Kain und Abel-Imagination

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Gioacchino Assereto: Kain und Abel (nach 1640)
Tizian: Kain und Abel. (1570/76, Santa Maria della Salute, Venedig)

Die Kain und Abel-Imagination wird in der Genesis im Anschluss an die Paradieseserzählung angedeutet. Sie führt uns ganz nahe an das Rätsel des Bösen heran, schildert sie doch bekanntlich nichts weniger als den ersten Mord der Weltgeschichte, einen Brudermord, der gleichsam urbildhaft für alle weiteren Verbrechen der Menschheit steht, die eine Folge des Sündenfalls sind. Wir alle tragen heute das Kainsmal auf unserer Stirn; festzuhalten ist dabei aber auch, dass gemäß der biblischen Erzählung nicht die Nachkommen Abels, sondern die Nachfahren Kains die Väter aller Kultur sind und dadurch erst die Erfüllung der Erdenmission ermöglichen!

„Indem Abel in der Vergangenheit das, was er aus göttlicher Hand empfangen hatte, opfert, opfert er auch auf dem Gebiete des Lebendigen nur das, was er von der Natur empfangen hat. Kain dagegen hat das geopfert, was er durch eigene Arbeit der Erde als Früchte seines Fleißes abgerungen hat.“ (Lit.:GA 93, S. 276)

Das wird durch die im 15. Jahrhundert von Christian Rosenkreutz gegebene Tempellegende deutlich, die den gemeinsamen geistigen Hintergrund des Templerordens, in dem sich das Gralsrittertum fortsetzt, und später der Rosenkreuzer und der Freimaurerei erhellt. Hiram Abif, der Baumeister des Salomonischen Tempels, stammte aus der Kains-Strömung. Zur Zeitenwende wurde er in seiner Inkarnation als Lazarus-Johannes im Zuge der Totenerweckung durch den Christus selbst eingeweiht und später als Christian Rosenkreutz wiedergeboren. Die Anthroposophie führt die von ihm inaugurierte Strömung in zeitgemäßer Form weiter.

Der unterschiedliche Ursprung von Kain und Abel

Siehe auch: Kain und Abel

Nach der Tempellegende besteht zwischen Kain (hebr. קין, von קנה kanah „bekommen, erwerben, kaufen“, siehe Gen 4,1 EU) und Abel (hebr. הבל Hevel = „Atem, Hauch“) ein bedeutsamer Unterschied. Kain geht als ein unmittelbarer Göttersohn aus der Verbindung eines der sechs auf der Sonne verbliebenen Elohim mit der Erdenmutter Eva hervor. Eva war in diesem Sinn die noch ganz im dunklen, lichtlosen Feuerelement lebende Menschheit der polarischen Zeit. Abel hingegen ist der Sohn von Eva und Adam, der von Jahve, dem Mondenelohim, aus dem „Erdenstaub“ - gemeint ist damit die noch wässerige, fein zerstäubte Erdensphäre - gebildet und durch den Lufthauch belebt und beseelt wurde.

„Es gab eine Zeit, da schuf einer der Elohim den Menschen; einen Menschen, den er Eva nannte. Mit Eva verband sich der Elohim selbst und es wurde von Eva Kain geboren. Darauf schuf der Elohim Jahve oder Jehova den Adam. Adam verband sich ebenfalls mit Eva und aus dieser Ehe ging Abel hervor.

Wir haben es also bei Kain mit einem unmittelbaren Göttersohn zu tun und bei Abel mit einem Sprößling des als Mensch geschaffenen Adam und der Eva. Nun geht der Mythus weiter.

Die Opfergaben, welche Abel dem Gotte Jahve darbrachte, waren dem Gotte angenehm. Aber die Opfergaben des Kain nicht, denn Kain war nicht auf direktes Geheiß von Jahve entstanden. Die Folge davon war, daß Kain den Brudermord beging. Er erschlug Abel. Deshalb wurde er von der Gemeinschaft mit Jahve ausgeschlossen. Er ging in entfernte Gegenden und wurde dort der Stammvater eines eigenen Geschlechts.

Adam verband sich weiterhin mit Eva und zum Ersatz von Abel wurde Seth geboren, der auch in der Bibel vorkommt. So entstanden zwei Menschengeschlechter: das erste von Eva und dem Elohim abstammend, das Geschlecht Kains; und das zweite von den bloßen Menschen abstammend, die auf Geheiß des Jahve sich verbunden haben.

Von dem Geschlecht des Kain stammen alle ab, die auf der Erde Künste und Wissenschaften ins Leben gerufen haben, zum Beispiel Methusael, der die Schrift, die Tau-Schrift erfunden hat und Tubal- Kain, der die Bearbeitung der Erze und des Eisens lehrte. So entstand in dieser Linie, direkt von dem Elohim abstammend, die Menschheit, die sich in Künsten und Wissenschaften ausbildet. Aus diesem Geschlecht der Kains ging auch hervor Hiram.“ (Lit.:GA 93, S. 59)

„Im Beginn der Erdenentwickelung stieg einer der Lichtgeister oder Elohim aus dem Sonnenbereich in den Erdenbereich und verband sich mit Eva, der Urmutter des Lebendigen. Aus dieser Verbindung entstand Kain, der erste der Erdenmenschen. Darauf bildete ein anderer aus der Reihe der Elohim, Jahve oder Jehova, den Adam; und aus der Verbindung des Adam mit Eva entstand Abel, des Kain Stiefbruder. Die Ungleichheit der Abstammung von Kain und Abel (geschlechtliche und ungeschlechtliche Abstammung) bewirkte Streit zwischen Kain und Abel. Und Kain erschlug den Abel. Abel war durch die geschlechtliche Abstammung, Kain durch den moralischen Fall des Lebens in der geistigen Welt verlustig gegangen. Für Abel gab Jehova dem Elternpaar den Ersatzsohn Seth. Von Kain und Seth stammen zwei Menschentypen ab. Die Nachkommen Seths konnten in besonderen (traumhaften) Bewußtseinszuständen in die geistige Welt schauen. Die Nachkommen Kains waren dieses Schauens ganz verlustig gegangen. Sie mußten sich im Laufe der Generationen hindurch durch allmähliche Ausbildung der menschlichen Erdenkräfte zur Wiedererringung der spirituellen Fähigkeiten hinaufarbeiten.“ (Lit.:GA 265, S. 365)

„Wenn es heißt, daß der Elohim sich mit Eva verband, so müssen wir nicht glauben, daß unter Eva irgend etwas Ähnliches verstanden wird wie die gegenwärtige Frau. Eva war die Menschheit der polarischen Rasse, eine von der heutigen Menschheit ganz verschiedene, nämlich eine viel einfachere. Wenn wir an die Blutwärme denken und alles andere uns fortsuggerieren, wenn wir an diese [Blutwärme] denken, die in jeder Ecke und in jedem Winkel unseres Körpers vom Kopf bis zum Fuß pulsiert, wenn wir [sie] uns in jeder Einzelheit unseres Körpers vorstellen, aber uns denken, daß alles übrige verschwunden ist und nichts übriggeblieben ist als dieser blutwarme Mensch, dann können wir uns eine Vorstellung bilden davon, wie die Eva aussah, mit der sich der Elohim verband. Die Erde war damals dunkel, aber in der zweiten oder hyperboräischen Epoche durchdrangen die Sonnengeister diese dunkle Eva mit Licht, und diese Sonnenstrahlen enthielten nicht nur Licht, sie enthielten auch Nahrung, und was nicht als Nahrung verbraucht wurde, um die Menschheit oder Eva zu ernähren, war verfügbar zum Zwecke der Fortpflanzung, und auf diese Weise entstand Kain aus der Verbindung des Elohim mit Eva.“ (Lit.:GA 265, S. 393)

Eva und Lilith

John Collier: Lilith
Hauptartikel: Lilith

In diesem Zusammenhang ist auch Lilith (hebr. לילית, „Eule, Kreischeule[1], „weiblicher Dämon[2]“), Adams erste Frau, zu erwähnen, die in einigen jüdischen Legenden in verschiedenen, ähnlich gearteten Varianten geschildert wird. Danach erschuf Gott (Jahve) Adam und Lilith aus demselben Lehm, um Adam eine Partnerin zu schenken. Gott holte Lilith vor der ersten Nacht noch zu sich und sagte ihr, sie solle Adam untertan sein (einige deuten dies so, dass sie beim Geschlechtsakt unten zu liegen habe, was aber höchstens metaphorisch zu verstehen ist, da es damals eine Körperlichkeit im heutigen Sinn noch nicht gab). Dies wurde von Lilith nicht akzeptiert, denn der Lehm, aus dem Lilith erschaffen worden war, war durch den Speichel des verstoßenen Samael verunreinigt worden. Samael ist in der Gnosis auch einer der drei Namen Jaldabaoths, des als böse angesehenen löwenköpfigen Schöpfers der materiellen Welt, und hängt wohl auch mit dem in der ersten Hälfte der Erdentwicklung erfolgtem Marsdurchgang zusammen. Lilith stritt sich mit Adam und verschwand dann aus dem Paradies in die Wüste. Dort verkehrte sie jeden Tag mit tausend Mischwesen und brachte tausend Kinder pro Tag auf die Welt. Adam beklagte sich bei Gott über seine Einsamkeit, welcher ihm dann Eva aus seiner Rippe erschuf. Lilith musste es auf sich nehmen, dass täglich hundert von ihren Kindern sterben sollten, blieb aber selbst unsterblich, da sie nie die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte.

Die spätere jüdische Tradition bringt Lilith auch mit König Salomo und mit dem Dämonenfürsten Asmodäus in Beziehung[3][4]. So soll die legendäre Königin von Saba, die Salomo zur Zeit des Tempelbaus besuchte, in Wahrheit Lilith gewesen sein. Und die beiden Dirnen, die Salomo um ein Urteil baten (1 Kön 3,16-28 EU), wem das Neugeborene, um das sie stritten, gehören solle, seien Lilith und deren Tochter Na'ama gewesen[5].

Die biblische Erzählung von Kain und Abel

In der Genesis werden diese Hintergründe nicht aufgedeckt und daher die Geschichte von Kain und Abel vereinfacht so geschildert:

Kains Brudermord

1 Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des HERRN. 2 Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. 3 Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. 4 Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, 5 aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. 6 Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? 7 Ist's nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. 8 Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. 9 Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? 10 Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. 11 Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. 12 Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. 13 Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. 14 Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. 15 Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. 16 So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.

1. Buch Mose: 4,1-16 LUT

In der Bibel wird auch nur ein Teil der eigentlichen Kain und Abel-Imagination enthüllt, der andere Teil, mit dem wir uns aber heute im Bewusstseinsseelen-Zeitalter ganz besonders auseinander zu setzen haben, musste zunächst noch, ebenso wie die oben angedeutete Vorgeschichte, verborgen bleiben.

Die Kain und Abel-Imagination

Versuchen wir nachzuvollziehen, wie sich die ganze Kain und Abel-Imagination vor dem geistigen Auge entfaltet: In der Nacht, wenn wir schlafen, treten Ich und Astralleib aus dem lebendigen Leib, also aus dem durch den Ätherleib belebten physischen Leib, heraus. Gelingt es durch geistige Schulung, das Bewusstsein auch in diesem äußeren Schlafzustand wach zu erhalten und blicken wir dabei mit geöffneten geistigen Sinnen auf den physischen Leib zurück, der im Bett liegen bleibt, so weitet er sich immer deutlicher zur Paradieses-Imagination aus. Wir erkennen dann, dass unser physischer Leib gleichsam nur ein verkümmertes, zusammengeschrumpftes Abbild der paradiesischen Welt ist. Der Rückblick auf den Ätherleib führt in ähnlicher Weise zur Grals-Imagination. Der klare Blick auf die Paradiesesimagination wird zunächst noch durch die egoistischen Begierden des Astralleibs getrübt. Um zur Klarheit zu kommen, müssen wir unsere Begierdennatur erst erkennen lernen und sie in objektiver Gestalt vor uns hinstellen. Das führt uns zur Begegnung mit dem Hüter der Schwelle, der an der Pforte zur übersinnlichen Welt steht. Wir erkennen nun, dass der Astralleib seinem ganzen Wesen nach der pure Egoist ist und sein muss, der nur in sich und durch sich selbst leben will. Erleben wir das nur intensiv genug, so fühlen wir uns zunächst vollkommen isoliert von der geistigen Welt. Ein Gefühl frostiger Einsamkeit überfällt uns, die wir nur dadurch überwinden können, dass wir unsere kleinlichen egoistischen Interessen zu umfassenden Weltinteressen erweitern, also gleichsam unseren Egoismus auf die ganze Welt ausdehnen - wodurch er vom absoluten Altruismus nicht mehr zu unterscheiden ist.

Die beiden Abirrungen des Egoismus

Der im Astralleib sich manifestierende Egoismus kann nach zwei Seiten abirren, die in der Grals-Erzählung einseits durch Amfortas, anderseits durch Parzival angedeutet werden. Amfortas entwickelt zuviel persönliches Eigeninteresse, Parzival hingegen zuwenig Weltinteresse, weshalb er versäumt, selbstbewusst aus seinem Ich heraus die entsprechende Frage zu stellen.

„Man kann eigentlich, wenn es sich um die Interessen des Astralleibes handelt, nur nach zwei Richtungen hin abirren. Diese zwei Richtungen sind die Richtung nach dem Amfortas und, bevor Amfortas zur völligen Erlösung kommt, nach dem Parzival. Mitten drinnen liegt die richtige Entwicklung des Menschen, insofern sein astralischer Leib in Betracht kommt. Dieser astralische Leib strebt also danach, in sich die Kräfte des Egoismus zu entwickeln. Wenn er aber in diesen Egoismus persönliche Interessen hineinbringt, dann wird er angefressen; er wird gleichsam, während er sich über die ganze Erde ausdehnen sollte, zusammengeschrumpft auf die einzelne Persönlichkeit. Das darf nicht sein! Denn wenn es geschieht, wird durch die Wirkung der Persönlichkeit, die ihren Ich- Ausdruck im Blute findet, die ganze menschliche Persönlichkeit verwundet: man irrt nach der Amfortasseite ab. Des Amfortas Grundfehler besteht darin, daß er in die Sphäre, wo der Astralleib sich die Berechtigung erworben haben sollte, Egoist zu sein, daß er in diese hinaufträgt dasjenige, was noch an persönlichen Begierden und Wünschen im Menschen sein kann. In dem Augenblick ist es heillos, wenn man in die Sphäre, wo der astralische Leib von den persönlichen Interessen sich lösen sollte, persönliche Interessen mitnimmt; dann ist man der verwundete Amfortas.

Aber auch die andere Abirrung kann zum Unheil führen und führt nur dann nicht zu Unheil, wenn die Wesenheit, die diesem Unheil ausgesetzt ist, in solche Unschuld getaucht ist wie Parzival. Parzival sieht den Heiligen Gral wiederholt vorübergetragen werden. Er begeht gewissermaßen ein Unrecht. Jedesmal wenn der Heilige Gral vorübergetragen wird, hat er die Frage auf den Lippen, für wen eigentlich diese Speise sei; er fragt aber nicht, und zuletzt ist das Mahl fertig, ohne daß er gefragt hat. Daher muß er abziehen nach diesem Mahle, ohne daß er die Möglichkeit hat, etwas Zurückgelassenes noch zu holen. Es ist wirklich so, wie wenn der noch nicht völlig reife Mensch einen Augenblick das Hellsehen hätte in der Nacht, wie wenn er wie durch einen Abgrund getrennt wäre von dem, was in der Burg seiner Leiblichkeit enthalten ist, und er einen Blick hineintun würde, dann aber, ohne daß er die entsprechende Erkenntnis gewonnen hätte, das heißt ohne daß er die Frage getan hat, würde alles sich ihm wiederum schließen. Er würde, auch wenn er dann erwachte, nicht wieder in diese Burg hineinkommen können. — Was versäumt eigentlich Parzival?“ (Lit.:GA 145, S. 124f)

„Parzival ist zunächst nicht so weit innerlich offen, daß er in selbstbewußter Weise fragt: Wozu der Gral? — Was braucht es nun? — Bei dem Fischerkönig brauchte es, daß er sein persönliches Interesse abtötete und sein Interesse so weit machte wie das Interesse der allgemeinen Menschheit bei dem Christus Jesus. Bei Parzival ist notwendig, daß er hinaufhebt sein Interesse über das bloß unschuldige Anschauen zum innerlichen Verstehen dessen, was in jedem Menschen dasselbe ist, was der ganzen Menschheit zukommt, die Gabe des Heiligen Gral. So schwebt in einer wunderbaren Weise zwischen Parzifal und Amfortas oder dem ursprünglichen Fischerkönig mitten drinnen das Ideal des Mysteriums von Golgatha.“ (S. 126)

Frostige Einsamkeit als Gegengewicht zum Egoismus

Das als Gegengewicht zum aufkeimenden Egoismus entstehende heilsame Gefühl frostiger Einsamkeit beschreibt Rudolf Steiner so:

„Wer diese Paradiesesimagination wirklich erlebt, wer sie also als eine Errungenschaft des höheren Erlebens vor sich haben kann, der fühlt sich mitten drinnenstehend in einem inneren Seelenwogen, er fühlt sich ergriffen von einem inneren Seelenwogen und fühlt, wie er gewissermaßen nach den zwei gestern bezeichneten Richtungen abirren kann. Wie er angezogen wird, lebendig angezogen wird von all den Leidenschaften, Affekten, die aus dem persönlichen Leben, das man eben einmal auf dem physischen Plan führt, nachwirken — denn wie hundert und aber hundert magnetische Anziehungskräfte wirken immer stärker und stärker die persönlichen Interessen, die man sich nach und nach herangezogen hat auf dem physischen Plan —, auf der anderen Seite aber fühlt man noch etwas anderes. Je mehr man in die Nähe kommt, je deutlicher diese Paradieses- Imagination zu sehen ist, desto mehr Stärke gewinnen diese Kräfte, die einen zu den persönlichen Interessen herunterziehen, und das, was sie an einem bewirken, das ist: sie löschen einem immer mehr und mehr diese Paradieses-Imagination aus, oder besser gesagt, sie lassen sie gar nicht richtig entstehen, man wird wie betäubt. Was man da mitschleppt an persönlichen Interessen, Affekten, Gefühlen und Empfindungen und so weiter, das sind ebenso viele Hunderte und aber Hunderte von magnetischen Kräften, wie sie auf der anderen Seite Betäubungsmittel sind. Und dann, wenn man versucht, seine Selbsterziehung so weit zu bringen, daß man den astralischen Leib sozusagen immer mehr in Wahrheit betrachtet — man ist ja, wenn man diese Paradieses-Imagination hat, außerhalb seines physischen und ätherischen Leibes, also man ist in seinem astralischen Leib und Ich —, wenn man erfaßt hat die Natur und den Charakter des Astralleibes, dann weiß man: der ist der Egoist. Und der ist nur gerechtfertigt an dieser Stelle, die man da durch Selbsterziehung erlangt hat, wenn er in seine egoistischen Interessen nicht das Persönliche zu seinem Wesen macht, das dann mit den hundert und aber hundert Kräften kommt, sondern wenn er immer mehr die ganz allgemeinen Menschheits- und Weltinteressen zu den seinigen machen kann. Man fühlt nämlich wie ein Gegengewicht an dieser Stelle der okkulten Entwicklung gegen den Egoismus des astralischen Leibes ein anderes, das immer mehr und mehr heraufkommt, je mehr sozusagen die egoistischen Kräfte sich regen in dem freigewordenen astralischen Leibe. Man fühlt immer mehr Einsamkeit, eisige Einsamkeit. Das gehört auch zu dem, was man im innerlichen Wogen erlebt, die eisige Einsamkeit. Und diese eisige Einsamkeit, die ist es, die einen kuriert von dem Überhandnehmenlassen des Egoismus, und man hat sich richtig erzogen, wenn man an diesem Punkt der okkulten Entwicklung nebeneinander fühlen kann den Trieb, alles durch sich und für sich zu sein, aber wenn man auch die frostige Einsamkeit an sich herankommen fühlt.“ (Lit.:GA 145, S. 136f)

Das Erlebnis in der geistigen Welt

Indem sich unser Astralleib so erweitert, vereinigen wir uns mit der Paradiesesimagination und wir werden nun auch eines anderen geistigen Wesens gleich uns gewahr. Und doch unterscheidet sich dieses andere Wesen in einem wesentlichen Punkt von uns. Von unserem Astralleib strömen Kräfte hinauf in die geistige Welt; von jenem anderen Wesen aber regnen gute, segenbringende astralische Kräfte hinab in die Erdenwelt und wir fühlen dabei sehr deutlich: dieses Wesen ist viel wertvoller als wir selbst - und eben deshalb darf es seine segnenden Kräfte in die physische Welt ergießen. Wir fühlen nun den drängenden Wunsch, uns mit diesem Wesen zu vereinigen und an seiner liebevollen Seelenwärme unsere frostige Einsamkeit zu lindern.

„Wenn der Mensch diese Vereinigung mit der Paradieses-Imagination gefeiert hat, dann kann er etwa den folgenden Eindruck haben: Er wird seinen eigenen astralischen Leib als zu ihm gehörig wahrnehmen, und wenn er genügend gefühlt hat das, was eben als frostige Einsamkeit geschildert worden ist, so wird dieses Gefühl in ihm eine Kraft sein, und dieses Gefühl frostiger Einsamkeit wird ihn davor bewahren, nur sich selber zu schauen, wenn er die Vereinigung mit der Paradieses- Imagination gefeiert hat. Er wird dadurch gleichsam das Organ sich schaffen, andere Wesenheiten zu schauen. Sein okkulter Blick wird zunächst fallen auf eine andere Wesenheit, auf eine Wesenheit, die auf ihn dadurch einen besonderen Eindruck machen wird, daß sie ihm ähnlich so erscheinen wird, wie er selber ist. Er selber fühlt sich in seinem Selbst und seinem astralischen Leibe; das andere Wesen wird ihm zunächst auch mit einem Selbst und einem astralischen Leibe erscheinen. Die Sache kommt davon her, weil die Eigenschaften und Kräfte, die sich der Mensch mitbringt für einen solchen Augenblick, es bewirken, daß er gerade solch ein Wesen schauen kann, welches sich wie in einem Selbst und in einem astralischen Leibe darstellt. — Nun wird der Mensch folgendes fühlen, und dieses Fühlen wird bewirkt durch die frostige Einsamkeit, die er ertragen gelernt hat.

Sein astralischer Leib wird sich in seinen Kraftwirkungen so darstellen, als wenn er nach aufwärts strömen wollte. Wenn ich schematisch das darstellen wollte, so müßte ich es so zeichnen — aber wie gesagt, ich mache nur eine ganz schematische Zeichnung —:

Zeichnung aus GA 145, S. 140
Zeichnung aus GA 145, S. 140

Das Selbst zeichne ich wie einen Kometenkern und den astralischen Leib wie einen nach oben ausschweifenden Kometenschweif. Aber das ist schematisch; denn man schaut ein Wesen, man schaut sich selber als ein Wesen — und das Anschauen ist viel komplizierter als das Anschauen des eigenen Wesens als physischer Mensch. Das andere Wesen, zu dem man hinüberschaut, sieht man auch in seinem Selbst - wie gesagt, es ist das ein typisches Erlebnis, es ist so gemeint, daß einfach der Blick zuerst auf ein solches Wesen fällt —, aber man fühlt: Dieses Wesen steht nicht in einer solchen Sphäre frostiger Einsamkeit wie man selber, und dadurch zeigt es den astralischen Leib wie nach abwärts gerichtet. — Es ist höchst bedeutsam, dieses zu erleben: sich selber wie in einem Astralleib fühlend, der nach oben sich öffnet, nach oben seine Kraftwirkungen entfaltet, nach oben strömen will, und den anderen, das andere Wesen erblickend wie ein Selbst, dessen Astralleib nach unten seine Kräfte entfaltet.

Nun taucht diesem typischen Erlebnis gegenüber im Selbstbewußtsein etwas auf wie: Du bist im Nachteil, du bist weniger wert als dieses andere Wesen. Das ist wertvoll an dem anderen Wesen, daß es seinen astralischen Leib nach unten öffnen kann, seine Kräfte nach unten gleichsam ergießen kann; das ist wertvoll an diesem Wesen. Und man bekommt den Eindruck, man habe ja die physische Welt verlassen, die Kräfte, welche von dem astralischen Leib des anderen nach unten gehen, die gehen nach der physischen Welt und wirken dort als Segenskräfte. Kurz, man hat den Eindruck, daß man einem Wesen gegenübersteht, das dasjenige, was es sich errungen hat in der geistigen Welt, wie einen segnenden Geistesregen nach abwärts auf die Erde schicken darf; und selber kann man seinen astralischen Leib nicht nach abwärts dirigieren, der will nach aufwärts. Man bekommt das Gefühl, daß man dadurch weniger wert ist, weil man den astralischen Leib nicht nach abwärts dirigieren kann. Und man bekommt weiter das Gefühl: Dieses Bewußtsein, das da in dir aufgestiegen ist, muß dich zu einer geistigen Tat führen. Ein geistiger Entschluß reift. Der geistige Entschluß, welcher reift, ist der, daß man seine Einsamkeit zu diesem zweiten Wesen hinträgt und daß man seinen Frost erwärmen läßt an der Wärme des anderen Wesens, daß man sich vereinigt mit diesem anderen Wesen. Man hat einen Augenblick den Eindruck, als ob jetzt das Bewußtsein auslöschen würde, als ob man eine Art Ertötung des eigenen Wesens, wie eine Art Verbrennung des eigenen Wesens bewirkt hätte. Dann tritt das ein, was man nennen kann: es bricht in das Selbstbewußtsein, das sich wie ausgelöscht schon fühlte, etwas herein, was man jetzt erst kennenlernt: die Inspiration. Man fühlt sich inspiriert. Es ist wie ein Gespräch, wie ein typisches Gespräch, das jetzt geführt wird mit einem Wesen, das man nur kennenlernt deshalb, weil es seine Inspiration einem zuteil werden läßt. Ist man fähig, das, was dieses Wesen als seine inspirierende Stimme hereinschickt, wirklich zu verstehen, so könnte man das, was dieses inspirierende Wesen sagt, etwa übersetzen in die Worte: Weil du den Weg zu dem anderen gefunden hast und dich vereinigt hast mit seinem Opferregen, so darfst du mit ihm, in ihm, zurückkehren zur Erde und ich werde dich auf der Erde zu seinem Hüter bestellen. Und man hat das Gefühl, daß man dadurch etwas unendlich Bedeutsames aufgenommen hat in seine Seele, daß man diese Worte hat hören dürfen, die Worte durch Inspiration. Es gibt im Geistigen ein Wesen, das wertvoller ist als man selbst, das segnend seine Astralität nach abwärts ergießen darf. Daß man sich vereinigen darf mit ihm und daß man, wenn man unten angekommen ist, sein Hüter sein darf, durch diesen Eindruck lernt man erst verstehen, wie man als physischer Mensch, der auf der Erde herumgeht, sich wirklich verhält mit seiner physischen und ätherischen Hülle zu dem, was einem als höhere Kräfte imprägniert wird in das Selbst und in den astralischen Leib. Man ist mit dem, was man als physische und ätherische Hülle hat, der Hüter desjenigen, was zu höheren Sphären sich immer weiter und weiter entwickeln soll. Und im inneren Erleben hat man eigentlich erst ein richtiges, wahres Verstehen des Verhältnisses der äußeren Hüllen zu der inneren Wesenheit des Menschen, wenn man die äußere Wesenheit als Hüter der inneren Wesenheit fühlt.“ (Lit.:GA 145, S. 139ff)

Kain wird zum Hüter seines Bruders Abel bestellt

Für einen Augenblick ist es, als ob unser Bewusstsein ausgelöscht, als ob unser eigenes Wesen wie verbrannt, wie ertötet würde. Doch in diesem Moment dringt die milde Stimme der Inspiration in unser Bewusstsein und diese Stimme spricht sinngemäß so: „Du darfst nun vereint mit diesem anderen Wesen zurückkehren in die Erdenwelt und ich werde dich auf Erden zu seinem Hüter bestellen.“ Unbewusst erleben wir alle am Morgen, wenn wir uns dem Erwachen nahen, diese innere Stimme. Heute ist die Zeit reif, dass wir diese Worte ins Bewusstsein heben, durch die wir mit unserer physischen-ätherischen Hülle zum Hüter unseres höheren geistigen Wesens - denn das ist mit dem anderen Wesen gemeint - bestellt werden. Wir haben damit jenen Teil der Kain und Abel-Imagination geschildert, den die Bibel noch nicht enthüllen durfte.

Ist man nun an dem Hüter der Schwelle vorbei gekommen, schließt sich an diesen ersten Eindruck ein zweiter an. Es eröffnet sich gleichsam der geistige Blick an dem Hüter vorbei in die physische Welt hinunter. Und hier erleben wir nun ein umgekehrtes Spiegelbild dessen, was wir zuvor in der astralischen Welt erlebt haben. Man sieht sich selbst in der physischen Welt stehend und sieht, wie die Kräfte des eigenen Astralleibs abwärts strömen, wie diese Kräfte gleichsam an der physischen Welt kleben und nicht hinauf in die geistige Welt können. Neben uns sehen wir das Spiegelbild jenes anderen Wesens - unser eigenes höheres Wesen, das uns aber jetzt völlig fremd erscheint - , dessen astralischer Leib ungehindert seine Kräfte aufwärts strömen lässt, so wie Opferrauch nach oben steigt. Da ergreift uns der Neid mit ungeheurer Wucht und ein furchtbarer Entschluss dämmert in uns auf - der furchtbare Entschluss, den anderen zu töten! Man weiß wohl, dass dieser Entschluss nicht ganz aus dem Selbst kommt. Ein ahrimanisches Wesen gibt uns diesen Entschluss ein - indem wir die Erdenwelt betreten haben, sind wir ja dem Reich Ahrimans gefährlich nahe gekommen.

Wieder hören wir die Stimme, die uns schon zuvor in der geistigen Welt inspiriert hat, aber nun donnert sie furchterregend: „Wo ist dein Bruder?“ Und mit wilder Wut ertönt aus unserem Selbst die Gegenstimme: „Ich weiß nicht; bin ich der Hüter meines Bruders?“.

„Nun aber, wenn man an dem Hüter der Schwelle vorbeigekommen ist, bleibt dieses Erlebnis, das ich hier geschildert habe, nicht allein, sondern es wird von einem anderen gefolgt. Zunächst habe ich Ihnen das rein Hellseherische und inspirierte Erlebnis geschildert, das man haben kann, wenn man außer dem physischen und Ätherleib dazu gekommen ist, mit der Paradieses-Imagination sich zu vereinigen, und dann jene Inspiration bekommen hat, die einem eigentlich erst einen Begriff gibt von dem Verhältnis der Hüllen zum Selbst. Wenn man aber an diesem Hüter der Schwelle vorbeigekommen ist, so gesellt sich zu diesem ersten Eindruck ein zweiter; es öffnet sich gleichsam der Blick an dem Hüter der Schwelle vorbei in die physische Welt hinunter. Ich zeichne diesen Strich wie die Grenzlinie zwischen den höheren geistigen Welten und der physischen Welt, so daß da oben das Gebiet der geistigen Welten wäre und da unten das der physischen Welt.

Zeichnung aus GA 145, S. 143
Zeichnung aus GA 145, S. 143

Nun sieht man gleichsam in die physische Welt hinunter, und da tritt ein anderes Bild auf, das Bild, daß man selber hier unten als Mensch steht. Man merkt an sich seinen astralischen Leib; aber dieser astralische Leib, der sich jetzt wie im Spiegelbild zeigt, er ist nach abwärts gerichtet, er will nicht die Kraft entfalten, nach der geistigen Welt hinzuströmen; er bleibt gleichsam an dem physischen Plan kleben und hängen, er erhebt sich nicht nach der Höhe. Man sieht auch das Spiegelbild des anderen Wesens; dessen astralischer Leib strömt nach aufwärts. Man hat das Gefühl: dieser astralische Leib strömt in die geistige Welt ein. Man sieht sich, man sieht den anderen, man hat das Gefühl: Du stehst da unten noch einmal; an der Stelle des anderen Wesens steht ein wirklich anderer Mensch da unten; es ist ein Mensch, der besser ist als du; sein astralischer Leib strebt nach oben, geht wie Rauch nach oben. Dein astralischer Leib strebt nach der Erde zu, geht wie Rauch nach unten. Man bekommt ein Gefühl von dem Selbst, das in einem drinnen lebt, indem man da hinunterschaut, und man bekommt den furchtbaren Eindruck: In dir dämmert ein Entschluß auf, ein furchtbarer Entschluß auf — der Entschluß, den anderen, den du als besser fühlst, zu töten. Man weiß: dieser Entschluß kommt nicht ganz aus dem Selbst; denn das Selbst hat man da oben. Es ist ein anderes Wesen, das da unten aus einem spricht; aber dieses gibt den Entschluß ein, den anderen zu töten. Und jetzt hört man wieder die Stimme, die vorher inspiriert hat die Inspiration, aber jetzt wie eine furchtbare rächende Stimme: «Wo ist dein Bruder?» Und es ringt sich aus diesem Selbst die Gegenstimme los zu der früheren. Früher war die Inspiration diese: Dadurch, daß du dich vereinigt hast mit den segnenden Mächten der anderen Wesenheit, wirst du mit diesen segnenden Mächten nach abwärts dich ergießen, und ich werde dich zum Hüter machen des anderen Wesens. Jetzt entringt sich diesem Wesen, das man als sich selbst erkennt, das Wort: «Ich will nicht der Hüter meines Bruders sein.» Zuerst der Entschluß, den anderen zu töten, dann der Protest gegen die Stimme, die also inspirierend war: Ich bestelle dich, weil du deine Kälte mit jener Warme hast vereinigen wollen, zum Hüter des anderen — der Protest: Ich will nicht der Hüter sein.“ (Lit.:GA 145, S. 142ff)

Die Folgen für das Erdenleben

In dieser Imagination liegt die urbildhafte Erklärung für alles, was uns im Erdenleben zur Gewalt, zum puren Tötungswillen führen kann. Der Hass auf das eigene höhere Wesen wird zum Hass und Neid gegen die Mitmenschen. Indem man die eigene geistige Entwicklung im Erdenleben verweigert und mit seinem irdischen Wesen nicht der Hüter seines höheren Wesen sein will, legt man in sich den Keim zur Grausamkeit und Gewalttätigkeit! Diese Gewaltbereitschaft liegt heute tief verborgen in jedem Menschen, insofern er dem Bewusstseinsseelenzeitalter angehört. Sie weckt in uns zuerst leise, doch nun schon immer lauter, den Wunsch nach dem Krieg aller gegen alle, der letztendlich die nachatlantische Kultur zugrunde richten wird, worauf uns auch die Apokalypse des Johannes unmissverständlich hinweist.

„Wenn man dieses imaginative Erlebnis gehabt hat, meine lieben Freunde, dann weiß man, wessen alles eine Menschenseele fähig sein kann, und dann weiß man vor allen Dingen eines: daß, wenn sie verkehrt werden in ihr Gegenteil, die edelsten Dinge der geistigen Welten zu den furchtbarsten Dingen der physischen Welt werden können. Man weiß, daß auf dem Grunde der menschlichen Seele durch Verkehrung der edelsten Opferwilligkeit der Wunsch entstehen kann, den Mitmenschen zu töten. Von diesem Augenblicke an weiß man, was mit der Kain- und Abel-Geschichte in der Bibel gemeint ist; aber erst von diesem Momente an, denn die Kain- und Abel-Geschichte, die ist nichts anderes als die Wiedergabe eines okkulten Erlebnisses, und zwar jenes, von dem eben gesprochen worden ist.“ (Lit.:GA 145, S. 144f)

Ungehemmt würden sich unsere bösen Neigungen ausleben, würde Ahrimans Kraft in uns nicht durch die guten göttlichen Mächte abgeschwächt. In abgeschwächter, verwandelter Form sind sie aber für den Menschen höchst bedeutsam, denn in diesen leisen Wünschen, die so furchtbar wären, könnten sie sich voll ausleben, bilden die notwendige Grundlage für alle wirkliche Erdenerkenntnis! Wie ist das zu verstehen?

Der Astralleib ist, so sagten wir, seiner innersten Natur nach der große Egoist, der nur sich und alles durch sich selbst will; das Selbst will noch mehr: Es will sich noch in dem andern, will mit seinem Wesen alles durchdringen. Das ist die Grundlage unserer Erdenerkenntnis, dass wir mit unserem Wesen in alles eindringen wollen. Unsere Ideen und Begriffe, die wir also nicht unmittelbar durch Inspiration aus der geistigen Welt empfangen, sondern die wir uns selbst durch unser Eigendenken konstruieren, und mit denen wir alle Dinge, alle Wesen in der Erdenwelt zu durchdringen suchen, sind die abgestumpfte Waffe Kains, mit der er Abel durchbohrte. Ahrimans Macht wurde so zum irdischen Intellekt herabgelähmt. Nur wenn wir diesen rein irdischen Intellekt entwickeln, können wir als freies Wesen wieder in die geistige Welt eintreten. Es ist ein notwendiges Durchgangsstadium auf unserem Weg in die geistige Welt - und wir stehen heute gerade in diesem Entwicklungsstadium. Der nächste Schritt muss dann das vollbewusste Opfer des Intellekts sein - und opfern kann man nur, was man besitzt. So kann man zu den höheren Erkenntnisstufen der Imagination, Inspiration und Intuition aufsteigen. Dann kann sich der erste, geistige Teil der Kain und Abel-Imagination, den die Bibel noch nicht schildern konnte, erfüllen.

„Sehen Sie, wenn man den astralischen Leib in einer Wechselwirkung mit dem Selbst wirklich schildern will, dann muß man Dinge schildern, die nicht nur tatsächlich verborgen bleiben der Menschennatur, sondern die verborgen bleiben müssen. Was ist denn aber dadurch geschehen, daß dieser Wunsch und ähnliche Wünsche, die auf Vernichtung, auf Zerstörung des menschlichen und sonstigen auf dem physischen Plan wirkenden Zusammenseins hingehen, übertäubt sind? Sie sind abgeschwächt; die menschliche Seele empfindet sie nur abgeschwächt, empfindet sie sozusagen nur leise. Und dieses leise Empfinden jener Wünsche, die etwas so Furchtbares wären, wenn der Mensch sie ausleben würde, so wie sie eigentlich sind, das ist die wirkliche menschliche Erdenerkenntnis.

Ich spreche hiermit zuerst die Definition aus, was die menschliche Erdenerkenntnis ist. Diese menschliche Erdenerkenntnis sind die stumpf gemachten Zerstörungstriebe: Shiva in seiner furchtbarsten Gestalt so weit abgestumpft, daß er sich nicht auslebt, sondern daß er gleichsam fadenscheinig gemacht, ausgepreßt bis zur menschlichen Vorstellungswelt geworden ist, das ist die Maja des Inneren, das ist die Erkenntnis des Menschen. So mußte die Erkenntnis abgeschwächt werden, respektive so mußten die Triebe und inneren Kräfte abgeschwächt werden, damit das ursprünglich Furchtbare, in dem Ahriman drinnen waltet — denn ursprünglich ist es Ahriman, der diesen Wunsch hier erregt —, damit Ahrimans Gewalt so weit abgeschwächt werde, damit der Mensch nicht Ahriman auslebte und ständig sich dadurch zum Diener des Shiva machte. So weit mußte abgeschwächt werden dasjenige, was die Summe dieser Kräfte ist, daß sie nur so walten in dem Menschen, daß er mit seinen Begriffen und Ideen sich in die anderen Wesen hineinversetzen kann. Wenn man mit einem Begriffe versucht, ein anderes Wesen zu durchdringen, wenn man die Vorstellung zu versenken sucht in das Wesen eines anderen, so ist diese in das Wesen eines anderen hineinversenkte Vorstellung die abgestumpfte Waffe des Kain, die in Abel hineingestoßen wurde. Und daß sie so abgeschwächt wurde, diese Waffe, das machte möglich, daß das, was mit einem Ruck in sein Gegenteil verkehrt worden ist, in Evolution übergeht. Und so kommt der Mensch in langsamer Evolution durch immer weitergehende Verstärkung der Erkenntnisse dahin, daß er, was er nicht ausleben durfte in der physischen Welt, weil es da Zerstörungstrieb geworden ist, daß er das nach und nach entwickelt — erst in der gegenständlichen Erkenntnis, dann in der imaginativen Erkenntnis, die schon mehr in das Wesen des anderen geht, in der inspirativen Erkenntnis, die noch näher in das Wesen des anderen dringt, in der intuitiven Erkenntnis, die ganz hineingeht, aber geistig mit dem anderen selbst fortlebt in dem anderen Wesen. So ringen wir uns allmählich herauf, zu begreifen, was dieses Selbst eigentlich ist. Der astralische Leib ist, seiner innersten Natur nach angesehen, der große Egoist; das Selbst ist mehr als der große Egoist, das will nicht nur sich, das will sich noch in dem anderen, das will noch hinübergehen in das andere. Und die Erkenntnis, wie sie auf der Erde errungen ist, ist diese abgestumpfte Sucht, in das andere hinüberzutreten, auszudehnen alles, was man ist, nicht nur in sich, sondern weiter über sich hinaus in das andere hinein. Sie ist ein Steigen des Egoismus über sich selbst hinaus.“ (S. 146ff)

Gefahr der Abirrung in die schwarze Magie

An diesem Punkt ist die Gefahr gegeben, in die schwarze Magie abzuirren, denn die beginnt dort, wo die geistige, okkulte Tätigkeit in die Welt hineingetragen wird, ohne dass man dabei die eigenen Interessen zu Weltinteressen erweitert hat.

„Wenn Sie diesen Ursprung der Erkenntnis zunächst ins Auge fassen, dann werden Sie begreifen, wie überall die Möglichkeit vorliegt, diese Erkenntnis zu mißbrauchen; denn in dem Augenblick, wo diese Erkenntnis abirrt, wird sie sogleich zum Mißbrauch, wenn diese Erkenntnis eine wirkliche Erkenntnis im Selbst ist. Nur dadurch, daß man fortschreitet, immer geistiger und geistiger dieses Hineindringen ins andere macht und aus dem zu Weltinteressen erweiterten astralischen Leib dazu gelangt, auf jegliches Eindringen in das andere zu verzichten, daß man völlig unberührt in seinem eigenen Bestände dieses andere läßt, daß man des anderen Interessen höherstellt als die eigenen Interessen, nur dadurch macht man sich reif, in der Erkenntnis aufzusteigen. Sonst kann man ohnedies nicht ein Wesen aus der Hierarchie der Angeloi erkennen, wenn man nicht dahin gelangt ist, daß einen das Innere der Angeloi mehr interessiert als das eigene. Solange man mehr Interesse hat für sein eigenes Wesen als für das Wesen der Angeloi, so lange kann man nicht die Angeloi erkennen. Man muß sich also erziehen zuerst zu Welteninteressen und dann zu Interessen, die noch weitergehen, so daß einem andere bedeutungsvoller, wichtiger sein können als man selbst. In dem Augenblick, wo man versucht, sein Selbst weiterzubringen in den okkulten Erlebnissen, und einem doch dieses eigene Selbst wertvoller bleibt als die anderen Wesen, die man erkennen will, in dem Augenblick ist die Abirrung da. Und hier, wenn Sie diesen Gedankengang verfolgen, kommen Sie eigentlich zu einer wirklichen Vorstellung über das, was schwarze Magie ist; denn die schwarze Magie beginnt da, wo okkulte Tätigkeit hineingetragen wird in die Welt, ohne daß man in der Lage ist, zuerst seine Interessen zu Weltinteressen auszudehnen, ohne daß man andere Interessen mehr schätzen kann als seine eigenen Interessen.

Solche Dinge kann man eigentlich nur so geben, daß man die Anregungen gibt zu den Vorstellungen, denn sie sind zu bedeutungsvoll, als daß man mehr geben könnte als eine Anregung dazu. Ich wollte zeigen, wie man allmählich dahin kommen kann, das, was in unserem Inneren lebt als astralischer Leib und Selbst, seiner wahren Gestalt nach, nicht in der Maja, zu erkennen; denn so wie der Mensch seinen astralischen Leib innerlich erlebt, so ist es nicht der wirkliche astralische Leib, so ist es der astralische Leib, wie er sich spiegelt im Ätherleib. Und was der Mensch sein Selbst nennt, ist nicht das wirkliche Ich, ist das Ich, wie es sich spiegelt im physischen Leib. Spiegelbilder seines Inneren erlebt der Mensch nur. Und wenn er unreif die Gestaltungen dieses eigenen inneren Astralleibes und Ichs erleben würde, so entstünden in ihm Zerstörungstriebe, so würde er ein aggressives Wesen, so entstünde in ihm die Lust zu schaden. Und diese Dinge liegen ja aller schwarzen Magie zugrunde. Wenn auch die Wege, welche die schwarze Magie geht, sehr verschieden sind, der Effekt, den sie erzielen, hat immer etwas von einem Bündnis mit Ahriman oder mit Shiva. Und dadurch lernt man nur astralischen Leib und Ich in ihrer wirklichen Gestalt erkennen, daß man weiß: Man darf sie nur erkennen lernen, wenn man zugleich bejaht die Notwendigkeit, daß sie sich entwickeln und würdig und wert machen müssen, das zu sein, was sie sein sollen. Die innerste Natur des astralischen Leibes ist der Egoismus; das Ideal muß aber sein, Egoist sein zu dürfen, weil die Weltinteressen die eigenen Interessen werden. Das Ideal muß sein, in das andere Wesen untertauchen zu dürfen, weil der Wille vorliegt, in den anderen Wesen nicht sich zu suchen mit seinen Interessen, sondern das andere Wesen bedeutungsvoller zu finden, als man sich selber findet. Die Selbsterziehung muß so weit gehen, dieses obere Bild in seiner ganzen okkult-moralischen Bedeutung zu fühlen, dieses Bild: das, was man selber ist, allmählich so umzugestalten, daß einen die eigenen Affekte, die eigenen Triebe, Begierden und Leidenschaften nicht mehr wärmen können, sondern daß man mit dem Sicheinleben in den astralischen Leib sich einlebt in frostige Einsamkeit und dadurch sich der Wärme öffnet; das heißt, dem warmen Interesse, das von den anderen Welten ausströmt und sich den segnenden Kräften vereinen will, die von diesem anderen Wesen ausgehen. Damit ist uns zugleich der Ausgangspunkt gegeben für ein nach und nach Sicherheben zu den höheren Hierarchien in ihrer wirklichen Gestalt. Wir gelangen sonst nicht hinauf in die Wesenheiten der höheren Hierarchien, wenn wir nicht imstande sind, uns würdig dieser Imagination und Inspiration, wie sie geschildert worden ist, entgegenzustellen und ihr Gegenbild auszuhalten, das heißt: die Möglichkeiten in den Tiefen der menschlichen Natur, als sie herabgeworfen wurde aus den geistigen Welten in die physische Welt. Wenn man das Doppelbild Kain und Abel, unten sich und den Repräsentanten seines höheren Selbstes, aber den Vermittler zwischen sich und den höheren Hierarchien nicht schauen will, kann man nicht hinaufsteigen. Dann aber, wenn man imstande ist, dieses Gefühl, das hier angedeutet ist, in sich zu kultivieren, dann erlebt man sein Selbst und von diesem aus den Zugang zu den Hierarchien der höheren Ordnungen.“ (S. 148ff)

Anmerkungen

  1. siehe Strong's Concordance 3917
  2. Die Zuweisung negativer Eigenschaften zum Begriff Dämon erfolgte erst im Mittelalter; Übersetzung vgl. Gesenius, Wilhelm: Wilhelm Gesenius' hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament / Wilhelm Gesenius. In Verb. mit ... bearb. von Frants Buhl. - Berlin ; Göttingen ; Heidelberg : Springer, 1962, S.385
  3. Hurwitz, S 24
  4. Scholem, S 165ff
  5. Zingsem, S 34f

Literatur

  1. Siegmund Hurwitz: Lilith – die erste Eva. Eine Studie über dunkle Aspekte des Weiblichen. Mit einem Vorwort von Marie-Louise von Franz. Daimon, Zürich 1980 (5. überarbeitete Auflage 2004), ISBN 978-3-85630-633-5, Auszüge bei google books
  2. Gershom Scholem: Lilith u'malkat scheva i. Peraqim chadaschim me'injenei Aschmedei ve' Lilith i. TZ Vol. XIX pag. 165ff
  3. Vera Zingsem: Lilith, Adams erste Frau. Klöpfer & Meyer, Tübingen 1999 (2. erweiterte Auflage 2003), ISBN 978-3-937667-55-3.
  4. Rudolf Steiner: Die Tempellegende und die Goldene Legende , GA 93 (1991), ISBN 3-7274-0930-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  5. Rudolf Steiner: Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen und sein Selbst?, GA 145 (2005), ISBN 3-7274-1450-2 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  6. Rudolf Steiner: Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule von 1904 bis 1914, GA 265 (1987), ISBN 3-7274-2650-0 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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