Johannes Scottus Eriugena

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Darstellung Eriugenas in der Handschrift Paris, Bibliothèque Nationale, Lat. 6734

Johannes Scottus Eriugena (auch Johannes Scotus Eriugena oder Johannes Scotus Erigena; * im frühen 9. Jahrhundert; † im späten 9. Jahrhundert) war ein westfränkischer Mönch irischer Herkunft, der am Hof Karls des Kahlen (823-877) als Lehrer der Sieben Freien Künste wirkte und zahlreiche philosophische und theologische Werke verfasste. Seinem Unterricht legte er, wie damals üblich, das enzyklopädische Werk De nuptiis Philologiae et Mercurii („Die Hochzeit der Philologie mit Mercurius“) des Martianus Capella zugrunde, das er auch ausführlich kommentierte. Durch seine logisch saubere Gedankenführung in der theologischen Argumentation bereitete Scotus Eriugena bereits die scholastische Denkweise vor. Aufgrund seiner guten, wenn auch nicht hervorragenden Griechischkenntnisse, die damals nur sehr selten anzutreffen waren[1], konnte er viele Werke der griechischen Philosophen und Kirchenväter ins Lateinische übertragen und kommentieren und dadurch zugänglich machen und trug so vor allem zur Verbreitung des neuplatonischen Gedankenguts bei. Besonders bedeutsam war seine Übersetzung der aus tiefer Esoterik geschöpften Werke des Dionysius Areopagita, die die christliche Engellehre entscheidend prägten. Eriugenas Hauptwerk, das in fünf Bücher gegliederte Periphyseon (Über die Einteilung der Natur), gibt reichen Aufschluss über sein Denken. In der Schule von Chartres wurden die Werke von Johannes Scottus Eriugena hoch geschätzt, aber wegen ihrer kühnen Gedankenführung später mehrfach verurteilt und viele Exemplare seiner Schriften verbrannt.

Leben und Werk

Über das Leben des Eriugena - ein Beiname, den er sich möglicherweise selbst gegeben hat - ist wenig bekannt. Wegen seiner kühnen Thesen wurde er vielfach heftig angefeindet. Der Legende nach, deren historische Grundlage allerdings nicht fassbar ist und daher zweifelhaft bleibt, wurde später Scotus Erigena nach England berufen oder musste dorthin fliehen, wo er von seinen eigenen Schülern, möglicherweise auf Geheiß des Papstes, mit deren Schreibfedern(!) ermordert worden sein soll[2]. Sein Werk blieb wie durch ein Wunder großteils erhalten.

„Man könnte sagen, wie durch eine Art historischen Wunders ist ja eigentlich die Nachwelt dazu gekommen, die Schriften des Johannes Scotus Erigena zu kennen. Sie erhielten sich, im Gegensatz zu anderen Schriften aus den ersten Jahrhunderten, die ähnlich waren und die ganz verlorengegangen sind, bis ins IL, 12. Jahrhundert, einige wenige noch bis ins 13. Sie waren ja in dieser Zeit vom Papste als ketzerisch erklärt worden, es war der Befehl gegeben worden, daß alle Exemplare aufgesucht und verbrannt werden müßten. Nur viel später in einem verlorenen Kloster hat man Handschriften aus dem 11. und 13. Jahrhundert wieder gefunden. Im 14., 15., 16., 17. Jahrhundert wußte man ja von Johannes Scotus Erigena nichts. Die Schriften waren verbrannt worden wie ähnliche Schriften, welche Ähnliches enthielten aus derselben Zeit, und bei denen man eben vom Standpunkte Roms aus glücklicher war: man hatte alle anderen Exemplare dem Feuer übergeben können! Von Scotus Erigena blieben eben einzelne zurück.“ (Lit.:GA 204, S. 260)

„Diejenigen, die mehr oder weniger, wenn auch mit Scharfsinn und Geistreichigkeit, dem Rationalismus zugeneigt sind, die werden schon schimpfen, wenn sie das zu Gesicht, zum geistigen Gesichte bekommen, was etwa da ausströmte von dem Areopagiten, und was dann eine letzte bedeutende Offenbarung fand in diesem Erigena. Er war in den letzten Lebensjahren noch Benediktinerprior. Aber seine eigenen Mönche haben ihn, wie die Sage sagt - die Sage; ich sage ja nicht, daß das wörtlich wahr ist, aber wenn es nicht ganz wahr ist, so ist es annähernd wahr -, die haben ihn so lange mit Stecknadeln bearbeitet, bis er tot war, weil er noch den Plotinismus hereinbrachte in das neunte Jahrhundert. Aber über ihn hinaus lebten seine Ideen, die zugleich die weitere Fortbildung der Ideen des Areopagiten waren. Seine Schriften sind mehr oder weniger bis in späte Zeiten hinein verschwunden gewesen; sie sind dann ja doch auf die Nachwelt gekommen. Im 12. Jahrhundert ist Scotus Erigena als Ketzer erklärt worden. Aber das hat ja noch nicht eine solche Bedeutung gehabt wie später und wie heute. Trotzdem sind Albertus Magnus und Thomas von Aquino tief beeinflußt auch von den Ideen des Scotus Erigena.“ (Lit.:GA 74, S. 51)

„Die Lehren des Dionysius des Areopagyten hat Scotus in seinem Werke über die «Einteilung der Natur» weiter gebildet. Das war eine Lehre, die von dem über alles Sinnlich-Vergängliche erhabenen Gott ausgeht und von diesem die Welt ableitet (vgl. S. 154 f.). Der Mensch ist eingeschlossen in die Verwandlung aller Wesen zu diesem Gotte hin, der am Ende das erreicht, was er, vom Anfange an, war. In die durch den Weltprozeß hindurchgegangene und zuletzt vollendete Gottheit fällt alles wieder zurück. Aber der Mensch muß, um dahin zu gelangen, den Weg zu dem Fleisch gewordenen Logos finden. Dieser Gedanke führt bei Erigena schon zu dem andern: Was in den Schriften enthalten ist, die über diesen Logos berichten, das führt als Glaubensinhalt zum Heil. Vernunft und Schriftautorität, Glaube und Erkenntnis stehen nebeneinander. Eines widerspricht nicht dem andern; aber der Glaube muß bringen, wozu das Erkennen sich nie bloß durch sich selbst erheben kann.

Was im Sinne der Mysterien der Menge vorenthalten werden sollte, die Erkenntnis des Ewigen, das war für diese Vorstellungsart durch die christliche Gesinnung zum Glaubensinhalte geworden, der, seiner Natur nach, sich auf etwas dem bloßen Erkennen Unerreichbares bezog. Der vorchristliche Myste war der Überzeugung: ihm sei die Erkenntnis des Göttlichen und dem Volke der bildliche Glaube. Das Christentum wurde der Überzeugung: Gott hat durch seine Offenbarung die Weisheit dem Menschen geoffenbart; diesem kommt durch seine Erkenntnis ein Abbild der göttlichen Offenbarung zu. Die Mysterienweisheit ist eine Treibhauspflanze, die Einzelnen, Reifen, geoffenbart wird; die christliche Weisheit ist ein Mysterium, das als Erkenntnis Keinem, als Glaubensinhalt Allen geoffenbart wird. Im Christentum lebte der Mysterien-Gesichtspunkt fort. Aber er lebte fort in veränderter Form. Nicht der besondere Einzelne, sondern Alle sollten der Wahrheit teilhaftig werden. Aber es sollte so geschehen, daß man von einem gewissen Punkte der Erkenntnis deren Unfähigkeit erkannte, weiter zu gehen, und von da aus zum Glauben aufstieg. Das Christentum holte den Inhalt der Mysterien-Entwicklung aus der Tempeldunkelheit in das helle Tageslicht hervor. Die Eine gekennzeichnete Geistesrichtung innerhalb des Christentums führte zu der Vorstellung, daß dieser Inhalt in der Form des Glaubens verbleiben müsse.“ (Lit.:GA 8, S. 172f)

„In den ersten Jahrhunderten der Entwicklung des Christentums, zur Zeit der Kirchenväter, sehen wir den Lehrinhalt der Theologie Stück für Stück durch Aufnahme innerer Erlebnisse entstehen. Bei Johannes Scotus Erigena, der im neunten Jahrhunderte auf der Höhe der christlichen theologischen Bildung stand, finden wir diesen Lehrinhalt noch ganz wie ein inneres Erlebnis behandelt. Bei den Scholastikern der folgenden Jahrhunderte verliert sich vollkommen dieser Charakter eines inneren Erlebnisses; der alte Lehrgehalt wird zum Inhalte einer äußeren, übernatürlichen Offenbarung umgedeutet. — Man kann deshalb die Tätigkeit der mystischen Theologen Eckhart, Tauler, Suso und ihrer Genossen auch so auffassen, daß man sagt: sie wurden durch den Lehrgehalt der Kirche, der in der Theologie enthalten, aber umgedeutet war, angeregt, einen ähnlichen Gehalt als inneres Erlebnis aus sich selbst wieder aufs neue zu gebären.“ (Lit.:GA 7, S. 84f)

Periphyseon - Über die Einteilung der Natur

„Man läßt sich heute nicht gern darauf ein, etwa so etwas zu würdigen, wie das Werk über die Einteilung der Natur von Johannes Scotus Erigena im 9. Jahrhundert. Man läßt sich nicht darauf ein, weil man solch ein Werk nicht als ein historisches Denkmal nimmt aus einer Zeit, in der eben ganz anders gedacht wurde als heute, in der so gedacht wurde, wie man es gar nicht mehr versteht, wenn man solch ein Werk heute liest. Und wenn gewöhnliche Philosophen in ihrer Geschichtsschreibung solche Dinge darstellen, so hat man es eigentlich nur mit Worten zu tun. Ein Eingehen auf den eigentlichen Geist eines solchen Werkes, wie das von Johannes Scotus Erigena über die Einteilung der Natur, wobei Natur etwas ganz anderes bedeutet als das Wort Natur in der späteren Naturwissenschaft, ein Eingehen auf diesen Geist ist eigentlich nicht mehr da. Kann man bei geisteswissenschaftlicher Vertiefung doch darauf eingehen, so muß man sich merkwürdigerweise folgendes sagen: Dieser Scotus Erigena hat Ideen entwickelt, die auf einen den Eindruck machen, daß sie außerordentlich tief hineingehen in das Wesen der Welt, aber er hat diese Ideen ganz zweifellos in einer nicht zulänglichen, nicht eindringlichen Form in seinem Werke dargestellt. Wenn man sich nicht der Gefahr aussetzen würde, gegenüber einem immerhin überragenden Werke der Menschheitsentwickelung respektlos zu sprechen, so würde man im Grunde eigentlich sagen müssen, daß schon Johannes Scotus Erigena selbst nicht mehr völlig gewußt hat, was er schreibt. Man sieht das seiner Darstellung an. Für ihn selber waren, wenn auch nicht in dem Grade, wie es für die heutigen Geschichtsschreiber der Philosophie der Fall ist, doch schon die Worte, die er aus der Tradition entnommen hat, mehr oder weniger nur Worte, deren tiefen Inhalt er selber nicht mehr einsah. Man ist eigentlich immer mehr genötigt, wenn man diese Dinge liest, in der Geschichte zurückzugehen. Und von Scotus Erigena wird man ja, das ist leicht ersichtlich aus seinen Schriften, unmittelbar geführt auf die Schriften des sogenannten Pseudo-Dionysius des Areopagiten. Ich will jetzt auf dieses Entwickelungsproblem nicht eingehen, wann der gelebt hat und so weiter. Und von diesem Dionysius dem Areopagiten wird man wiederum weiter zurückgeführt. Da muß man dann schon wirklich ausgerüstet mit Geisteswissenschaft weiterforschen, und man kommt endlich etwa, wenn man in das 2., 3. Jahrtausend vorchristlicher Zeit zurückgeht, zu tiefen Einsichten, die eben der Menschheit verlorengegangen sind, die eben nur in einem schwachen Nachklange vorhanden sind in solchen Schriften wie denen von Johannes Scotus Erigena.“ (Lit.:GA 326, S. 116f)

„Es ist außerordentlich wichtig, einmal genau hinzusehen, wie die Gliederung der Erkenntnis bei Johannes Scotus Erigena war. Er unterscheidet in seiner großen Schrift über die Gliederung der Natur, die eben auf die geschilderte Weise auf die Nachwelt gekommen ist, in vier Kapiteln dasjenige, was er über die Welt zu sagen hat, und er spricht zuerst im ersten Kapitel von der nichtgeschaffenen und schaffenden Welt (siehe Darstellung S. 262). Das ist das erste Kapitel, das schildert in der Art, wie Johannes Scotus Erigena dies glaubt tun zu können, gewissermaßen Gott, wie er war, bevor er herangetreten ist an irgend etwas, das Weltschöpfung ist. Johannes Scotus Erigena schildert da durchaus so, wie er es, ich möchte sagen, gelernt hat durch die Schriften des Dionysius, und er schildert, indem er höchste Verstandesbegriffe ausbildet, aber zu gleicher Zeit sich bewußt ist, mit denen kommt man nur bis zu einer gewissen Grenze, jenseits welcher die negative Theologie liegt.“ (S. 261ff)

„Mir scheint die Eintheilung der Natur vier unterschiedene Formen anzunehmen. Sie theilt sich zunächst in eine solche, welche schafft und nicht geschaffen wird; sodann in eine solche, welche geschaffen wird und schafft; zum Dritten in eine solche, welche geschaffen wird und nicht schafft; zum Vierten in eine solche, welche nicht schafft und nicht geschaffen wird. Von diesen vier Theilungen stehen sich je zwei einander entgegen, die dritte der ersten, die vierte der zweiten. Aber die vierte fällt unter Unmögliches, da ihr Unterscheidendes darin besteht, dass sie nicht sein kann.“

Johannes Scottus Eriugena: Über die Einteilung der Natur[3]

„Für ihn stellt sich die Welt als eine Entwickelung in vier «Naturformen» dar. Die erste ist die «schaffende und nicht geschaffene Natur». In ihr ist der rein geistige Urgrund der Welt enthalten, aus dem sich die «schaffende und geschaffene Natur» entwickelt. Das ist eine Summe von rein geistigen Wesenheiten und Kräften, die durch ihre Tätigkeit erst die «geschaffene und nicht schaffende Natur» hervorbringen, zu welcher die Sinnenwelt und der Mensch gehören. Diese entwickeln sich so, daß sie aufgenommen werden in die «nicht geschaffene und nicht schaffende Natur», innerhalb welcher die Tatsachen der Erlösung, die religiösen Gnadenmittel usw. wirken.“ (Lit.:GA 18, S. 88)

Zeichnung aus GA 204, S. 262
Zeichnung aus GA 204, S. 262

„Gleichwohl haben die Theologen mit richtigem Scharfblick aus dem, was ist, ergründet, dass sie sei; dass sie aber weise sei, aus der Vertheilung der Wesen in Gattungen, Arten, Unterschiede und Einzelheiten; dass sie lebendig sei, aus der ständigen Bewegung, wie aus dem beweglichen Zustande von Allem. Auf ebendieselbe Weise hat man sehr richtig gefunden, dass die All-Ursache dreifach bestehe. Denn aus dem Sein dessen, was ist, wird erkannt, dass sie ist; aus der wunderbaren Ordnung der Dinge, dass sie weise ist, und aus der Bewegung hat man gefunden, dass sie Leben ist. Als ursachliche und schöpferische Natur von Allem ist sie also und ist weise und lebt. Und demgemäss haben die Ergründer der Wahrheit überliefert, dass unter ihrem Sein der Vater, unter ihrer Weisheit der Sohn, unter ihrem Leben der h. Geist verstanden sei.“

Johannes Scottus Eriugena: Über die Einteilung der Natur[4]

„Man nähert sich also nur dem, was eigentlich wahres Wesen des Geistigen, des Göttlichen ist. Wir finden da in diesem Kapitel unter anderem die schöne, für die heutige Zeit noch lehrreiche Abhandlung über die göttliche Trinität. Er sagt, wenn wir die Dinge um uns herum anschauen, so finden wir zuerst als allgeistige Eigenschaft das Sein (siehe S. 262). Dieses Sein ist gewissermaßen das, was alles umfaßt. Wir sollten Gott nicht das Sein, so wie es die Dinge haben, beilegen, aber wir können doch nur gewissermaßen, indem wir hinaufschauen auf das, was Übersein ist, doch nur zusammenfassend vom Sein der Gottheit sprechen. Ebenso finden wir, daß die Dinge in der Welt von Weisheit durchstrahlt und durchsetzt sind. Wir sollten Gott nicht bloß Weisheit, sondern Überweisheit beilegen. Aber eben, wenn wir von den Dingen ausgehen, kommen wir bis zu der Grenze des Weisheitsvollen. Aber es ist nicht nur Weisheit in allen Dingen: Alle Dinge leben; es ist Leben in allen Dingen. Wenn also Johannes Scotus Erigena sich die Welt vergegenwärtigt, so sagt er: Ich sehe in der Welt Sein, Weisheit, Leben. Die Welt erscheint mir gewissermaßen in diesen drei Aspekten als seiende, als weisheitsvolle, als lebendige Welt. Gleichsam sind ihm das drei Schleier, die sich der Verstand ausbildet, wenn er über die Dinge hinblickt. Man müßte durchsehen durch die Schleier, dann würde man in das Göttlich- Geistige hineinsehen. Aber er schildert zunächst die Schleier und sagt: Wenn ich auf das Sein sehe, so repräsentiert mir das den Vater; wenn ich auf die Weisheit sehe, so repräsentiert mir das den Sohn im All; wenn ich auf das Leben sehe, so repräsentiert mir das den Heiligen Geist im All.

Sie sehen, Johannes Scotus Erigena geht durchaus von philosophischen Begriffen aus und erhebt sich zu dem, was die christliche Trinität ist. Er macht also den Weg im Inneren noch durch, vom Begreifen ausgehend, in das sogenannte Unbegreifliche hinein. Das ist auch durchaus seine Überzeugung. Aber er redet eben so, daß man der Art und Weise, wie er die Dinge gibt, ansieht, daß er von Dionysius gelernt hat. Er möchte eigentlich in dem Momente, wo er zu Sein, Weisheit, Leben kommt, und ihm diese repräsentieren Vater, Sohn und Geist, er möchte eigentlich diese Begriffe auseinanderschwimmen lassen in ein allgemeines Geistiges hinein, in das sich der Mensch dann überbegriffuch erheben müßte. Aber er schreibt dem Menschen nicht zu die Fähigkeit, zu solchem Überbegrifflichen zu kommen.

Damit ist Johannes Scotus Erigena ein Sohn seines Zeitalters, das den Verstand ausbildete, und das ja wirklich, wenn es sich selbst richtig verstand, sich sagen mußte, es könne nicht hineinkommen in das ÜberbegriffLiche.

Das zweite Kapitel schildert dann gewissermaßen eine zweite Schichte des Weltendaseins, die geschaffene und schaffende Welt (siehe S. 262). Das ist diejenige Welt der geistigen Wesenheiten, in der wir zu suchen haben Angeloi, Archangeloi, Archaiund so weiter. Diese Welt der geistigen Wesenheiten, die wir ja auch bei dem Dionysius dem Areopagiten verzeichnet finden, diese Welt der geistigen Wesenheiten schafft überall in der Welt, aber sie ist selbst geschaffen, sie ist von dem höchsten Wesen angefangen, also geschaffen, und sie schafft in allen Einzelheiten des Daseins, das uns umgibt.

Als dritte Welt im dritten Kapitel schildert er dann die geschaffene und nichtschaffende Welt. Das ist die Welt, die wir um uns herum mit unseren Sinnen wahrnehmen. Das ist die Welt der Tiere, Pflanzen und Mineralien, der Sterne und so weiter. In diesem Kapitel behandelt er ungefähr alles dasjenige, was wir nennen würden Kosmologie, Anthropologie und so weiter, dasjenige, was wir etwa heute bezeichnen als den Umfang des Wissenschaftlichen. In dem vierten Kapitel behandelt er die nichtgeschaffene und nichtschaffende Welt. Es ist wiederum dieses die Gottheit, aber so, wie sie sein wird, wenn alle Wesen, namentlich alle Menschen, zu ihr zurückgekehrt sein werden, wenn sie nicht mehr schaffend sein wird, wenn sie in sich aufgenommen hat in seliger Ruhe - so stellt sich ja Johannes Scotus Erigena das vor - alle diejenigen Wesen, die eben aus ihr hervorgegangen sind.

Nun, wenn wir diese vier Kapitel überschauen, so haben wir ja darinnen eigentlich, ich möchte sagen, etwas wie ein Kompendium alles Überlieferten, so wie es vorhanden war in den Weisheitsschulen, aus denen Johannes Scotus Erigena hervorgegangen ist. Wenn man dasjenige nimmt, was er schildert in dem ersten Kapitel, so haben wir etwa dasjenige, was man in seinem Sinne die Theologie genannt hat, die Theologie, die eigentliche Lehre von dem Göttlichen. Wenn man das zweite Kapitel nimmt, so hat man darinnen dasjenige, was er nennt Idealwelt, etwa in unserer heutigen Sprache, Ideal aber vorgestellt als wesenhaft. Er schildert ja nicht abstrakte Ideen, sondern eben Engel, Erzengel und so weiter, er schildert die ganze intelligible Welt, wie man es nannte, die aber nicht eine intelligible Welt wie die unsre war, sondern die eine Welt von lebendiger Wesenheit war, von lebendigen intelligiblen Wesenheiten. In dem dritten Kapitel schildert er, wie gesagt, dasjenige, was wir heute unsere Wissenschaft nennen würden, aber doch anders. Wir haben seit der Galilei-Kopernikus-Zeit, die ja später fällt, nicht mehr dasjenige, was man in der Zeit des Scotus Erigena Kosmologie oder Anthropologie nennt. Was man die Kosmologie nennt, ist durchaus noch etwas, das aus dem Geiste heraus beschrieben wird, ist etwas, das so beschrieben wird, daß geistige Wesenheiten die Sterne lenken, daß geistige Wesenheiten auch in den Sternen leben, daß die Elemente Feuer, Wasser, Luft, Erde durchsetzt werden von geistigen Wesenheiten. Also es ist etwas anderes, was da als Kosmologie geschildert wird. Jene materialistische Anschauungsweise, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts heraufgekommen ist, die gab es eben dazumal noch nicht, und was er etwa als Anthropologie hat, das ist auch etwas ganz anderes, als was wir heute etwa Anthropologie in unserem materialistischen Zeitalter nennen.

Da kann ich Ihnen ja etwas sagen, was außerordentlich charakteristisch ist für dasjenige, was bei Johannes Scotus Anthropologie ist. Er sieht den Menschen an und sagt: Der Mensch trägt zunächst das Sein in sich. Er ist also mineralisches Wesen, er hat in sich mineralisches Wesen. Also erstens: der Mensch ist ein mineralisches Wesen (siehe S. 262). Zweitens: der Mensch leibt und lebt wie eine Pflanze. Drittens: der Mensch empfindet als Tier. Viertens: der Mensch urteilt und schließt, macht Schlüsse als Mensch. Fünftens: der Mensch erkennt als Engel.

Nun, das ist selbstverständlich etwas in unserer Zeit Ungeheuerliches! Wenn Johannes Scotus Erigena von Urteilen, Schließen spricht, was man ja zum Beipiel auch macht in der Gerichtsstube, wenn man über jemanden aburteilen will, dann urteilt und schließt der Mensch als Mensch. Wenn er aber erkennt, wenn er erkennend eindringt in die Welt, dann verhält sich der Mensch nicht als Mensch, sondern als Engel! Ich will das zunächst aus dem Grunde sagen, um Ihnen zu zeigen, daß Anthropologie für diese Zeit noch etwas anderes ist als für die jetzige Zeit, denn, nicht wahr, es würde heute kaum irgendwo, nicht einmal an einer theologischen Fakultät gehört werden können, daß der Mensch erkennt als Engel. So daß man sagen muß: Dasjenige, was Johannes Scotus Erigena im dritten Kapitel schildert, das haben wir als unsere Wissenschaft nicht mehr. Es ist etwas anderes geworden bei uns. Wenn wir es mit einem Worte nennen wollten, das heute auf nichts Betriebenes anwendbar ist, so würden wir etwa sagen müssen: Geistige Lehre vom Weltall und dem Menschen, Pneumatologie.

Und dann das vierte Kapitel. Dieses vierte Kapitel enthält bei Johannes Scotus Erigena erstens die Lehre von dem Mysterium von Golgatha und die Lehre von dem, was der Mensch als die Zukunft zu erwarten hat, als seinen Hingang in die göttlich-geistige Welt, also dasjenige, was man etwa nach heutigem Gebrauche benennen würde Soteriologie, Soter ist ja der Heiland, der Erlöser, und die Lehre von der Zukunft, Eschatologie. Wir finden da behandelt die Begriffe von Kreuzigung, Auferstehung, von der Ausströmung der göttlichen Gnade, von dem Hingang des Menschen zur göttlichgeistigen Welt und so weiter.

Eines sollte Ihnen dabei auffallen, und das fällt einem ja wirklich auf, wenn man unbefangen ist, indem man so etwas wie dieses Werk «De divisione naturae» von Johannes Scotus Erigena, von der Gliederung der Natur, aufmerksam liest. Da ist von der Welt geredet durchaus als von etwas, das in geistigen Qualitäten erkannt wird. Man spricht vom Geistigen, indem man die Welt betrachtet. Und was ist nicht darinnen? Man muß ja auch auf das aufmerksam sein, was nicht in einer solchen Universalwissenschaft ist, wie sie da Johannes Scotus Erigena begründen will.

Sie finden bei Johannes Scotus Erigena ungefähr gar nichts von dem, was wir heute Soziologie nennen, Sozialwissenschaft und dergleichen. Man möchte fast sagen, es sieht so aus, als ob der Johannes Scotus Erigena den Menschen, wie er sich sie dachte, ebensowenig eine Sozialwissenschaft habe geben wollen, wie etwa, wenn irgendeine Tierart, die Löwenart oder die Tigerart, oder irgendeine Vogelart eine Wissenschaft herausgeben würde, sie auch nicht eine Soziologie herausgeben würde. Denn der Löwe würde nicht reden über die Art und Weise, wie er mit anderen Löwen zusammenleben soll, oder wie er zu seiner Nahrung kommen soll und so weiter; das ist ihm instinktmäßig gegeben. Ebensowenig können wir uns eine Soziologie der Spatzen denken. Spatzen könnten gewiß allerlei höchst Interessantes an Weltengeheimnissen von ihrem Gesichtspunkte aus hervorbringen, aber sk würden niemals eine Ökonomie, eine Ökonomielehre hervorbringen, denn das würden die Spatzen für das ganz Selbstverständliche ansehen, daß sie das tun, was ihnen eben ihr Instinkt sagt. Das ist das Eigentümliche: Indem wir bei Johannes Scotus Erigena so etwas noch nicht finden, sind wir uns klar darüber, daß er die menschliche Gesellschaft noch so ansah, als ob sie das Soziale aus ihren Instinkten hervorbrächte. Er weist hin gerade in seiner besonderen Art von Erkenntnis auf dasjenige, was in dem Menschen noch als Instinkt lebte, auf die Triebe, die Impulse des sozialen Zusammenseins. Über diesem sozialen Zusammensein ist dasjenige, was er schildert. Er schildert, wie der Mensch aus dem Göttlichen hervorgegangen ist, welche Wesenheiten über der Sinneswelt liegen. Er schildert dann, wie der Geist die Sinneswelt durchzieht, etwa in einer Art Pneumatologie, er schildert dasjenige, was in die Sinneswelt als Geistiges eingedrungen ist in seinem vierten Kapitel in der Soteriologie, in der Eschatologie. Aber er schildert nirgendwo, wie die Menschen zusammenleben sollen. Ich möchte sagen, alles ist herausgehoben über die Sinneswelt. Das war überhaupt ein Charakteristikum dieser älteren Wissenschaft, daß alles über die Sinneswelt hinausgehoben war.

Und vertieft man sich im geisteswissenschaftlichen Sinn in so etwas wie die Lehre des Johannes Scotus Erigena, so sieht man, er hat gar nicht mit denjenigen Organen gedacht, mit denen heute die Menschheit denkt. Man versteht ihn eben nicht, wenn man ihn verstehen will mit demjenigen Denken, das heute die Menschheit vollführt. Man versteht ihn nur, wenn man sich durch Geisteswissenschaft eine Anschauung errungen hat von dem, wie man mit dem Ätherleib denkt, mit demjenigen Leib, der als ein feinerer Leib dem groben sinnlichen Leib zugrunde liegt.

Also Johannes Scotus Erigena hat nicht mit dem Gehirn, sondern mit dem Ätherleib gedacht. Wir haben in ihm einfach einen Geist, der noch nicht mit dem Gehirn gedacht hat. Und alles dasjenige, was er niederschreibt, kommt zustande als Ergebnis des Denkens mit dem Ätherleib. Im Grunde genommen beginnt man erst nach seiner Zeit mit dem physischen Leib zu denken, und so recht eigentlich erst vom 15. Jahrhundert an. Was man gewöhnlich nicht sieht, ist daß sich wirklich das menschliche Leben als Seelenleben in dieser Zeit geändert hat, daß man wirklich, wenn man zurückgeht ins 13., 12., 11. Jahrhundert, auf ein Denken stößt, wie es der Johannes Scotus Erigena hatte, daß man da kommt an ein Denken, das noch nicht mit dem physischen Leib, sondern mit dem Ätherleib vollzogen worden ist. Dieses Denken mit dem Ätherleib, das sollte nicht hereinragen in die spätere Zeit, in der man scholastisch dialektisiert hat über starre Begriffe; da wurde dieses ältere Denken mit dem Ätherleib, das aber durchaus auch das Denken der ersten christlichen Jahrhunderte war, eben verketzert. Deshalb auch die Verbrennung der Schriften des Johannes Scotus Erigena.“ (Lit.:GA 204, S. 263ff)

Denken im Gespräch mit dem Engel

„Bei Johannes Scotus ist es so, daß er in diesem Zwiespalt lebt. Er kann bloß denken; aber wenn dieses Denken zum Erkennen wird, da fühlt er, da ist noch etwas da von den alten Mächten, welche den Menschen durchdrungen haben in der alten Art der Erkenntnis. Er fühlt den Engel, den Angelos in sich. Daher sagt er, der Mensch erkenne als Engel. Es war Erbstück aus den alten Zeiten, daß in dieser Zeit der Verstandeserkenntnis ein solcher Geist wie Scotus Erigena noch sagen konnte, der Mensch erkenne wie ein Engel. In den Zeiten der ägyptischen, der chaldäischen Zeit, in den älteren Zeiten der hebräischen Zivilisation würde niemand etwas anderes gesagt haben, als: Der Engel erkennt in mir, und ich nehme Teil als Mensch an der Erkenntnis des Engels. Der Engel wohnt in mir, der erkennt, und ich mache das mit, was der Engel erkennt. - Das war in der Zeit, als noch kein Verstand da war. Als dann der Verstand heraufgekommen war, da mußte man das mit dem Verstände durchdringen; aber es war eben in Scotus Erigena noch ein Bewußtsein von diesem Durchdrungensein mit der Angelosnatur.“ (Lit.:GA 204, S. 269f)

Gutachten zur Prädestination

„Ich habe ja öfter in solchen Vorträgen auf jenen schottischen Mönch, Scotus Erigena, aufmerksam gemacht, der im 9. Jahrhundert im Frankenlande am Hofe Karls des Kahlen gelebt hat und dort geradezu als ein Wunder der Weisheit angesehen worden ist. Karl der Kahle jedenfalls und alle, die seiner Meinung waren, wandten sich in allen religiösen und auch in allen wissenschaftlichen Fragen an Scotus Erigena, wenn sie irgend etwas entschieden haben wollten. Aber gerade an der Art, wie Scotus Erigena anderen Mönchen seiner Zeit gegenübersteht, sehen wir, wie dazumal der Kampf, ich möchte sagen, wütete zwischen der Vernunft, die sich nur auf die Sinneswelt und einige Schlüsse aus ihr beschränkt fühlte, und dem, was in Form von Dogmen von den übersinnlichen Welten überliefert war.

Und so sehen wir zwei Persönlichkeiten gerade im 9. Jahrhundert einander gegenüberstehen: Scotus Erigena und den Mönch Gottschalk, der in entschiedener Weise die Lehre geltend machte, Gott wisse vollkommen voraus, ob irgendein Mensch verdammt werde oder selig werde. Man prägte das allmählich in die Formel: Gott habe einen Teil der Menschen zur Seligkeit, einen anderen Teil der Menschen zur Verdammnis bestimmt. Man prägte diese Lehre in der Art, wie es ja Augustinus selbst schon gemacht hatte, nach dessen Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung ein Teil der Menschen zur Seligkeit, ein Teil zur Verdammnis bestimmt sei. Und Gottschalk, der Mönch, lehrte, es sei so: Gott habe einen Teil der Menschen zur Seligkeit und einen Teil zur Verdammnis bestimmt, keinen aber zur Sünde. Gottschalk lehrte also für das äußere Verständnis einen Widerspruch.

Der Streit tobte dazumal gerade im 9. Jahrhundert außerordentlich heftig. Auf einer Mainzer Synode zum Beispiel wurde die Schrift des Gottschalk geradezu als ketzerisch erklärt, und Gottschalk wurde ausgepeitscht wegen dieser Lehre. Dennoch, trotzdem Gottschalk ausgepeitscht und eingesperrt worden war wegen dieser Lehre, konnte er sich darauf berufen, daß er ja nichts anderes wollte, als die Augustinische Lehre in ihrer echten Gestalt herstellen. Man wurde auch aufmerksam darauf, namentlich französische Bischöfe und Mönche, daß Gottschalk eigentlich nichts anderes lehrte als das, was schon Augustinus gelehrt hatte. So stand gewissermaßen solch ein Mönch wie Gottschalk vor seiner Zeit so da, daß er aus den Traditionen des alten Mysterienwissens etwas lehrte, was diejenigen, die nun alles mit dem Verstande, der heraufdämmerte, begreifen wollten, eben nicht begreifen konnten und deshalb bekämpften, während die anderen, die mehr an der Ehrwürdigkeit des Alten festhielten, durchaus einem Theologen wie dem Gottschalk recht gaben.

Heute werden die Menschen außerordentlich schwer begreifen, daß über so etwas gestritten werden konnte. Es wurde aber nicht bloß gestritten. Man wurde dazumal wegen solcher Lehren, wenn sie der einen Partei nicht gefielen, öffentlich ausgepeitscht und eingesperrt, und zuletzt bekam man doch recht. Denn gerade die Rechtgläubigen stellten sich dann wiederum auf Gottschalks Seite, und die Lehre des Gottschalk blieb als die rechtmäßige katholische Lehre. - Karl der Kahle wandte sich selbstverständlich aus der ganzen Stellung, in der er zu Scotus Erigena war, an diesen, um eine Entscheidung für sich herbeizuführen. Scotus Erigena entschied nicht im Sinne von Gottschalk, sondern in dem Sinne, daß in der Entwickelung der Menschheit die Gottheit darinnensteckt, daß das Böse eigentlich nur scheinbar ein Etwas sein kann, sonst müßte ja das Böse in Gott stecken. Da Gott nur das Gute sein kann, so muß das Böse ein Nichts sein; das Nichts aber kann nicht etwas sein, mit dem die Menschen zuletzt vereinigt werden können. - So daß sich Scotus Erigena gegen den Gottschalk aussprach. Aber die Lehre des Scotus Erigena, die etwa dieselbe ist wie heute die der Pantheisten, ist von der rechtgläubigen Kirche dann wiederum verdammt worden, und die Schriften des Scotus Erigena wurden ja erst später wieder gefunden. Man hat alles verbrannt, was an ihn erinnerte; er galt als der eigentliche Ketzer. Und als er seine Anschauung bekanntmachte, die er Karl dem Kahlen vorgelegt hatte, da erklärte man auf der Seite der Gottschalkianer, die jetzt wiederum zur Anerkennung gekommen waren: Scotus Erigena ist eigentlich nur ein Schwätzer, der sich mit allerlei Federn der äußerlichen Wissenschaft schmückt, und der eigentlich von den inneren Geheimnissen des Übersinnlichen gar nichts weiß.“ (Lit.:GA 214, S. 48ff)

Abendmahlstreit

Eriugena bezog auch Stellung im Abendmahlstreit.

„Ein anderer Theologe schrieb über den Leib und das Blut Christi: «De corpore et sanguine domini.» Er sprach in dieser Schrift auch dasjenige aus, was für den alten Eingeweihten eine durchschaubare Lehre war: daß tatsächlich Brot und Wein verwandelt werden kann in den wirklichen Leib und in das wirkliche Blut Christi.

Wiederum wurde diese Schrift Karl dem Kahlen vorgelegt. Scotus Erigena schrieb nicht gerade eine Gegenschrift, aber in seinen Schriften haben wir vielfach Hinweise darauf, wie er sich entschieden hat, und da finden wir, daß diese Lehre, die ja die rechtgläubige katholische ist: daß Brot und Wein wirklich in den Leib und in das Blut Christi verwandelt wird, daß diese Lehre modifiziert werden müsse, weil man sie nicht einsehen könne. So sprach sich Scotus Erigena schon damals aus.“ (Lit.:GA 214, S. 50f)

„Es gab in den ältesten Zeiten bis zu dem 12. Jahrhundert nichts, was erhabener, feierlicher war für den Christen als das Abendmahl. Es sollte ein dankbares Erinnerungsopfer sein, ein Symbol für die Verinnerlichung des Christentums. Da kam jene Verweltlichung, jenes Unverständnis solchen hohen, geistigen Tatsachen gegenüber, vor allem den Festen gegenüber. Im 9. Jahrhundert lebte im Lande der Franken, am Hofe Karls des Kahlen, ein sehr bedeutender, christlicher Mönch aus Irland, Scotus Erigena, in dessen Buche «Von der Einteilung der Natur» wir eine Fülle von Geist und Tiefsinn finden, freilich nicht von dem, was das 20. Jahrhundert unter Wissenschaft versteht. Er hatte zu kämpfen gegen eine feindliche Richtung in der Kirche. Er verteidigte die alte Lehre, daß das Abendmahl die Versinnbildlichung des höchsten Opfers bedeutete. Eine andere, materielle Auffassung bestand und wurde von Rom protegiert, daß Brot und Wein sich wirklich in Fleisch und Blut verwandeln. Unter dem Einfluß der vor sich gehenden Vermaterialisierung entstand das Abendmahlsdogma, doch erst im 13. Jahrhundert wurde es offiziell.

Scotus mußte nach England flüchten und wurde auf Betreiben des Papstes im eigenen Kloster von den verbrüderten Mönchen hingemordet. Das sind Kämpfe, die sich nicht innerhalb der Kirche, sondern durch das Eindringen des weltlichen Einflusses abspielen.“ (Lit.:GA 51, S. 144)

Pythagoräismus

„Wer den Pythagoräismus studiert, wird ja leicht dazu verführt werden, zu glauben, da sei alles in der Welt so angesehen, wie wir es ansehen, nach Maß, Zahl und Gewicht. Aber gerade der charakteristische Unterschied, wie im Pythagoräismus bildhaft Maß, Zahl und Gewicht verwendet werden, und wie sie universell verwendet werden, wie gewissermaßen ganz menschlich, noch nicht abgesondert vom Menschen gefühlt wird, was in Maß, Zahl und Gewicht lebt, das kann uns schon darauf hinweisen, daß der Pythagoräismus nicht so arbeitete mit Maß, Zahl und Gewicht, wie später, seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, damit gearbeitet worden ist, wie der Galileismus mit Maß, Zahl und Gewicht arbeitet. Und wer sich zum Beispiel vertieft in einen Geist des 9. Jahrhunderts - ich habe ihn vor kurzem einmal hier in einigen Vorträgen charakterisiert -, wer sich vertieft in Johannes Scotus Erigena, wer sich hineinliest in Scotus, der wird finden: so wie wir heute gewöhnt sind, aus chemischen, physikalischen Grundlagen heraus uns ein Weltengebäude aufzubauen und Anfang und Ende der Welt uns hypothetisch zu konstruieren aus dem, was wir im Messen, Zählen, Wägen gelernt haben, so ist das bei Scotus Erigena nicht. Es sondert der Mensch die Außenwelt bei Scotus Erigena nicht so weit von sich ab, und sich nicht von der Außenwelt. Er lebt mehr mit der Außenwelt zusammen, strebt noch nicht so nach Objektivität, wie man heute nach Objektivität strebt. Und so kann man sehen, wie das, was in all den Jahrhunderten seit der pythagoräischen Zeit im Griechentum sich entfaltete - und gerade an einem solchen Geist wie Scotus Erigena kann man es sehen -, sich dann in späteren Jahrhunderten ausgelebt hat. In dieser Zeit lebte im Grunde genommen die menschliche Seele in ganz andern Vorstellungen.“ (Lit.:GA 206, S. 173)

Siehe auch

Anmerkungen

  1. Wo und wie sich Eriugena diese Griechischkenntnisse angeeignet hat, bleibt unklar. In den Klöstern seiner irischen Heimat besaß man zwar elementare Kenntnisse der griechischen Sprache, aber beweitem nicht auf dem Niveau Eriugenas. In seinem Denken zeigt er eine große Sympathie für die deutlich spirituellere griechische Ostkirche, die damals zwar noch nicht offiziell von der Westkirche geschieden, aber schon durch eine große geistige Kluft von ihr getrennt war. So wurde auf dem Viertes Konzil von Konstantinopel (869) die Lehre Photios I. verworfen und die Trichotomie, die Dreigliederung des Menschen in Leib, Seele und Geist als häretisch verurteilt - und damit der Geist des Menschen „abgeschafft“, wie es Rudolf Steiner oftmals ausdrückte. Ob es aber zu Kontakten Eriugenas mit Gelehrten der Ostkirche kam und Eruigena auch Reisen nach Byzanz oder Griechenland unternahm, liegt im Dunklen.
  2. Was vielleicht auch nur metaphorisch im Sinne einer Widerlegung seiner Schriften zu verstehen ist.
  3. Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 3f [1]
  4. Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 22f [2]

Literatur

  1. Wolf-Ulrich Klünker: Johannes Scotus Eriugena - Denken im Gespräch mit dem Engel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1988, ISBN 978-3-7725-0826-4
  2. Rudolf Steiner: Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung, GA 7 (1990), ISBN 3-7274-0070-6 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  3. Rudolf Steiner: Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, GA 8 (1989), ISBN 3-7274-0080-3 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  4. Rudolf Steiner: Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt, GA 18 (1985), ISBN 3-7274-0180-X pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  5. Rudolf Steiner: Über Philosophie, Geschichte und Literatur, GA 51 (1983), ISBN 3-7274-0510-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  6. Rudolf Steiner: Die Philosophie des Thomas von Aquino, GA 74 (1993), ISBN 3-7274-0741-7 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  7. Rudolf Steiner: Perspektiven der Menschheitsentwickelung, GA 204 (1979), ISBN 3-7274-2040-5 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  8. Rudolf Steiner: Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Zweiter Teil, GA 206 (1991), ISBN 3-7274-2060-X pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  9. Rudolf Steiner: Das Geheimnis der Trinität, GA 214 (1999), ISBN 3-7274-2140-1 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  10. Rudolf Steiner: Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung, GA 326 (1977), ISBN 3-7274-3260-8 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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 Wikisource: Iohannes Scotus Eriugena – Quellen und Volltexte (latina)