unbekehrte Jugend überhaupt, speciell vielleicht an eine Epoche zu denken, da er nach Beatricens frühem Tod sich in ein Leben des Genusses stürzte, aus dem ihn endlich die ideale Rückkehr zur Geliebten rettete. Er verheirathete sich dann ohne Neigung. – Beatrix also sendet aus alter Liebe dem Irrenden den Virgil. Dies ist zunächst die historische Bedeutung dieser Stelle. Immerhin liegt nebenbei auch der Sinn darin, daß auch die Vernunft, die natürliche Gottesahnung eine Art Vorbotin der Gnade, eine Gabe des Himmels, uns erstmals nach oben zu weisen, sei. – Beiläufig sei hier kurz erwähnt, daß Beatrix Portinari aus Florenz als achtjähriges Mädchen von dem jungen Dante erstmals gesehen und von ihm mit idealster Liebe lebenslang in unauslöschlichem Andenken behalten wurde, wiewohl er sie nur zweimal wiedersah und sie niemals sprach!]
  3. 76–81. Der Glaube, nicht der Vernunft entgegen, aber über ihr stehend, beginnt seine Wirksamkeit da, wo die Vernunft aufhört. Sie selbst erkennt die Grenze, welche zu überschreiten ihr nicht gestattet ist. Deshalb folgt sie willig und eifrig dem Gebote, welches die höhere Macht ihr kund thut durch die Stimme des Herzens, in welchem Ahnung, Hoffnung und freudiges Vertrauen am Strahle göttlichen Lichts entzündet wurden.
  4. [82. ff. Mit dieser Frage, weshalb denn Beatrix vom ewigen Licht herab zum kleinen Mittelpunkt der Welt, zur Erde, gestiegen sei, um Dante zu retten – wird schließlich wieder die persönliche Beziehung ins Allgemeine, Ewige erweitert. „Das edle Weib“, Maria, die ewige Liebe Gottes ist die letzte Ursächerin der Sendung der Gnade, welche hier etwas spitzfindig, in zwei Gestalten gespalten wird. Lucia ist die vergebende Gnade … Beatrix die eigentliche, thätige und vollendende Gnadenkraft und höchste Gotteserkenntniß. Lucia erscheint wieder Fegfeuer 9. Von ihr übernimmt dann Beatrix den Dante, ihn bis vor Gott geleitend. – Nach diesem tiefsinnigen Einblick in die Oeconomie des Ganzen kehrt die Schilderung mit V. 118 zu dem letzten Zuspruch des Virgil zurück, womit dieser den Dante nun zur sofortigen Höllenreise einlädt und anführt. Sie gelangen durch das Höllenthor zu den Halben, in die Vorhölle. Die Darstellung nimmt nun einen hinreißenden Schwung und entfaltet allmählich jene dichterische Erfindung, jene grandiose Plastik, wodurch sich Dante’s Höllengemälde so weit über alle ähnlichen mittelalterlichen Darstellungen erhebt, wenn auch leider selbst er öfters bis zum Unschönen und Gräßlichen geht.]
  5. 115. In seinem neuen Leben, in seiner Jugend, als ihm ein neues Leben durch Beatricen aufgegangen war.
  6. [130. Die „Jugendverirrung“, welcher Dante, nach Beatricens Tod 1290 bis zu seiner Verheirathung 1292, unterlag, ist schon zu Hölle, 2, 53 erwähnt. Unsre Stelle mit Ges. 31, 52–60. scheint uns ein Hauptbeleg, daß dieselbe mit Recht dort nicht nur symbolisch als das „Abkommen von der Betrachtung des Göttlichen“, sondern auch wirklich als ein Leben der Verweltlichung, des Genusses und eitler Liebe gefaßt worden ist. Dabei darf man aber, eingedenk der schonungslosen Schärfe, mit der Dante auch seine kleinsten Fehler zu geißeln pflegt, nicht gleich an das Aergste denken. – Vgl. des Näheren [373] über diesen, etwas dunklen Lebensabschnitt Dante’s, sowie über sein ganzes Verhältniß zu Beatrix und nachfolgende Heirath, in unserer öfters angeführten Einleitungsschrift zur göttl. Kom., I. Abschnitt, „der Dichter“, S. 4–8.]

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks